Joggen ist eine verschwitzte Übung in Langeweile

Witness the Fitness

Mal rauskommen, sich fit halten, joggen – niemand bereitet einen darauf vor, wie langweilig das ist.

Der Bundespräsident der Herzen, Christian Drosten, sagte jüngst im Interview mit dem NDR, es sei »natürlich vollkommen ungefährlich, zum Joggen rauszugehen«. Ganz im Gegenteil sei zurzeit gerade Sport nötig. Denn wer fit sei, habe ein besseres Immunsystem und sei sowieso besser drauf. »Und wie viele Leute finden darin auch eine große psychische Stabilität, dass sie alle zwei, drei Tage mal sagen: Jetzt ziehe ich mir Turnschuhe an und laufe mal eine halbe Stunde oder eine Stunde.«

Worauf einen aber niemand vorbereitet: So ein Lauf kann mitunter ganz schön lange dauern. Nach rund einer Stunde setzt die Langeweile ein, brachiale, sinnkriselnde Langeweile.

War das eine Frage? Falls ja, lautet die Antwort: viele Leute. Die Parks sind voll, ein beständiger Reigen aus Läufern und Schlurfern, sobald jemand ausschert, kommen zwei neue nach. Sport im Freien ist das Gebot der Stunde. Vergangenen Sommer noch verband Konstantin Nowotny in der Jungle World ein freundliches Lob der Wampe mit despektierlichen Bemerkungen über den Fitnesswahn im Kapitalismus und die Selbstdisziplinierung, der man sich im Studio unterwerfen müsse – ganz so, als müsste man sich keiner Selbstdisziplinierung unterwerfen, um Texte für eine linke Wochenzeitung zu schreiben, ganz so, als sei etwas kritikwürdig, weil es vergebliche Mühe darstellt.

Doch der repetitiven Muskelanstrengung lässt sich kaum etwas Schlechtes nachsagen. Der nackte Drill auf der Hantelbank legt doch zumindest offen, was sonst nur latent bleibt. Nowotny schrieb: »Turnvereine waren einst Orte der Sozialisation, heutzutage ist das Studio ein Hort der Isolation.« Dabei hatte er doch nur wenige Zeilen zuvor darauf hingewiesen, was Grässliches passiert, wenn Deutsche sich in Turnvereinen sozialisieren: Sie werden zu Mannschaften, Gemeinschaften, regredieren zur Turnmasse, fangen an, Fahnen zu schwenken, und Schlimmeres.

Sport ist mittlerweile jedenfalls keine soziale Veranstaltung mehr, die Isolation hat die Grenzen des ­Fitnessstudios überschritten. Und man braucht nur wenig Ausrüstung zum Joggen: Laufschuhe, atmungs­aktive Kleidung, eine Strategie, wie man Freunden und Freundinnen am besten auf die Nase binden kann, dass man gerade Sport macht, ohne wie ein Angeber rüberzu­kommen, und noch eine Uhr, die ­einem anschließend sagt, ob man ein wertvoller Mensch gewesen ist. Schon kann der Hindernislauf durch durch die Parkanlagen beginnen.

Während eines Gesprächs verbrauchten zwei Menschen etwa sechs Liter Sauerstoff pro Minute und stießen eine Wolke mit Wasserpartikelchen im Umkreis von anderthalb Metern aus, sagt der Pneumologe Matthias Krüll. Ein Läufer hingegen verbraucht weitaus mehr Sauerstoff und verbreitet seine Spucke wesentlich weiter, weshalb ordentlich Abstand gehalten werden sollte. Fast schon hellsichtig muss man sein, um all die Kinderwagen, Rentner, Radfahrer und Nordic Walker großräumig zu umgehen, zur Not auch indem man aufs Feld ausweicht, immer darauf achtend, nicht in Kaninchenlöcher zu treten: Einmal umknicken und das war’s dann auch schon mit der Fitness.

Die Kunst ist, das Tempo zu halten, auch wenn es ein lächerlich niedriges ist, sich auf keinen Fall von irgendwelchen Profis anstacheln zu lassen und den Park oder sich selbst auch nur für wenige Sekunden glauben zu machen, man könne da mithalten. Auf lange Sicht bezahlt man die kurze Flottheit mit heftigem Seitenstechen, Kurzatmigkeit und einem erst roten, dann blassen Gesicht. Das Publikum im Park weiß, wie ein Amateur aussieht, der sich übernommen hat, und man bringt Schande über sein Haus. Gleichmut ist also die Lösung, nur nicht aus der Ruhe bringen lassen.

Worauf einen aber niemand vorbereitet: So ein Lauf kann mitunter ganz schön lange dauern. Es ist ja sogar das Ziel, dass er länger und länger dauert. Was macht man also die ganze Zeit, während man läuft? Eine Stunde ist womöglich gerade noch drin, es gibt ja auch ein bisschen was zu gucken. Spätestens dann aber setzt die Langeweile ein, brachiale, sinnkriselnde Langeweile. Was mache ich da überhaupt? Warum laufe ich diese Runden? Wo will ich denn überhaupt hin? Alle Joggenden, die schon etwas länger unterwegs sind, haben diesen glasigen, toten Blick, als hätten sie sich innerlich verabschiedet, als sei etwas unwiederbringlich zerbrochen.

Die Landschaft gibt wenig her. Umso länger die die Strecke wird, die man hechelnd abläuft, umso kleiner kommen einem die schäbigen Grünanlagen vor. Der Park ist irgendwann kein Park mehr, sondern eine Verlängerung der Wohnung, einfach nur noch mehr vom Immergleichen. Stumpfe Wiesen, blöde Bäume, sandige Wege, wieder und wieder. Das Einfühlen in die Natur endet in der Sehnsucht nach dem Einkaufszentrum. Auch die Musik hilft nicht weiter, besteht ihre Funktion doch darin, den Läufer zu einem gleichmäßigen Tempo anzuhalten. Sie muss also möglichst einfältig sein.

Wie wird man bei dieser verschwitzten Übung in Langeweile nicht wahnsinnig? Die ehemaligen Marathonläuferin Nina* sagt im Gespräch mit der Jungle World: »Streckenweise war das Training echt langweilig, aber meistens hat mir das Gleichförmige daran auch eine gewisse innere Ruhe gegeben und ich hatte Zeit, über Dinge nachzudenken, für die ich mir sonst keine Zeit genommen habe. Man wird dabei irgendwie zum ›Selbstläufer‹; es läuft sich wie von selbst, fast wie in einem Trance-Zustand.«

Inwendigkeit scheint also die Lösung, rausgehen, um ganz bei sich zu sein. Wo könnte man sich dazu besser inspirieren lassen als bei den Philosophen und Literaten? Der verdienstvolle Autor und Herausgeber Stefan Geyer, dessen »Frankfurter Wegsehenswürdigkeiten« man dringend gelesen haben sollte, legte 2019 einen »literarischen Wegbegleiter« über die »Kunst des Gehens« vor, in dem er sorgsam die Gedanken der westlichen Intelligenz über das Herumlaufen sammelte. Mit thetischer Kraft stellt etwa Frédéric Gros fest: »Gehen heißt draußen sein.« Richtig! Drinnen gehen, geht eigentlich gar nicht! Mit etwas mehr wortspielerischer Finesse schrieb Søren Kierkegaard an Henriette Kierkegaard: »Verlieren Sie vor allem nicht die Lust zu gehen; ich gehe mir jeden Tag das tägliche Wohlbefinden an und entgehe jeder Krankheit; ich habe mir meine besten Gedanken angegangen und ich kenne keinen Gedanken, der so schwer wäre, dass man ihm nicht entgehen könnte.« Rilke spricht hingegen die ganz praktischen Probleme an, mit denen Jogger auch heutzutage kämpfen: »Und wandelt uns, auch wenn wirs nicht erreichen, / in jenes, das wir kaum es ahnend, sind; / ein Zeichen weht, erwidernd unserm Zeichen … / Wir aber spüren nur den Gegenwind.« Das Kapitel »Langsam durch belebte Straßen zu gehen« sparen wir hier aus, weil es nicht themarelevant ist. Überhaupt scheinen die ganzen Goethes, Schnitzlers und Manns ein Tempo vorgelegt zu haben, mit dem man sich bei Strava, einer Tracking-App für Sportsfreunde, nicht blicken lassen sollte. Wir sehen uns an der Ziellinie, ihr Luschen!

Mit vielen allein zu sein, mit denen nicht reden zu können, mit denen man ohnehin nicht reden würde – so fühlt sich das Training bisweilen wie die Vorbereitung auf die Katastrophe an. In Hideo Kojimas kürzlich erschienenem Videospiel »Death Stranding« steuern die Spielerinnen und Spieler einen Paketboten in der Postapokalypse, der Waren zwischen isolierten Städten und Preppern zirkulieren lässt. Der Austausch von Gegenständen soll die Menschen aus ihrer Vereinzelung reißen, die Gesellschaft wieder aufbauen und die Menschheit vor dem Aussterben retten. Dieser Aufgabe ist nur ein Bote mit großer Ausdauer gewachsen. Solche Kondition kennt man vom Lieferanten mit Blumenerde für den Balkon, von der Buchhändlerin mit der Lektüre, dem Auslieferer mit dem Sushi, die allesamt ausdauernd Stufe um Stufe erklimmen.

* Vollständiger Name der Redaktion bekannt