Die Sterbehilfedebatte ist erneut entbrannt

Sterben ohne Zutun

Ein Urteil und ein Rechtsgutachten haben die Sterbehilfedebatte in Deutschland erneut entfacht.

Die Verabschiedung des Sterbehilfegesetzes durch den deutschen Bundestag im November 2015 sollte endlich recht­liche Klarheit schaffen. Doch zwei Ereignisse haben die Debatte über die Sterbehilfe erneut angestoßen. Das Landgericht Berlin sprach Anfang März ­einen Hausarzt frei, der eine langjährige Patientin dazu angeleitet hatte, die von ihm verschriebenen Schlaftabletten so einzunehmen, dass der von ihr ausdrücklich gewünschte Tod schmerzfrei eintreten konnte. Sie hatte krankheitsbedingt unter starken Schmerzen gelitten, lag aber nicht im Sterben. Die ­Patientin hatte den Arzt mit einer SMS darüber unterrichtet, dass sie die Tabletten geschluckt hatte. Dieser hatte sich mit einem Schlüssel Zugang zu ihrer Wohnung verschafft und innerhalb von drei Tagen mehrfach ihren komatösen Zustand überprüft.

Die Anklage lautete auf »Tötung auf Verlangen durch positives Zutun«. Der Angeklagte bewertete sein Handeln als ethisch und juristisch gerechtfertigt. Das Gericht begründete den Freispruch damit, dass der Hausarzt zwar bei der Selbsttötung geholfen, sich dabei aber nicht strafbar gemacht habe. Ihm sei weder die Unterlassung von Rettungsmaßnahmen noch ein »aktives Tun« nach Eintritt der Bewusstlosigkeit der Patientin vorzuwerfen.

Das Urteil entspricht der derzeitigen Tendenz in der Rechtsprechung. Bisher wurde noch kein ärztlich assistierter Suizid bestraft, obwohl es Ärzten rechtlich nicht gestattet ist, Suizidassistenz zu leisten. Dies bleibt Angehörigen und nahestehenden Personen vorbehalten. Ärzte dürfen indirekte Sterbehilfe leisten, indem sie durch die ­Nebenwirkungen schmerzlindernder Medikamente den Tod beschleunigen, ihn aber nicht direkt herbeiführen. Sie dürfen lebensverlängernde Maßnahmen unterlassen, wenn es dem geäußerten Patientenwillen entspricht.

Die Bundestagsdebatte über das Sterbehilfegesetz war überaus kontrovers geführt, der Fraktionszwang bei der Abstimmung aufgehoben worden. Die ­beschlossenen Änderungen waren letztlich gering. ­Entscheidend ist der Paragraph 217 des Strafgesetzbuchs, der die »geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung« mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren belegt. Damit setzte sich der Antrag der Abgeordneten Michael Brand (CDU) und Kerstin Griese (SPD) durch, der zudem nicht gewinnbringende, aber regelmäßige und organisierte Formen der Sterbehilfe unter Strafe stellt. Anträge, die lediglich die gewerbsmäßige Sterbehilfe bestraft oder den ärztlich begleiteten Suizid erlaubt hätten, konnten sich ebenso wenig durchsetzen wie die Versuche, alle Formen der Sterbehilfe zu verbieten.

Bereits vor dem Urteil des Landgerichts Berlin wurde am 15. Januar ein Rechtsgutachten veröffentlicht, das einem vor einem Jahr formulierten ­Beschluss des Leipziger Bundesverwaltungsgerichts Verfassungswidrigkeit bescheinigte. Die Leipziger Richter hatten mit Verweis auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in der Pflicht gesehen, unheilbar kranken, sterbewilligen und des freien Willens mächtigen Patienten in extremen Notlagen den Erwerb zur Selbsttötung geeigneter Betäubungsmittel zu ermöglichen. Eine solche ­Notlage sollte demnach angesichts eines »unerträglichen Leidensdrucks« und des Mangels an anderen zumutbaren Möglichkeiten bestehen, das Leben zu beenden. Infolge des Urteils waren 86 Anfragen nach dem Medikament Natrium-Pentobarbital beim BfArM eingegangen, weshalb die Behörde den renommierten Verfassungsrechtler und ehemaligen Verfassungsrichter Udo Di Fabio damit beauftragte, ein Rechtsgutachten zu erstellen.

Di Fabio zufolge handelt es sich bei der Verweigerung des Medikaments nicht um einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, da das Recht auf Selbstbestimmung immer im sozialen Kontext zu beurteilen sei. Es be­stehe »keine verfassungsrechtliche Schutzpflicht« des Staats. Di Fabio ­zufolge haben die Leipziger Richter das Betäubungsmittelgesetz in unzulässiger Weise interpretiert und sich gegen den Willen des Gesetzgebers gestellt, der 2015 die routinemäßige Beihilfe zum Suizid verboten hat. Gäbe das BfArM den Anfragen statt, käme dies der routinemäßigen Beihilfe gleich, so der Gutachter. Di Fabio gab dem Bundesinstitut den ungewöhnlichen Rat, das rechtskräftige und bindende Urteil des Bundesverwaltungsgerichts durch einen »Nichtanwendungserlass« zu missachten, solange das Bundesverfassungsgericht keine hinreichende ­Klarheit geschaffen habe.

Auch der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz drängt auf verfassungsrechtliche Klarheit und hofft auf ein Urteil im Sinne des BfArM. Der evangelische Theologe Peter Dabrock, Vorsitzender des Deutschen Ethikrats, sagte nach der Veröffentlichung des Rechtsgutachtens, dass »solche Fragen nicht durch Gerichte geklärt werden können, nicht einmal durch das Bundesverfassungsgericht«, weshalb er den Gesetzgeber in der Pflicht sehe.

Kritiker einer Ausweitung der Sterbehilfe fordern eine Verschärfung des ­Betäubungsmittelgesetzes. Der damalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) sagte im Januar, eine staatliche Behörde dürfe »niemals Helfershelfer einer Selbsttötung ­werden«. Petra Sitte (»Die Linke«) hielt dagegen, dass eine solche Verschärfung das Sterbehilfegesetz letztlich unterlaufe, da sie auch Angehörigen, die Beihilfe leisten dürfen, den Zugang zu Medikamenten erschwere. Sie schlägt individuelle Entscheidungen durch Ethikkommissionen vor, um die Be­hörden zu entlasten. Die Gesundheitspolitikerin Christine Aschenberg-­Dugnus (FDP) hält es angesichts der Unklarheiten für notwendig, den ­Sterbehilfeparagraphen nochmals zu verändern. Es liegen bereits Verfassungsbeschwerden mehrerer Ärzte und Privatpersonen vor, die gegen das ­Sterbehilfegesetz ein Recht auf ärztlich begleiteten Suizid geltend machen ­wollen. Noch in diesem Jahr soll das Bundesverfassungsgericht ein Urteil fällen.

Der Verein »Sterbehilfe Deutschland« will nicht auf rechtliche Klarheit warten. Der Vereinsvorsitzende und ehemalige CDU-Politiker Roger Kusch ­kündigte im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst Ende Januar an, Vereinsmitglieder künftig wieder bei der Selbsttötung zu unterstützen. Nach der Verabschiedung des Sterbehilfegesetzes 2015 sah sich der Verein dazu gezwungen, seine Arbeit in Deutschland einzustellen.

Mittlerweile hat der Schweizer Ableger deshalb ­seine Statuten geändert. Dadurch ist es möglich, dass ein Angehöriger mit ­einem deutschen Sterbewilligen zu einer Vereinsstelle in der Schweiz fährt. Dort soll ein Arzt in einem auf Video aufgezeichneten Gespräch ­prüfen, ob der Patient unheilbar krank ist und ob dessen Todeswunsch eine freiwillige Willensäußerung ist. Wird dies bestätigt, darf der Angehörige in ­einem zweiten Schritt das Medikament abholen und nach Deutschland bringen. Kusch möchte das Betäubungsmittelgesetz umgehen, indem nicht das übliche Natrium-Pentobarbital, sondern ein noch nicht erfasstes Mittel ver­wendet wird. Michael Brand und Kerstin Griese, auf die das Sterbehilfe­gesetz von 2015 maßgeblich zurückgeht, protestierten. Brand warf Kusch mangelnden Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht vor – und das ­»Geschäft mit dem Tod«.