In Venezuela eskaliert der Streit über die geplante verfassunggebende Versammlung

Stunde null für den Parallelstaat

Am Sonntag soll in Venezuela die Wahl zur umstrittenen verfassung­gebenden Versammlung stattfinden. Die Opposition will das verhindern und versucht, staatliche Parallelstrukturen zu etablieren.

Hugo Chávez, der Venezuela von 1999 bis zu seinem Tod 2013 regierte, war eine polarisierende Figur. Während Menschen in den informell erbauten barrios von sozialer Teilhabe, Demokratie und Revolution schwärmten, schimpften die Bewohner der wohlhabenderen Viertel über eine kommunistische Diktatur.

Seit Anfang April der politische Machtkampf eskalierte und bei den beinahe täglichen Demons­trationen bereits etwa 100 Menschen getötet wurden, wird die politische Spaltung institutionalisiert. Anhänger von Regierung und Opposition stützen sich immer stärker auf unterschied­liche staatliche Strukturen. Am 16. Juli organisierte das Oppositionsbündnis »Tisch der demokratischen Einheit« (MUD) eine landesweite Volksbefragung. Am selben Tag hielt der Nationale Wahlrat (CNE) eine Testabstimmung für die auf den 30. Juli angesetzte Wahl zur verfassunggebenden Versammlung ab. Beide betonten hinterher die hohe Beteiligung an den Abstimmungen – an denen jeweils nur die eigenen Anhänger teilnahmen.

»Rechnerisch ist Nicolás Maduro heute abberufen worden«, sagte Parlamentspräsident Julio Borges am Abend des 16. Juli. Nach Angaben der Opposi­tion hatten sich über 7,5 Millionen der insgesamt etwa 19 Millionen Wahlberechtigten an der Abstimmung beteiligt, davon fast 700 000 im Ausland. Da ­jedoch mit einer Beteiligung von acht bis zehn Millionen gerechnet worden war, blieb das Ergebnis hinter den Erwartungen der Opposition zurück.

Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro gewann bei der Wahl 2013 etwas mehr Stimmen als die nun registrierten 7,5 Millionen. Rechtlich ist die Abstimmung ohnehin irrelevant. Laut Verfassung darf allein der CNE verbindliche Wahlen und Abstimmungen ansetzen. Der MUD wertet die symbo­lische Befragung dennoch als Erfolg und leitet daraus ein politisches Mandat für eine als »Stunde null« bezeichnete neue Phase des Protestes ab.

Zur Abstimmung standen drei Fragen, die jeweils zwischen 98 und 99 Prozent Zustimmung erhielten: »1. Lehnen Sie die Durchführung der von Präsident Nicolás Maduro vorgeschlagenen verfassunggebenden Versammlung ohne die vorherige ­Zustimmung der venezolanischen Bevölkerung ab und erkennen Sie sie nicht an? 2. Verlangen Sie von den Streitkräften und allen staatlichen Funktionären, die Verfassung von 1999 zu verteidigen und die Entscheidungen der Nationalversammlung zu unterstützen? 3. Billigen Sie, dass die Staatsgewalten unter den von der gültigen Verfassung vorgegebenen Bedingungen erneuert werden und freie und transparente Wahlen durchgeführt werden sowie eine Regierung der nationalen Einheit gebildet wird, um die verfassungsgemäße Ordnung wiederherzustellen?«

Mehrere lateinamerikanische Länder, die EU sowie die USA unterstützten den MUD rhetorisch. US-Präsident ­Donald Trump drohte der venezolanischen Regierung sogar mit Sanktionen. Auch Vertreter des »kritischen Chavismus«, also unzufriedene ehemalige Regierungsanhänger, sprachen sich gegen die verfassunggebende Versammlung aus. Ebenso deutlich lehnten sie allerdings die parallelen staatlichen Strukturen des MUD sowie eine Einmischung von außen ab.

Maduro zeigte sich unbeeindruckt und bekräftigte, er werde an der verfassunggebenden Versammlung festhalten. »Diese Initiative gehört nicht mehr mir, sie ist nun in den Händen des Volkes«, sagte er und rief die Opposi­tion zum Dialog auf. Gemäß den vom CNE verabschiedeten Regelungen sollen am kommenden Sonntag insgesamt 545 Teilnehmerinnen und Teilnehmer gewählt werden. Die rechte und die linke Opposition befürchten, die Regierung werde den Staat auf diese Weise für ihre Zwecke umbauen und die ­Demokratie abschaffen. Das von Maduro am 1. Mai angekündigte Vorhaben hat auch unter Anhängern des Chavismus die Spannungen verschärft.

So symbolisch die oppositionelle Volksbefragung war, so symbolisch ist zunächst auch die ausgerufene »Stunde null«. Die Wahl zur verfassunggebenden Versammlung mag wegen geringer Beteiligung ein Misserfolg werden, verhindern kann die Opposition sie jedoch kaum. Der Aufruf an das Militär, die Seiten zu wechseln, wird zumindest so lange keinen Erfolg haben, wie die chavistisch geschulte Armeeführung wirtschaftlich von Maduros Regierung profitiert. Und auch der vom MUD nach der Volksbefragung vorgestellte Plan für eine zukünftige »Regierung der nationalen Einheit« und die Wahl von 33 neuen Richtern des Obersten Gerichts (TSJ) durch das Parlament am Freitag voriger Woche sind zunächst reine Symbolpolitik. Maduro drohte den nominierten Richtern bereits. Einer war nach Angaben der Zeitung El Nacional tags darauf vom venezolanischen Geheimdienst Sebin festgenommen worden.

Im venezolanischen Machtkampf stehen derzeit die Regierung Maduro, das Oberste Gericht und der Wahlrat dem von der Opposition dominierten, aber vom TSJ blockierten Parlament, einem Alternativgericht und demnächst vielleicht einer Parallelregierung »der nationalen Einheit« (ohne Chavisten) gegenüber. Die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega hat sich kürzlich gegen die Regierung gestellt und erhält dafür Unterstützung von der Opposition. Sie könnte deshalb in einem Verfahren vom TSJ abgesetzt werden. Bisher zeigen sich weder Regierung noch Opposition kompromissbereit. Als Versöhnungsgeste kann allenfalls gewerter werden, dass der prominente Oppositionspolitiker Leopoldo López seit Anfang Juli eine Haftstrafe nur noch im Hausarrest verbüßt. Wegen Anstachlung zu Unruhen war er zu über 13 Jahren Haft verurteilt worden.

Die von beiden Seiten ausgehende Gewalt hält an. In den vergangenen Wochen häuften sich Zwischenfälle, die darauf hindeuten könnten, dass sich der Konflikt weiter verselbständigt und den Führungen beider politischer Lager vollends zu entgleiten droht. So griff Ende Juni ein ehemaliger Kriminalpolizist in Rambo-Manier von einem Hubschrauber aus ein Gebäude des Obersten Gerichtes sowie des Innenministeriums an. Am 5. Juli, dem venezolanischen Nationalfeiertag, stürmten Gruppen aus den Armenvierteln unter den Augen der National­garde eine Sitzung des Parlaments und besetzten es stundenlang.

Sollte die Wahl zur verfassunggebenden Versammlung wie geplant stattfinden, droht eine weitere Eskalation, die schlimmstenfalls in einen Bürgerkrieg münden könnte. Die Opposition will den Druck auf die venezolanische Regierung jedenfalls erhöhen. Für den 20. Juli hatte sie zu einem 24stündigen Generalstreik aufgerufen. Bei den Protesten kamen zwei Menschen ums Leben. Für den 26. und 27. Juli ist ein weiterer Generalstreik anberaumt.

Über das Ausmaß des Streiks vom Donnerstag vergangener Woche gingen die Einschätzungen auseinander. Während Oppositionsführer Henrique Capriles Radonski sagte, der Tag »­gleiche in einigen Städten einem 1. Januar«, betonte Maduro, dass »die 700 größten Unternehmen des Landes zu 100 Prozent arbeiten«. Beide bezogen sich dabei auf Venezuela, aber jeder auf das seine.