Auf dem Teppich bleiben

In der Schule, die ich besucht habe, als ich noch eine kleine, niedliche Schülerin war, die noch nicht wusste, dass sie zu einer großen, bösen Lehrerin heranwachsen würde, gab es auch so eine Ecke: Ganz unten, unter der allerletzten Treppe hinter ausrangierten Stühlen und Tischen und Kisten voll mit langweiligen alten Schülerprodukten und interessanten neuen Personalakten gab es diese Nische, in der es sehr seltsam roch, die aber dafür von oben nicht einsehbar war und an der nie jemand vorbeikam, so dass man dort entspannt sitzen und lästern oder rauchen oder kiffen und sich sehr geheimnisvoll und verworfen fühlen konnte. Genau so eine Ecke gibt es auch in der Schule, die mich inzwischen fürs große, böse Lehrer­insein bezahlt – nur ist sie ganz oben im Gebäude, vor der Tür zum Dachboden. Auch hier stehen ausrangierte Stühle und Tische herum, auch hier ist Müll auf dem Boden verstreut und auch hier kommen nur ausgesprochen selten Aufsichtspersonen vorbei.
Geraucht oder gekifft wird wohl trotzdem nicht, die zwischen den Tischen versteckten Teppiche und Tücher deuten darauf hin, dass der hier aktive Teil unserer Schülerschaft ein anderes Hobby pflegt, das im Lehrkörper allerdings nicht weniger umstritten ist als das Rauchen und Kiffen ehedem. Manchmal werden die Teppiche und Tücher eingezogen und ich weiß nicht, was dann mit ihnen passiert. Wenn die Welt nicht ein endloses Chaos ist und wenigstens einige Details im Ablauf der Dinge immer gleich bleiben und sich also nicht geändert haben, seit unsere Joints von damals noch jungen Altachtundsechzigern konfisziert wurden, dann nehmen die Kolleginnen die Teppiche natürlich einfach heimlich mit nach Hause, um sie dort selbst ordentlich zu bebeten. In jedem Fall stört der autoritäre Eingriff die religiöse Entfaltung der Jugendlichen nur wenig, das Dachgeschoss der Schule ist nämlich fruchtbar und wird regelmäßig mit Teenagertrotz gedüngt, so dass es höchstens zwei Wochen dauert, bis dort neue und prächtigere Teppiche und Tücher gewachsen sind, zur großen Verärgerung jener Lehrkräfte, in deren Wohnungen kaum noch Platz ist für GEW-Zeitschriften, Outdoorklamotten und Ausstellungskataloge, weil schon alles voll ist mit Schülergebetsteppichen. Übrigens habe ich, obwohl ich aus reiner kranker Lehrerinnenneugier seit inzwischen drei Wochen in jeder einzelnen Pause heimlich, still und leise das Dachgeschoss kontrolliere, immer nur Teppiche gefunden und nie betende Jugendliche. Ich glaube ja, dass die Delinquenten sich, wann immer sie erfolgreich einen neuen Teppich installiert haben, unverzüglich zu diesem einen Gebüsch auf dem Schulhof begeben und dort ihren Erfolg feiern, indem sie sich so richtig zulöten. Weil, wahrscheinlich ist sie das doch, die Welt meine ich, ein endloses Chaos.