Chris Cobilis’ Verarbeitungen von Pannenshows

Haa Haaaaa!

Pannenshows sind doch zu etwas gut: Ein australischer Komponist und ein US-amerikanischer Dichter lassen sich von ihnen zu einem Album inspirieren.

Ein Streichquartett, das klingt, als würde jemand Neue Musik auf einer Kinoorgel aus den Zwanzigern zum Besten geben. So etwa hört es sich an, wenn das Spektral Quartet aus Chicago Videos der TV-Show »America’s Funniest Home Videos«, dem US-amerikanischen Pendant von »Pleiten, Pech und Pannen«, vertont. Das Kind fliegt von der Schaukel, Opa in die Geburtstagstorte, der Ball zielsicher ins Gemächt – so vorhersehbar die eingesandten Videos in den drei Jahrzehnten der Pannenshow auch blieben, der australische Komponist Chris Cobilis ließ sich von ihnen zu einem ungewöhnlichen Konzeptalbum inspirieren. »This Is You« entstand in Zusammenarbeit mit dem Spektral Quartet und dem Poeten Kenneth Goldsmith. Das Album stellt den Versuch dar, sich musikalisch mit der Selbstliebe des Menschen auseinanderzusetzen – und kommt dabei auch einer drängenden Frage auf die Schliche, nämlich: Welche Rolle spielt eigentlich die Sonne für den Menschen? »Ich möchte vorschlagen, Narzissmus nicht als Mangel zu betrachten, sondern als Errungenschaft des Sonnenlichts«, sagt Chris Cobilis. »›Sehen‹ und ›Wissen‹ müssen nicht zusammenhängen, wie es unser Okularzentrismus vorgibt. Darum habe ich der Sonne einen Charakter und auch die Schuld an allem gegeben: Die gelangweilte Sonne schuf das Leben, zu ihrer Unterhaltung und um sich selbst zu erkennen.«
Vieles von dem, was Cobilis zu seinem Album sagt, ist entweder komplett gaga, größenwahnsinnig oder einfach ironischer Bullshit. Der Mensch sei biologisch dazu programmiert, ins Fernsehen kommen zu wollen, heißt es hämisch auf »This Is You«. Wieso auch sonst hatten sich die Redaktionen der Pannenshows um Nachschub aus den Camcordern und Super-8-Kameras der Zuschauer nie sorgen müssen? Wie sollte anders erklärt werden, dass Youtube mit Videos von Alltagskatastrophen überfüllt ist? Eben. 
Kurioserweise ist »This Is You« unterhaltsam und musikalisch sehr interessant, trotz oder gerade wegen des eigentümlichen Vorgehens der Künstler. Cobilis zeigte den Musikern, teils unabhängig voneinander, verschiedene Home Videos und forderte sie auf zu spielen, was ihnen vorgeführt wurde. Oder er wandelte die Tonspur einer Show mittels digitaler Verfahren in eine Grafik um, die wiederum dem Quartett als Notenblatt diente.
Zusätzlich steuerte Kenneth Goldsmith Texte bei. Der vom New Yorker Museum of Modern Art ausgezeichnete Dichter gibt an der University of Pennsylvania unter anderem Kurse in nichtkreativem Schreiben, eine Methode, die er auch in seinen Büchern anwendet, wenn er sich nicht gerade darüber auslässt, wie man seine Zeit im Internet verschwendet. Die Texte für »This Is You« bestehen aus gefundenem Material, das er gemeinsam mit Cobilis neu montiert hat: Dialoge und Off-Kommentare der »Funniest Home Videos« und anderer TV-Programme, aber auch Stoff aus der Boulevardpresse und aus theoretischen Essays. Goldsmiths Vortrag: immer etwas zynisch, mit distanziertem Vergnügen am Unfall und all den miesen Pointen, die Pannenvideos für gewöhnlich liefern. Ganz nebenbei gelingt ihm der wohl eindringlichste weiße Sprechgesang des vergangenen Jahres, neben dem aktuellen Album von Kate Tempest.
Über sein Material erheben will sich Cobilis trotzdem nicht. »Es geht um Selbsterkenntnis. Dass wir dazu auf eine Komik zurückgreifen, die darin besteht, dass jemand von einer Leiter in feuchten Beton fällt, während ihm ein Baseball zwischen die Beine fliegt, ist sicherlich merkwürdig. Aber in der Komik liegt auch immer etwas Unverstelltes und Direktes.« Am Ende von »This Is You« fühlt man sich trotz all der Ironie etwas eigenartig. Vielleicht auf seltsame Weise durchschaut.
 

Chris Cobilis, Kenneth Goldsmith & Spektral Quartet: This Is You (Room 40)