Rassistischer Mordversuch

Normaler Hass

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Etwa eine Minute nach den ersten Beleidigungen griff ein 55jähriger ­Zeuge ein, packte H.s Handgelenk. Jemand zog die Notbremse. Maria G., ­Denise H. und der Eingreifende, Matthias S., fielen auf den Bahnsteig der Station Rehberge im Ortsteil Wedding. Auch hier tobte H. weiter, versuchte sich aus S.s Haltegriff zu befreien und schrie ihn an: Er sei bescheuert, ihr nicht zu helfen, schließlich seien sie doch beide Deutsche. Nur durch die Gegenwehr der Angegriffenen und die Zivilcourage von Matthias S., auch da waren sich Staatsanwaltschaft, Nebenklage und Verteidigung einig, habe ­Denise H.s Tötungsversuch vereitelt werden können.

Antiziganistische Vorfälle sind alltäglich. Die Dokumentationsstelle ­Antiziganismus des Vereins Amaro Foro zählte zwischen 2014 und 2018 allein in Berlin knapp 700 Fälle und geht von einer weitaus höheren Dunkelziffer aus. Auch schwere Gewalttaten sind nicht ungewöhnlich. Im November 2017 griffen Jugendliche unter antiziganistischen Parolen einen Zirkus im Ortsteil Adlershof an und drohten, die dazugehörigen Wagen in Brand zu stecken. Im Ortsteil Friedrichshain schoss im Juni 2018 ein Mann mit einem Luftdruckgewehr von seinem Balkon aus auf ein Roma-Mädchen. Wenn Straf­taten wie diese überhaupt vor Gericht landen, spielt das antiziganistische Motiv oft nur eine untergeordnete Rolle. Dabei wäre die entsprechende Wür­digung durch die Gerichte für die Betroffenen von großer Bedeutung, sagte Anja Reuss vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma der Jungle World: »Bis heute werden Sinti und Roma als Opfer von Hassgewalt nicht gehört und gesehen. Nicht selten wird ihnen eine Mitschuld an der Gewalt, die sie erfahren, zugeschrieben.«

In Fall von Denise H. rückte die Frage nach dem antiziganistischen Motiv ins Zentrum der Verhandlung. Der Tatvorwurf lautete versuchter Mord. Für Staatsanwalt Horstmann und die Rechtsanwältinnen Nadija Samour und Ilil Friedman, die die beiden Verletzten vertraten, bestand kein Zweifel, dass durch das antiziganistische Motiv das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe erfüllt sei. Horstmann forderte eine Strafe von vier Jahren und sechs Monaten. Er ging von einer verminderten Schuldfähigkeit wegen des Zusammenspiels von starkem Drogenmissbrauch und einer Persönlichkeitsstörung aus.

Die Nebenklage verzichtete auf eine konkrete Forderung. Sie beharrte aber darauf, dass das Gericht die Tat als antiziganistischen Mordversuch würdigen und die Situation der Opfer berücksichtigen solle, die noch immer stark unter den physischen und psychischen Folgen litten. Sie wies auf die gesamtgesellschaftliche Dimension der Tat hin: In dem Mordversuch schlage sich der ­manifeste und weitestgehend akzeptierte Rassismus der Mehrheitsgesellschaft gegen Roma nieder.