Die Erfolgsgeschichte des Strandkorbs

Die wohl schönste Art, Touristen aufzubewahren

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In seinem 1857 in London erschienenen Buch »The Household Manager« beschreibt Charles Pierce die Arbeit eines hall porter als eine Art ­Security-Job, denn die Aufgabe dieses Angestellten bestand nicht nur darin, Besucher zu empfangen, sondern auch darin, sie gegebenenfalls abzuwimmeln. Gerade bei großzügigen und etwas naiven Arbeitgebern sei es wichtig, sie vor Menschen mit finsteren Absichten zu schützen.

Die Pförtner waren meistens rund um die Uhr auf ihren Posten und aßen und schliefen dort auch. Entsprechend waren manche der porter’s chairs mit Schubladen ausgerüstet, die unter den Sitzen angebracht waren, in denen wichtige Gegenstände verstaut werden konnten – in manchen Fällen sogar heiße Kohlen, die dafür sorgten, dass die Wächter nicht froren. Ihr Arbeitsplatz in der großen, nur spärlich eingerichteten und kaminlosen Eingangshalle neben der Tür war schließlich besonders kalt und zugig.

Dazu waren sie häufig mit einem hinged shelf, einem ausklappbaren Brett, versehen, an dem eine Laterne angebracht werden konnte – eine Idee, die später auch von Strandkorbherstellern aufgenommen wurde.

Aber die porter’s chairs zeichneten sich noch durch eine weitere Besonderheit, sie waren hooded, also oben mit einer Art Kapuze versehen, und das nicht nur, um den Türsteher vor Kälte zu schützen: Die Konstruktion bot bessere Akustik und einen größeren Resonanzraum, was nicht ganz unwichtig war, falls der Wächter beispielsweise um Hilfe schrie.

Die Strandburgen, mit denen Elemente des Nationalsozialismus spielerisch vorweggenommen wurden, sind in den meisten deutschen Urlaubsorten mittlerweile verboten.

Der geschützte Sitz war jedoch nicht nur den Pförtnern vorbehalten. Eine der frühesten Abbildungen ­eines Stuhls, der einem Strandkorb ähnelt, stammt von Jacob Jordaen. Der flämische Barockmaler zeigt auf seinem heute in der Münchner ­Alten Pinakothek hängenden Bild »Der Satyr beim Bauern« (1620/21) ­einen Sitzkorb, in dem eine ältere Frau mit einen kleinen Jungen auf dem Schoß hockt. Dieser Korb ist schmaler als die heute gebräuch­lichen Strandsitzmöbel, weist aber erstaunliche Ähnlickeiten zu dem auf, was noch heute als Orkney hooded chair verkauft wird.

Das Archipel der Orkney Islands wurde von Bauern und Fischern bewohnt, die mit nicht ganz einfachen klimatischen Bedingungen zu kämpfen hatten – die Durchschnittswindgeschwindigkeit beträgt im Winter 52 Stundenkilometer. Zudem gab es dort viele Jahrhunderte lang kaum Bäume – ab 3500 v. Chr. waren die dort ursprünglich großen Baumbestände aufgrund sowohl klimatischer Änderungen wie auch menschlicher Aktivitäten immer weiter zurückge­­­gangen, bis schließlich kaum ­noch ­Bäume ­dort wuchsen. Während die Einwohner ihre Häuser notgedrungen aus Steinen bauen mussten, waren sie bei der Fertigung von Möbeln auf andere Ressourcen wie Stroh, Strandhafer und Treibholz angewiesen. Und sie bauten daraus unter anderem Stühle mit hochgezogenen Rückenlehnen, Schubladen und Kapuzen, die Ende des 19. Jahrhunderts David Kirk­ness als Vorlage für ein eigenes Modell benutzte. Ein ebenfalls in Kirkwall, der größten Stadt der Orkneys, ­ansässiger Exzentriker und Philanthrop namens George Hunter Mac­Thomas Thoms war von dem Stuhl so begeistert, dass er half, ihn zu einem der erfolgreichsten Exportartikel der Inseln zu machen. Bereits 1890 ging bei ihm eine große Bestellung des Londoner Warenhauses Liberty ein.

Im heutigen Strandkorb am Ostseestrand sitzend, fällt plötzlich auf, dass etwas fehlt: die Strand- oder Sandburg. Um die – in aller Regel gemieteten – Strandkörbe herum wurden an Deutschlands Stränden gerne kreisrunde oder viereckige Wälle errichtet. Für die Strandkorbvermieter war der Baudrang deutscher Urlauber ein lohnendes Zusatzgeschäft, denn sie konnten gegen Gebühr die Gerätschaften verleihen, die für erfolgreiche Burgarchitekten wohl ­absolut notwendig waren.

Dazu gehörten Schaufeln, mit denen um den Korb herum Sand für die Wallanlagen ausgehoben wurde. Und Gießkannen, mit denen die Mauern gegossen wurden, damit der lose Sand nach dem Trocknen dort blieb, wo er hingehörte. Ferner rechteckige Bretter mit Handgriff, die dazu genutzt wurden, den feuchten Sand zu glätten, damit ein ordentlicher Eindruck entsteht. Eindruck zu machen, war wohl immens wichtig, jedenfalls bei ehrgeizigeren Familien. Je nach Bildungsgrad oder Geltungsdrang brachten die auf ihrer Burg Muschelmosaike an, auf denen ihr Stadtwappen, lateinische Sinnsprüche oder lustige Bilder zu sehen waren. Jedenfalls, bis irgendein verträumtes kleines Kind aus Versehen über die Anlage stolperte und alles kaputtmachte.
Weit ernster wurde die Sache mit den Sandburgen allerdings seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts genommen. Der Kunstwissenschaftler Harald Kimpel erzählte 2013 in einem Interview in der Zeit, die Strandburg »sei schnell politisch« geworden: »1870 / 71 zum Beispiel, das junge Kaiserreich zeigte Flagge an den gefährdeten Randzonen des Reiches. Man befand sich an der Wasserfront. Und man demons­trierte hier die Verteidigungsbereitschaft in einer Art von Schützengraben.« Kimpel führte weiter aus, in den Jahren des deutschen Faschismus habe sich gezeigt, »dass der Ordnungswahn dieser Jahre auf die Strandburg durchschlug. Das nette Rund gewann Geradlinigkeit als Ausweis der Linientreue. Und was das Dekor ­anging, wurde auch der Führer nett an die Abhänge der Burgen gemuschelt.«
Dazu passt, was heute auf einer Postkartensammlerseite angeboten wird: Eine 1938 verschickte Karte zeigt den Strand des Ostseebads Grömitz. Die Strandburgen ähneln ­akkurat gemauerten Befestigungsanlagen, einige sind viereckig, ­manche rund, die darin stehenden Körbe und die gehissten Fahnen sind nur undeutlich zu erkennen. Schaut man nur flüchtig hin, wirkt die Szene wie eine Ansammlung von aufs Meer gerichtete Kanonen­türmen inmitten von Schützengräben.
Erholungsorte für alle sind die Bäder an der deutschen Ost- und Nordsee ohnehin nie gewesen.
Am 13. Juli 1939 war ein Strandkorb am Ostseestrand von Ahlbeck/­Heringsdorf Schauplatz einer Verzweiflungstat. Die Jüdin Ilse Fröhlich und ihr nichtjüdischer Verlobter Rudolf Marx begingen gemeinsam Selbstmord – genauer: Marx erschoss erst Fröhlich und dann sich selbst. Einen Tag zuvor hatte die 20jährige einen Abschiedsbrief an ihre Eltern verfasst. »Denkt daran, dass wir jetzt glücklich sind«, schrieb sie darin. Die Liebenden waren Opfer des ­nationalsozialistischen Rassenwahns. Seit 1935 waren die Heirat zwischen Juden und Nichtjuden sowie »außerehelicher Verkehr« zwischen ihnen verboten, bei Zuwiderhandlungen drohten Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen.
In manchen Badeorten wären die beiden aber auch vor der Nazizeit nicht erwünscht gewesen; auf Borkum war man zum Beispiel schon 1897 stolz darauf, dass Juden dort offiziell als unerwünscht galten, täglich spielte dort die Kurkapelle das eigens gedichtete Borkum-Lied, dessen ­antisemitischer Text von den Urlaubern begeistert mitgesungen wurde. In der Weimarer Republik galten ­lediglich Helgoland, Westerland, Wyk auf Föhr, Heringsdorf und mit ­Abstrichen Noderney als leidlich »judenfreundlich«.
Die Strandburgen, mit denen ­Elemente des Nationalsozialismus spielerisch vorweggenommen wurden, sind in den meisten deutschen Urlaubsorten mittlerweile verboten. Burgen werden nur noch im Rahmen von Wettbewerben gebaut, die zur Bespaßung der Erholungssuchenden regelmäßig ausgetragen wurden, aber vermutlich wesentlich unin­teressanter sind, als in einem ­Strandkorb zu sitzen und aufs Meer zu gucken.

Wobei – am heißesten Tag des Juni einen Korb zu mieten, war keine wirklich gute Idee. Dreht man ihn nämlich bei Temperaturen von über 25 Grad in Richtung Sonne, entwickelt sich die von wem auch ­immer erfundene Konstruktion rasch zu einer kleinen, leistungsfähigen Sauna, was vor allem deswegen sehr unangenehm ist, weil das blöde Handtuch natürlich ständig vom blau-weiß gestreiften Plastik rutscht und man dann daran festklebt. Aber man kann sich prima in den Schatten des Strandkorbs legen, was auch ganz schön ist. Und außerdem sieht er wirklich sehr gut aus, denn mittlerweile sind die Körbe nicht mehr ­naturbelassen beige, sondern weiß gestrichen, was in Kombination mit blauem Meer und Sand ein ausgesprochen hübscher Anblick ist. Aber gut war es trotzdem, für ein paar Stunden stolze Mieter eines Strandkorbs zu sein. Denn nachts zu zweit darin zu sitzen, rosafarbenen Champagner zu trinken und dem Meer beim Meersein zuzuhören, ist ziemlich unschlagbar.