Armut, Reichtum, Jihad. Ein Spaziergang durch Brüssel

Von Maelbeek nach Molenbeek

Ein Brüsseler Stadtspaziergang zwischen Reich, Arm und Jihad.

Warum nicht hier anfangen, an der Stelle, an der am 22. März 2016 um 9.11 Uhr Khalid El Bakraoui, ein Brüsseler wie die meisten seiner Opfer, seinen Rollkoffer mit Sprengstoff zündete, in der Metro, die gerade anfuhr in Richtung Innenstadt und in der eine Sekunde später nichts als Panik und Rauch und Schreie und Tod herrschten? Wo 18 Menschen den Tod fanden, mehr als 100 verletzt wurden und noch viel mehr ein Trauma erlitten, das sie ihr Leben lang nicht mehr ganz loswerden können.
Lisa und Laetitia gehen hundert Meter von der Station Maelbeek zur Schule, jeden Morgen steigen sie hier aus. Am Tag der Attentate waren sie zum Glück pünktlich: Sie saßen schon im Klassenzimmer, als die Bombe explodierte. Danach stiegen sie einen Monat lang eine Station vorher aus, während Spuren gesichert wurden und man den Bahnhof reinigte. Dann verschwanden die weißen Planen, die den Bahnhof vor den Fahrgästen durchfahrender U-Bahnen verbargen, und Lisa und Laetitia stiegen wieder in Maelbeek aus. Zunächst war der Bahnhof noch schwer bewacht von bis an die Zähne bewaffneten Soldaten, mittlerweile kommt nur noch gelegentlich eine Streife vorbei. »Am Anfang war es schon ein komisches Gefühl, hier auszusteigen«, sagt Lisa, »mittlerweile hat man sich daran gewöhnt.« »Das soll nicht heißen, dass man es vergisst«, fällt ihr Laetitia ins Wort. »Nie.«
An der improvisierten Gedenkstelle, einem plakatgroßen Whiteboard, auf dem sich die Leute mit ihren Unterschriften verewigen können, liegen ein halbes Jahr nach den Anschlägen noch drei, vier Blumensträuße. Gegenüber lösen Besuchergruppen aus ganz Europa, die zwei Blocks weiter im Besucherzentrum des Europäischen Parlaments waren, ihre Metrotickets.
»Klar wusste ich, was hier passiert ist, als ich den Namen Maelbeek gesehen habe«, sagt Ville aus Finnland, »aber ich könnte nicht behaupten, dass mir das etwas ausgemacht hätte. Und keine Minute habe ich überlegt, deswegen nicht nach Brüssel zu fahren.«
Oben am Eingang, wo am 22. März die Schwerverletzten erstversorgt wurden, wo sich in den ersten Wochen nach dem Attentat die Blumen, die Briefe und Stofftiere häuften, rasen wieder die Autos vorbei. Es stinkt nach Urin, was die Beschäftigten der EU-Institutionen, von denen sicherlich 10 000 im Umkreis von 500 Metern um den Anschlagsort ihren Schreibtisch stehen haben, die Lobbyisten und Botschaftsangehörigen in ihren Vorurteilen über die Stadt bestätigt; über das stinkige Brüssel, in das ihr sauberes Metier sie geführt hat.
Andererseits hilft ihnen der Gestank am Metro-Ausstieg vielleicht über den Gedanken hinweg, dass es womöglich doch nicht die gemeinen Brüsseler waren, auf die es der »Islamische Staat« abgesehen hatte, sondern genau ihresgleichen, diejenigen, die hier in Maelbeek, mitten im Europaviertel, mit einer Viertelstunde Verspätung an jenem Dienstagmorgen zur Arbeit hetzten. Dass es womöglich kein Zufall war, dass die Bakraoui-Brüder und ihr Mittäter Najim Laachraoui, aufgewachsen im nördlichen Brüsseler Stadtviertel Schaerbeek, sowie Mohamed Abrini aus dem seit den Attentaten international bekannten Molenbeek nicht auf die Brüsseler Mitte zielten, sondern auf das Viertel der »Eurokraten« und auf deren Flughafen in Zaventem.
So deutlich wie bei kaum einer Stadt von vergleichbarer Größe – Brüssel hat knapp 1,2 Millionen Einwohner – sind hier Zentrum und Peripherie voneinander getrennt, hat der Städtebau der Nachkriegszeit neue Stadtmauern geschaffen. Im Zentrum liegt Le Pentagone, das Fünfeck, das weitgehend deckungsgleich ist mit der historischen Stadtgemeinde Brüssel. Dort, wo einst die im 14. Jahrhundert errichtete Stadtmauer verlief, entstanden zunächst Boulevards, die dann durch mehrspurigen, kreuzungsfreien Ausbau zu einer Art Stadtautobahn wurden. Die trennt bis heute, auf weiten Strecken für Fußgänger unüberwindbar, die Innenstadt, in der rund ein Zehntel der Brüsseler wohnt, von den Außenbezirken.
Jeder Schicht ein Stadtviertel
So deutlich wie kaum eine andere europäische Stadt hat Brüssel separierte Stadtviertel ausgebildet – separierte Viertel für Arme und Reiche, für EU-Beamte und belgisches Bürgertum, für Leute mit türkischem, marokkanischem, portugiesischem, zentralafrikanischem, polnischem Migrationshintergrund. Wer rund um die Innenstadt wandert, kriegt eine Stadt zu sehen, deren Teile kaum verschiedener sein könnten.
Drei Blocks weit läuft man von Maelbeek aus zwischen verspiegelten Glaspalästen, die Generaldirektionen der Europäischen Kommission beherbergen, milliardenschwere Wirtschaftsverbände, belgische Ministerien, flämische Ministerien, Ministerien der französischen Sprachgemeinschaft.
Kurz hinter der Chaussée de Wavre kommt man plötzlich in eine andere Welt. Buntbedruckte Stoffe treten an die Stelle der grauen Anzüge und Dressed-for-success-Kostümchen, man spricht Lingala und Kikongo anstelle des Broken English, das seit der EU-Erweiterung 2004 das Französische als Verkehrssprache der EU-Bürokraten abgelöst hat. Matongé heißt der Stadtteil, der in einem Akt umgekehrten Kolonialismus seinen Namen von einem Ausgehviertel der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa erhalten hat.
Die meisten Brüsseler afrikanischer Herkunft sind recht bürgerlich, kaum einer will heute mehr in diesem Viertel leben, wo bis spät nachts Leben herrscht und die Kinder auch mit den Härten der Realität konfrontiert werden. Matongé bleibt aber ein Kristallisationspunkt des kongolesischen Exils. Seit Präsident Kabila erkennen lässt, dass er wohl nicht verfassungsgemäß am Ende seiner dritten Amtszeit im Dezember zurücktreten will, finden in Matongé und vor der kongolesischen Botschaft im Europaviertel wieder Demonstrationen statt, gegen die die Polizei mit erheblich größerer Brutalität vorgeht als gegen andere Kundgebungen.
Jenseits der Chaussée d’Ixelles wird das Viertel dann immer großbürgerlicher, man nähert sich der Avenue Louise. Einst war sie die Prachtstraße der Hauptstadt, so wichtig, dass sie, obwohl sie durchgehend außerhalb des Fünfecks liegt, der Kommune Brüssel eingemeindet wurde. Reiseführer schwärmen von dem Luxus und den Edelboutiquen, die es hier geben soll. Tatsächlich aber haben sie längst den überall gleichen Franchise-Läden Platz gemacht, die in hohen Stückzahlen in Fernost produzierte Mode für die Massen verkaufen und so wohl besser die exorbitanten Pachten an Brüssels erster Adresse bezahlen können. Wenn man die Verkäuferinnen fragt, hört man überall dasselbe. »30 Prozent Umsatzeinbuße nach den Attentaten. Am Anfang war es noch mehr, aber auf dem Niveau bleibt es jetzt. Und in unserer Filiale in der Innenstadt ist es noch schlimmer«, sagt die Verkäuferin in einem Seifenladen. »Zum Glück haben wir hier viele Kunden aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und aus Kuwait, denen scheint das nicht so viel auszumachen.«
Der Kioskbesitzer an der Ecke beklagt, dass er vor allem deutlich weniger ausländische Zeitungen verkaufe: »Die Touristen schauen sich nur noch die Highlights in der Innenstadt an, hier kommt kaum mehr einer hin. Ist ja auch kein Wunder, schauen sie nur, ständig sind hier Soldaten unterwegs! Für den Umsatz ist das Gift.«
Die Avenue Louise verkraftet den Verkehr nicht, obwohl 15 Meter unter ihr einer der vier Tunnel verläuft, die das Verkehrschaos der Brüsseler Innenstadt mit ständig neuem Nachschub füttern. Brüsseler schwanken zwischen Fatalismus und Stolz, wenn die Rede wieder einmal darauf kommt, dass ihre Stadt im weltweiten Vergleich diejenige ist, deren Bewohner die meiste Zeit im Stau verbringen – auf dem zweiten Rang liegt Brüssels ständige Rivalin, die flämische Hafenstadt Antwerpen. Selten bleibt dann unerwähnt, dass, als der Louise-Tunnel kürzlich wegen akuter Baufälligkeit geschlossen werden musste, die Pläne für die Renovierung leider nicht mehr zu finden waren, weil die Verkehrsverwaltung der Region Brüssel sie aus Platzmangel im Pfeiler eines kurz zuvor abgerissenen Viadukts gelagert hatte. Brüssel eben.
Hat man die Avenue Louise überquert, dann geht es links in die ausgedehnten Wohnviertel der besserverdienenden Gesellschaftsschicht, rechts aber bergab: Man kommt in die Unterstadt, in die tiefer gelegenen Stadtteile, die einst an dem Flüsschen Senne lagen – bis man das nach Gerbereiabwässern und Fäkalien stinkende Gewässer im 19. Jahrhundert in einem unterirdischen Kanal verschwinden ließ.
Zur gleichen Zeit wurden auch die hohen, alten Mietshäuser rund um den Parvis de St. Gilles gebaut. Paris war das Vorbild, was dem Viertel bis heute weltstädtisches Flair verleiht. Hier ist die beliebteste Wohngegend für Hipster und Künstlerinnen, und solange die Mieten, trotz Steigerungen weit über 100 Prozent während der vergangenen 15 Jahre, noch einigermaßen bezahlbar bleiben, werden sich auch die Portugiesen, Polen, Griechen und Lateinamerikaner noch hier halten können. Diejenigen, die schon etwas länger da sind, sind ohnehin oft Eigentümer ihrer Wohnungen: Bis in die späten neunziger Jahre war der Wohnungskauf in Brüssel so billig, dass selbst Leute ohne festes Einkommen einen Kredit bekommen und innerhalb von zehn Jahren abbezahlen konnten. Mittlerweile bewegen sich die Preise auf gehobenem deutschem Großstadtniveau.
Beim Minztee ein Schwätzchen mit dem Barmann in der Maison du Peuple: »Mir sind die Pariser Anschläge letzten November ehrlich gesagt näher gegangen als die in Brüssel im März. Na gut, ich hatte Konzertkarten fürs Bataclan zwei Tage nach der Attacke dort. Aber es ist auch die Art des Anschlags: Aus dem Auto auszusteigen und die Leute abzuknallen, das könnte uns hier genauso treffen.«
Wir nähern uns jetzt der Gare du Midi, dem Südbahnhof, der Brüssel, dem TGV sei’s gedankt, mit der Welt verbindet. In einer Stunde und zwanzig Minuten ist man von hier aus in Paris, in weniger als drei Stunden in London, in fünf Stunden in Marseille. Die Tatsache, dass es für Pariser ab einem bestimmten Einkommen ökonomisch sinnvoll wird, in Brüssel einen geräumigen Altbau zu bewohnen und bei Bedarf in die französische Hauptstadt zu pendeln, hat den Druck auf die Brüsseler Wohnungspreise weiter erhöht und das ohnehin schon gespannte Verhältnis vieler Brüsseler zu Franzosen im Allgemeinen und Parisern im Besonderen nicht einfacher gemacht.
Die unmittelbare Umgebung des Bahnhofs ist ein raues Pflaster. Viele Obdachlose haben hier ihre notdürftigen Schlafplätze aus Karton und Wolldecken. Der Dispatcher der Brüsseler Verkehrsbetriebe, der in der Unterführung unter den Bahngleisen die Straßenbahnen einweist, findet trotzdem, die Stimmung sei entspannter denn je: »Klar waren die Leute während der ersten zwei Wochen nach den Anschlägen ängstlicher. Das hat sich allerdings schnell gelegt. Jetzt würden Sie keinen Unterschied mehr bemerken zur Situation vor den Anschlägen. Das einzige, was hier die Stimmung aufheizt, sind die Soldaten, die ständig unterwegs sind. Das bringt, finde ich, überhaupt nichts.«
Der Kanal: Eine innere Grenze zwischen Arm und Reich
Die Gegend um den Südbahnhof ist eines der Zentren der muslimischen Bevölkerung Brüssels. Jeden Sonntag findet hier ein großer Markt statt, auf dem billig Obst und Gemüse, Fleisch und Fisch, Käse und Oliven verkauft werden. Auch der Wohnraum ist günstig in der Gegend; sie hat auch unter Leuten mit marokkanischem und kongolesischem Hintergrund nicht den besten Ruf. Anderlecht heißt die Gemeinde, doch das Stadion des berühmten Fußballclubs ist weit weg, in einem besser situierten Viertel. Hier, südlich der Innenstadt, spürt man die Armut der meisten Bewohner schon längst, bevor man westwärts wandernd den Kanal erreicht, der als die Trennlinie zwischen dem wohlsituierten und dem angeblich gescheiterten Brüssel gilt. Die Schifffahrtsstraße verbindet die einstige Industriemetropole Charleroi im wallonischen Kohlebecken mit dem Hafen von Antwerpen, sie durchzieht die Gegend von Nord nach Süd. Kein schöner Kanal ist das, graues Wasser liegt tief in der Betonrinne; Schiffe sieht man heute kaum mehr, weil in Charleroi längst die Hochöfen ausgegangen sind. Dennoch steht die Kanalgegend in letzter Zeit im Zentrum der Immobilienspekulation; in der Nähe des Kanals steigen die Preise schneller als anderswo.
Am deutlichsten spürbar ist das in Molenbeek, dem Stadtteil, der auf der anderen Seite des Kanals anfängt, dort wo er im Südwesten auf die Innenstadt trifft. Seit kurz nach den Anschlägen in Paris am 13. November 2015 bekannt wurde, dass die Täter ihre Organisation großenteils in Molenbeek aufgebaut hatten, zum Teil auch von dort stammten und danach wieder dorthin flohen, hat ist die Gemeinde die berühmteste von Brüssel.
Dabei ist Molenbeek äußerst divers. Manche Wohnviertel wirken idyllisch und ruhig, während sich in den Geschäftsvierteln die Leute drängen. Von den knapp 100 000 Einwohnern auf weniger als sechs Quadratkilometern stammt die Hälfte aus Marokko, 40 Prozent geben als Religion »muslimisch« an. Unter dem Einfluss wahhabitischer Imame, die aufgrund eines aus der Zeit der Ölkrise stammenden Abkommens zwischen dem belgischen Staat und Saudi-Arabien die Brüsseler Moscheen dominieren, radikalisieren sich einzelne Gruppen, seit einigen Jahren kommen, wie in Antwerpen und in Brüssels nördlichem Vorort Vilvoorde, IS-Rekruteure dazu, die Freiwillige für den Krieg in Syrien und für den Terror in Europa anwerben. Der größte Teil der Molenbeeker Marokkaner ist allerdings kabylischen Ursprungs und sieht die islamistischen Aktivitäten mehr als kritisch, zumal Menschen mit nordafrikanischem Aussehen deshalb immer häufiger willkürlichen Polizeiaktionen ausgesetzt sind und unter Generalverdacht stehen. So gelingt es den Islamisten, die Spaltung zwischen der Bevölkerung europäischen Ursprungs einerseits und den Einwanderern aus muslimischen Ländern andererseits immer weiter zu vertiefen und den Konflikt zuzuspitzen – ein Ziel, das sie mit Rechtsextremen wie der in der belgischen Regierung federführenden Neuflämischen Allianz (N-VA) teilen.
Unmittelbar nach den Anschlägen erlebten die Molenbeeker erstmals, was es heißt, im Mittelpunkt des Weltinteresses zu stehen. Der Rathausplatz der Gemeinde war kaum mehr passierbar, wer dort vorbeikam, wurde buchstäblich vor die Kameras gezerrt und zu seiner Meinung nach dem Geschehen befragt. Seitdem bleibt die Stimmung im Viertel angespannt. Auf dem Rathausplatz wurde zum Wochenende eine Hüpfburg aufgebaut, es bildet sich eine lange Schlange von Kindern, die zum Hopsen anstehen. »Ist es nicht wunderbar«, lacht eine Frau mit Kopftuch, »endlich ist hier mal was Positives los. Wir sollten das öfter machen!«
Die Statistik der vergangenen zehn Jahre zeigt, dass sich die Einkommensverteilung in Molenbeek immer weiter spreizt – zwei Bevölkerungsgruppen wachsen schneller als alle anderen: die Reichsten und die Ärmsten. Die Lebenshaltungskosten steigen und die Bewohner der aufstrebenden Kanalzone sind immer häufiger gezwungen, in billigere Wohnviertel umzuziehen. Die gibt es allerdings kaum noch. Die Einwohnerzahl Molenbeeks ist schon innerhalb der vergangenen zehn Jahre um 25 Prozent angewachsen, Wohnraum wird knapp und an der Gemeindegrenze fängt flämisches Hoheitsgebiet an, was bedeutet, dass dort keine Siedlungen gebaut werden, und schon gar nicht für die verhassten muslimischen Zuwanderer.
Seit Januar 2015 ist die Selbstverwaltung in der Gemeinde teilweise aufgehoben – nicht wegen der Anschläge, sondern auf eigenen Antrag der Bürgermeisterin, einer Liberalen, und weil die Gemeinde so gut wie pleite ist. Die Finanzen werden jetzt von der Brüsseler Regionalregierung verwaltet. Kaum jemand in Molenbeek glaubt daran, dass dadurch die Probleme der Gemeinde gelöst werden können, dass sich die tiefgreifenden Unterschiede zwischen den beiden Ortsteilen, deren Name »Mühlbach« bedeutet, zwischen der Welt von Maelbeek und der von Molenbeek verkleinern werden.