Wüsten statt Wälder
Weit vor Ostern, sobald die ersten wärmeren Tage aufeinanderfolgen und die Sonne in Andalusien einen ersten Vorgeschmack ihrer vollen Kraft gibt, beginnen rund um das südspanische Granada die ersten Prozessionen. Doch diese bestehen nicht aus mit Kutten verhüllten Katholiken, die Heiligenstatuen durch die Städte tragen. Vielmehr spielt sich das Spektakel am Waldboden ab, so etwa im Stadtwald Dehesa del Generalife auf 600 bis 800 Höhenmetern am Sabikah-Hügel, bergan gleich hinter dem Alhambra-Palast: Massen an Raupen des Pinienprozessionsspinners (Thaumetopoea pityocampa) reihen sich aneinander, um sich gegenseitig zu schützen. Jede dieser Nachtfalterraupen ist von knapp einer halben Million feinster, giftiger Härchen bedeckt.
Bei den meisten Menschen verursacht der Kontakt mit den Härchen einen unangenehmen Hautausschlag. Doch alljährlich müssen in Spanien auch Hunderte Kinder deswegen medizinisch behandelt werden. Gefährlich, gar tödlich, kann die Prozessionsspinnerraupe für Hunde und Katzen sein, sollten sie eine ins Maul bekommen oder verschlucken. Neben allergischen Reaktionen oder dem Erstickungstod kann es auch zum Verlust von Teilen der Zunge, der Schnauze und der betroffenen Mundschleimhäute kommen. Schleichend, aber immer unverkennbarer dezimiert der Raupenbefall auch die Pinienwälder bis weit nach Zentralspanien. Denn Piniennadeln sind die Hauptnahrung der Raupen, und ihre Feinde, etwa Wespen, werden zusehends seltener.
Ein Fünftel der Fläche des Landes ist als Wüste anzusehen, bis zum Ende des Jahrhunderts sind drei Viertel Spaniens von Wüstenbildung bedroht.
Im Naturschutzgebiet der Sierra de Huétor etwa 20 Kilometer östlich von Granada – jedes Jahr ein Kerngebiet der Plage – kündigen Mitte Februar zahllose eiförmige Kokons in den Kronen neben den Pinienzapfen das baldige Schlüpfen der Raupen an. Die Forstwächter der andalusischen Regionalregierung fürchten dieses Jahr erneut einen Rekord. Bereits in den vergangenen drei Jahren mussten sie in großem Umfang Schädlingsbekämpfungsmittel einsetzen, teils mit Flugzeugen, um den Raupenbefall einzudämmen. Dies darf jedoch gemäß EU-Auflagen von 2012 nur noch im Ausnahmefall geschehen. In Spanien wird in der Regel das Mittel Dimilin, auch bekannt als Diflubenzuron, eingesetzt. Das Insektizid steht im starken Verdacht, krebserregend zu sein. Als die Pinienprozessionsspinner auf den Balearen vor einigen Jahren zur Plage wurden, protestierten die Bewohnerinnen und Bewohner Mallorcas gegen die großflächige Besprühung mit dem Insektizid.
Seit 2015 setzen in Spanien daher nur noch einige Regionen das Pestizid aus der Luft ein, um der Plage Einhalt zu gebieten. Alljährlich tun dies neben Andalusien noch die Balearen, Extremadura, Murcia, Madrid und das Baskenland. Die Reduzierung des Einsatzes aus der Luft in den betroffenen Regionen habe dazu beigetragen, dass die Plage sich so weit verbreitet hat, betonen Bürgermeister betroffener Gemeinden, Forstwächter und auch Tourismusunternehmer, die in den Wandermonaten Februar bis Mai ihre Klientel schwinden sehen.
Es gibt andere Lösungen, wie den Einsatz des Bakteriums Bacillus thuringiensis, das Toxine produziert und vom Boden aus direkt in die Raupennester an den befallenen Bäumen eingebracht werden kann. Auch physische Barrieren am Stamm und am Boden sind ein brauchbares Mittel, vor allem in bewohntem Gebiet und im eigenen Garten. Doch in Wäldern sind diese Methoden zu aufwendig und bei weitem nicht so effektiv wie der Insektizideinsatz aus der Luft.
Begoña de la Fuente Martín ist Waldökologin und Forsttechnikerin für die Regionalregierung der zentralspanischen Region Kastilien und León. Sie warnt vor einem »gefährlichen Cocktail«, der den Wäldern zusetze. Die Folgen des Klimawandels, extreme Hitze- und lange Trockenheitsphasen, gingen einher mit einem stärkeren Wachstum von Neophyten, zuvor nicht heimischen Pflanzen, und einer Zunahme von Schädlingen, da das ökologische Gleichgewicht gestört sei. »Eine Kombination aus immer stärkeren Pathogenen greift den immer stärker geschwächten Wald an«, lautet ihre Diagnose.
Der Biologe José Antonio Hódar von der Universität Granada ist Spezialist für die Pinienprozessionsspinner. »Die meisten Schädlinge haben einen natürlichen Feind, die Kälte«, sagt er. Es sei absehbar gewesen, dass sich der Pinienprozessionsspinner wegen der Reihe sehr milder Winter schnell ausbreiten werde. »Einige Spezies, wie die Prozessionsspinner, schaffen es, gleich mehrere Reproduktionszyklen abzuschließen, wenn ihr Habitat für sie günstigere Bedingungen aufweist.« Und solche bieten die weitläufigen Pinienwälder Andalusiens, Aufforstungsgebiete und Monokulturen im Hügelland zwischen 500 und 2 000 Metern über dem Meeresspiegel, die nicht entsprechend bewirtschaftet würden.
Hitze und Trockenheit führten auch zu einem Konkurrenzkampf unter den benachbarten Bäumen, die alle etwa im gleichen Zeitraum vor 40 bis 60 Jahren gepflanzt wurden und dieselben Nährstoffe und Flüssigkeit benötigen. Diese Konkurrenz um knappe Ressourcen schwäche alle Bäume zusätzlich. »Eigentlich hat die Pinie eine natürliche Widerstandsfähigkeit gegen die Raupen«, sagt Hódar. »Der Baum bremst den Wuchs und die Zapfenproduktion, um sich besser regenerieren zu können. Doch in Kombination mit dem Mangel am Notwendigsten, dem Wasser, schafft er das nicht mehr.«
Der Biologe blickt sehr pessimistisch in die Zukunft: »Der Wandel ist einfach zu rasch und zu extrem.« Die einzige Chance wäre, statt der Monokultur aus Pinien eine Artenvielfalt im andalusischen Wald zu fördern. In diesem Punkt sind sich Hódar und de la Fuente einig: Es brauche ein vorausschauendes Waldmanagement, um die Widerstandsfähigkeit der Wälder zu stärken. Doch das wäre, so Hódar, auch ein teures Unterfangen und die Zeit werde knapp.
Der Pinienprozessionsspinner ist aber nur eine von vielen Bedrohungen für den Waldbestand im Süden der iberischen Halbinsel. Und nicht nur der Süden Spaniens verliert seine Wälder, im Baskenland setzte 2018 ein aggressiver Baumpilz ganzen Landstrichen zu. Die baskische Autonomieregierung ermittelte, dass einer von drei Nadelbäumen von Pilzen drei verschiedener Arten befallen sei und daher notgefällt werden müsse. Baumschwämme, von denen einige Arten Wurzelfäule auslösen können, sind seit über 40 Jahren verbreitet, doch ihre Wachstumsbedingungen haben sich verändert. Das liegt sowohl an den sich verändernden klimatischen Bedingungen – Hitze und Dürre, die die Bäume schwächen, gefolgt von zu milden, feuchten Monaten, die dem Pilzwuchs zugute kommen – als auch an den Baumarten. Vor allem kalifornische Monterey-Kiefern (Pinus radiata) und Sitka-Fichten (Picea sitchensis), die auf 130 000 Hektar als Monokulturen für die florierende Holzindustrie in der Region gepflanzt wurden, sind sehr verbreitet.
Sie wachsen überaus schnell und sind daher rentabel. Doch das schnelle Wachstum macht sie zugleich anfällig für Erkrankungen.
Die Studie »Inventario de Daños Forestales« (Bestandsaufnahme der Waldschäden) des Ministeriums für Landwirtschaft, Ernährung und Umwelt von 2017 konstatiert einen »klaren Prozess des Niedergangs«. Der Zustand der spanischen Wälder seit seit drei Dekaden, seit dem ersten Bericht von 1987, noch nie derart schlecht gewesen. Nicht einmal 1995, im Jahr der Rekorddürre, sei der Bestand stärker in Mitleidenschaft gezogen worden als derzeit. Mehr als ein Viertel aller Bäume sei geschädigt, das heißt, über ein Viertel des Blatt- oder Nadelwerks der Bäume ist verloren. Zwei Ursachen macht die Studie dafür verantwortlich: Trockenheit und Insekten. Das Fehlen von Wasser sei in zwei von vier Fällen der Grund für die Schäden, Schädlinge in einem von vier, dabei in erster Linie Entlaubungsinsekten wie die Prozessionsspinner. Das Tempo des Waldsterbens habe sich in den vergangenen vier Jahren beschleunigt, warnt die Studie, einzig zwischen 1992 und 1995 sei es ähnlich rasant gewesen.
Die Durchschnittstemperaturen in Spanien sind im vergangenen Jahrzehnt konstant gestiegen und liegen einer Greenpeace-Studie vom Vorjahr zufolge mittlerweile im Schnitt 1,5 Grad Celsius über dem Durchschnitt der vergangenen 30 Jahre. Ein Fünftel der Fläche des Landes ist als Wüste anzusehen, bis zum Ende des Jahrhunderts sind drei Viertel Spaniens von Wüstenbildung bedroht.
Die wenigen Gletscher haben 90 Prozent ihres Volumens eingebüßt. Fast jeden Sommer steigt die Temperatur in der Gegend um Córdoba und Sevilla in Andalusien sowie in der Extremadura mittlerweile auf Spitzenwerte bis 48 Grad Celsius. In der vergangenen Dekade waren der staatlichen Wetterbehörde Aemet zufolge die Hitzewellen der Sommer von 2011, 2014, 2015 und 2017 die heftigsten. Der August 2018 war nach dem des Jahres 2003 der zweitheißeste in Spanien, seit 1965 die Aufzeichnungen begannen. Zugleich fällt immer weniger Niederschlag, auch wenn diesen Winter viele der im Sommer manchmal komplett entleerten Stauseen wieder aufgefüllt wurden. Verheerende Waldbrände, wie 2017, als es die höchste Zahl an Großwaldbränden gab und über 54 000 Hektar verbrannten, sind eine der sichtbarsten Folgen.
De la Fuente Martín warnt als Co-Autorin einer aktuellen Studie vor einer weiteren invasiven Spezies, dem Kiefernholznematoden (Bursaphelenchus xylophilus), einem Wurm, der die Wälder im benachbarten Portugal seit 1999 dezimiere – 45 000 Hektar wurden dort 2012 erfolglos unter Quarantäne gestellt – und der unmittelbar davor stehe, die westspanischen Wälder zu erreichen. Es handele sich um eine ursprünglich in Japan vorkommende Art, die aus Nordamerika eingeschleppt worden sei und den befallenen Baum binnen weniger Wochen töte. »Steigende Temperaturen und ein geschwächter Wald erlauben eine exponentielle Ausbreitungsrate, gegen die die Natur kaum Verteidigungsmechanismen zur Verfügung hat«, so de la Fuente Martín. Landesweit hielt zuletzt der auch in Mitteleuropa gefürchtete, aus Ostasien eingeschleppte Buchsbaumzünsler (Cydalima perspectalis) erstmals 2013/2014 nachgewiesenermaßen Einzug. Vom nordwestspanischen Galicien brauchte der Schädling nur vier Jahre, um sich im Osten in Katalonien festzusetzen.