Ronald M. Schernikaus Widerwillen gegen Selbsterfahrungsliteratur

Das debile Lallen der Selbsterfahrung

Die Anthologie »Lieben, was es nicht gibt« erläutert Ronald M. Schernikaus Verhältnis zu ­Literatur, Pop und Politik.

»es gibt 1 richtiges leben im falschen«, schreibt der Schriftsteller Ronald M. Schernikau – es ist eine handschriftliche Notiz zu seinem Werk mit dem Titel: »Und als der Prinz mit dem Kutscher tanzte, waren sie so schön, dass der ganze Hof in Ohnmacht fiel. Ein utopischer Film«, kurz »so schön« genannt. Was ist das für 1 Leben? Schernikau ist niemand, der auf die Welt, wie sie ist, einschwören möchte. Er fordert eine Haltung zur Welt. »Das Einzige, das mich interessiert bei der Arbeit, ist: Etwas loben können. Ich hasse Negation«, sagte er in einer berühmten Rede auf dem Kongress der Schriftsteller der DDR im März 1990. Was gäbe es zu loben? Oder gar zu lieben?
Unter dem Titel »Lieben, was es nicht gibt« hat der Berliner Verbrecher-Verlag Beiträge zu »Literatur, Pop und Politik bei Ronald M. Schernikau« veröffentlicht, die auf der gleichnamigen Tagung im März 2015 vorgestellt und diskutiert wurden. In dem Band sind sowohl Texte zu einer Poetologie Schernikaus als auch zu von ihm bewunderten Kollegen wie Gisela Elsner, Elfriede Jelinek, Irmtraud Morgner und Peter Hacks sowie Werkanalysen und Untersuchungen zu Schernikaus Position im literarischen Leben der DDR und BRD versammelt. Es gibt auch einen Beitrag über Popmusik in Bezug auf Schernikau und der Popmusiker Jens Friebe hat eine Textcollage beigetragen.
Dass Schernikau vom Populären angezogen war, kann man wohl ­sagen. 1984 fragt er in seinem Text »Die Wahrheit ist westlich«, ob Heiner Müller Marilyn Monroe überlegen sei oder umgekehrt. Der eine führe in Sachen Magisterarbeiten, die andere in Bildbänden über ihr Leben. »ich glaube nicht, daß man recht haben muß«, schreibt Schernikau. »heiner müller hat mehr recht als marylin monroe. er nörgelt mehr. ­sicher, er weiß auch mehr (worum ich ihn beneide). aber heißt das, die leute haben unrecht damit, monroe zu verehren?« 
Als Kommunist, der Schernikau war, will er nicht die Unpopularität zur Tugend verklären oder mit vermeintlicher Wahrheit gleichsetzen. Ihn interessiert, was Pop ist, was Pop sein, also populär sein kann. Der Kommunismus zum Beispiel. Leider ist er es nicht, heute wahrscheinlich noch weniger als zu Zeiten des 1991 Verstorbenen. Aber darin besteht die Aufgabe des Lobens und Liebens dessen, was es nicht gibt.
Selbstmitleid und Betroffenheit lehnte Schernikau ab – ohne aber ­ignorant gegenüber der Tatsache zu sein, dass es Leiden gibt. So schreibt Stefan Ripplinger, der auch anlässlich der Übergabe des Schernikau-Nachlasses an die Akademie der Künste am 7. Oktober des vergangenen Jahres einen Festvortrag hielt, in seinem Beitrag des Sammelbandes: »Statt sich zu bemitleiden, soll einer handeln, kämpfen. Mit anderen Worten, politisches Handeln fängt bei einem leidenden Subjekt an, das nicht mehr leiden will. Motiv für politisches Handeln ist nicht Empathie, sondern Eigeninteresse, das, wie Ernst Bloch geschrieben hat, in ein »revolutionäres Interesse« umschlagen kann. Vom Moralisieren hielt Schernikau nichts. So schreibt er: »Der Westen hat, und das ist ein so alter Trick, die Moral eingeführt, um über Politik nicht reden zu müssen. Moral, weil sie unter allen mög­lichen Standpunkten ausgerechnet den herzzerreißenden wählt, macht sich selber handlungsunfähig; deshalb ist sie so beliebt. Einen Vorgang moralisieren heißt, ihm seinen Inhalt nehmen.«
Über Schernikaus Literatur schreibt Georg Fülberth in seinem Buchbeitrag, dass Schernikaus Bewunderung »der unverstellten klassischen Schönheit« gegolten habe. »In der DDR-Kontroverse zwischen der Linie Brecht-Müller einerseits, Lukács-Hacks andererseits wäre er ins Niemandsland geraten.« Doch Schernikaus Niemandsland war durchaus nicht so abseitig, wie man vermuten würde. Es lag inmitten der Auseinandersetzung um einen literarischen Realismus, wie vor allem Martin Brandt in seinem lesenswerten Beitrag darstellt. Purer Dokumentarismus oder Subjektivismus war Schernikaus Sache nicht, mit subjektiver Bekenntnisliteratur war er gänzlich uneinverstanden: »das debile lallen der selbsterfahrung hat sich auch in der ddr durchgesetzt, und ich durfte auf meine jungen tage noch erleben, daß in den leipziger buchläden ein buch liegt mit dem klassischen titel: betroffen«. Was ist der Unterschied zu seiner Literatur? Diese geht schließlich ebenfalls vom Subjekt aus – wie »Kleinstadtnovelle«, »Die Tage in L.: Darüber, dass sich die DDR und die BRD niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer Literatur« und auch »Irene Binz. Befragung«.

Ronald M. Schernikau interessiert, was Pop ist, was Pop sein, also populär sein kann. Der Kommunismus zum Beispiel. Leider ist er es nicht, heute wahrscheinlich noch weniger als zu Zeiten des 1991 Verstorbenen.

Schernikau wusste, dass schlechte Zeiten nur Dokumente hervorbringen, aber keine Literatur. Und dass man sich um Literatur bemühen muss, um ihre Form, ihre Schönheit. In dem Streben nach Formvollendung, in Willen, Fähigkeit und Gelegenheit beispielsweise Blankvers zu schreiben, steht Schernikau singulär in einer Zeit, die sich lieber im Verzicht auf Größe und Schönheit mit der Welt arrangiert, als damit gegen sie zu agieren. »das unvernünf­tige ist langweilig. die blütezeit des kapitalismus mag ja noch hingegangen sein, das späte Stadium ist bloß noch blöd«, schreibt er. Sich selbst nicht blöd machen zu lassen, sondern besser als die Welt zu sein, ist die Haltung, welche Vorschein ­eines richtigen Lebens ist. Der Dichter und Dramatiker Peter Hacks nannte Schernikau deshalb einmal den »letzten normalen Menschen des Jahrtausends«. Doch die Letzten werden vielleicht einmal die Ersten sein, ändern müssen sich nur die Umstände.
Bei aller Faszination für Pop war Schernikau außerordentlich bewusst, was die Buntheit des Westens bedeutet. Er sah die materielle Überlegenheit des Westens – und die ideelle des Ostens. Als Materialist wusste er aber auch, dass die ideelle allein nicht reicht. »Meine Damen und Herren«, sagte Schernikau in der schon erwähnten Rede auf dem Schriftstellerkongress, »Sie wissen noch nichts von dem Maß an Unterwerfung, die der Westen jedem einzelnen seiner Bewohner abverlangt. Was Sie vorerst begriffen haben: Der Westen ist stark … « Der Kapitalismus kann aber nur siegen, indem er unterwirft, immer wieder bringt er Sieger und Besiegte, Herrscher und Beherrschte hervor. Das ist die Dynamik der ­Gewalt, die nur mit der klassenlosen Gesellschaft beendet werden kann. Die Buntheit des Westens kann man nicht ohne die Verzweiflung haben, ruft Schernikau in seiner Rede ins Gedächtnis. Der Kapitalismus vermittelt Herrschaft über Genuss beziehungsweise über die Simulation desselben. Das bleibt zwar Betrug, wie es auch Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der »Dialektik der Aufklärung« als Kulturindustrie beschrieben, ist aber auch eine neue gesellschaftliche Qualität. In diesem Widerspruch – zwischen Pop und ­Politik – bewegt sich Schernikau.
Das Verhältnis von Westen und Osten war für den Dichter – der 1966 im Kofferraum von der DDR in die BRD gelangte, um 1989 wieder in die DDR zu ziehen und DDR-Bürger zu werden – entscheidend. In Schernikaus Werk treffen diese Welten auf­einander und die Größe und Schönheit seiner Literatur liegen gerade in der formalen Bewältigung dieses Aufpralls. »ein ddr-bürger, der einen westberliner spielt der einen ddr-bürger spielt!« Das klingt nach einer elisabethanischen Verkleidungskomödie und tatsächlich besteht der Humor Schernikaus in der Pointierung von Missverständnissen, die Ausdruck der unaufgelösten Widersprüche der Geschichte sind. 
Fülberth schreibt über das Großwerk »Legende«, das dieses Jahr im Verbrecher-Verlag wieder aufgelegt werden soll, dass Schernikau mit ­diesem einen aktuell unmöglichen Kommunismus propagiere. Lieben, was es nicht gibt – das geht in der Kunst. Und ganz nebenbei hat Schernikau auch eine der entscheidenden Fragen der Gegenwart beantwortet: »Was ein Künstler ohne Revolu­tion macht? Na Kunst.«

Helmut Peitsch und Helen Thein (Hg.): ­Lieben, was es nicht gibt. Literatur, Pop und Politik bei Ronald M. Schernikau. ­Verbrecher-Verlag, Berlin, 2017, 368 Seiten, 24 Euro