Eine Reportage aus Gaziantep an der türkisch-syrischen Grenze

Neue Chance in Gaziantep

Keine andere türkische Stadt beherbergt so viele syrische Flüchtlinge wie die Grenzstadt Gaziantep. Meist verläuft das Zusammenleben mit der türkischen Bevölkerung dort friedlich, auch wenn die Konflikte andernorts zunehmen. Der Politik der Regierungspartei AKP stehen viele der syrischen Flüchtlinge wohlgesinnt gegenüber.

Omar* lauscht in Gaziantep andächtig den Brandreden des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Es ist Ende August, eine Woche zuvor, am 21. August, hatte ein jugendlicher Selbstmordattentäter sich just in dem Moment in die Luft gesprengt, in dem sich eine kurdische Hochzeitsgesellschaft auf die Straße begab, um das frisch vermählte Liebespaar zu feiern. Mehr als 50 Personen starben an Ort und Stelle, die überwiegende Anzahl der Opfer waren Augenzeugen zufolge Unterstützer der linken, prokurdischen Partei HDP. Bereits wenige Tage nach dem verheerenden Anschlag finden sich in den Einkaufsstraßen Gazianteps Plakate, auf denen die Unzerstörbarkeit der türkischen Einheit bekundet wird: »Wir sind ein Volk, wir überlassen die Türkei weder dem Putsch noch dem Terror.«
Nun steht Erdoğan in Gaziantep am Demokrasi Meydanı und spricht zu den Angehörigen der Verstorbenen. Seine Sätze, die zwischen Mitleidsbekundung und Vergeltungsankündigung oszillieren, werden durch nationalistisches Gebrüll und stolzes Fahnenschwenken seiner Anhänger untermalt. Unter den lebhaften Zuhörern befinden sich jedoch nicht nur treue AKP-Wähler. Omar ist ein 26 Jahre alter Flüchtling aus Syrien. Auf die Frage, ob sein Applaus als Zustimmung zu verstehen sei, gibt er keine eindeutige Antwort. Er sei hier nur Gast, er hätte hier nichts mitzubestimmen. Jedoch, so sagt er abschließend, wolle er sich dankbar zeigen für all die Chancen, die er in diesem Land bekommen habe.
Mit dieser Ansicht ist er nicht allein. Seit Beginn des syrischen Aufstands entwickelte sich die knapp 100 Kilometer von Aleppo entfernte Grenzstadt Gaziantep im Süden der Türkei zu einem wichtigen Bezugspunkt des syrischen Konflikts. Nach offiziellen Angaben leben derzeit mehr als 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei. In keiner anderen türkischen Stadt sind es so viele wie in der Region von Gaziantep, rund 500 000 Menschen. Die durch die Regierungspartei AKP betriebene Laissez faire-Politik an der syrischen Grenze ist einer der Gründe dafür. Jedoch sind es nicht nur syrische Flüchtlinge, die es in die türkische Grenzregion verschlägt. Die Stadt habe sich längst schon zum »Zentrum der unvollendeten Geschäfte des syrischen Bürgerkriegs« entwickelt, konstatierte jüngst der Nahost-Experte Jonathan Spyer. In Gaziantep geben sich Geheimdienstagenten, Sympathisanten des »Islamischen Staats«, Mitarbeiter internationaler NGOs sowie syrische Flüchtlinge die Klinke in die Hand.
Die İnönü Mahallesi spiegelt wie keine andere Straße in Gaziantep die Auswirkungen des syrischen Konflikts auf die türkische Gesellschaft wieder. Hier spielt sich ein Großteil des Alltags der syrischen Gemeinde ab, die es wegen des Kriegs nach Gaziantep verschlagen hat. War diese Straße bis 2011 vor allem durch leerstehende Geschäfte und heruntergekommene Fassaden geprägt, ist sie nun für die in die Türkei geflohenen Syrerinnen und Syrer eine Erinnerung an ihr Herkunftsland. Der 24jährige Youssef hat exakt in dieser Straße vor drei Jahren den Entschluss gefasst, ein neues Leben zu beginnen. Er war nur knapp einem Luftangriff des in Syrien herrschenden Regimes von Bashar al-Assad entkommen. Ohne die Hilfe von Schmugglern hätte er es niemals über die türkisch-syrische Grenze bis Gaziantep geschafft. Ursprünglich stammt er aus Aleppo – einst eine blühende Touristenmetropole, heute ein von Terror und Zerstörung verwüsteter Ort.
In einem Dorf nahe der einst 70 000 Einwohner zählenden Stadt Azaz leben auch heute noch Youssefs Verwandte. Sein Vater habe ihn mit dem Auftrag nach Gaziantep geschickt, Geld zu verdienen, um seine Familie zu unterstützen, erzählt er. Da er aus einer turkmenischen Familie stammt, in der gebrochenes Türkisch gesprochen wurde, fiel ihm die Integration in die türkische Gesellschaft von Beginn an relativ leicht. In Azaz hatte seine Familie mehrere Schneidereien besessen, in denen Youssef seit seiner Kindheit mitarbeitete. Mittlerweile ist er stolzer Besitzer dreier Geschäfte in der İnönü Mahallesi. Seine Kunden sind überwiegend syrische Familien, die es bevorzugen, sich während des Einkaufs in ihrer Muttersprache zu unterhalten. Doch er begrüßt auch einige türkische Kunden in seinen Geschäften. Während kurdische Oppositionelle wegen der staatlichen Repression und dem Terror in Todesangst leben, hat Youssef in der Türkei bisher keinerlei Anfeindungen erleben müssen.
Die vor Krieg und Terror geflohenen Syrerinnen und Syrer machen in einigen Städten und Provinzen mittlerweile einen beträchtlichen Anteil der Bevölkerung aus. Neben Gaziantep sind dies vor allem Hatay, Kilis, Şanlıurfa und Mardin, auf die sich der Großteil der Geflohenen aufteilt. Dass es weitgehend konfliktfrei zwischen einheimischer Bevölkerung und Schutzsuchenden zugeht, wie in Gaziantep, ist jedoch eher die Ausnahme als die Regel.
Während in Europa der Verlust der parlamentarischen Mehrheit der AKP bei den Wahlen im vorigen Jahr überwiegend positiv zur Kenntnis genommen wurde, war dies für Youssef und seine in Gaziantep residierenden Angehörigen schockierend. Der Stimmenzuwachs für die ultranationalistische Partei MHP, der vor allem in südlichen Städten wie Gaziantep zu verzeichnen war, habe ihm stechende Kopfschmerzen bereitet, so Youssef. »500 000 Syrer werden gehen und 500 000 Touristen werden nach Gaziantep kommen«, hatte der frisch ins Parlament eingezogene Abgeordnete der MHP, Ümit Özdağ, noch am Abend der Wahl damals angekündigt. Zudem versprach der Vorsitzende der kemalistischen Partei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, bei einer Wahlkampfveranstaltung in der traditionellen CHP-Hochburg Mersin, dass er im Falle eines Wahlsiegs alle Syrer, die in der Türkei Zuflucht gefunden haben, in ihr Herkunftsland zurückschicken werde. Zur gleichen Zeit stattete Kılıçdaroğlu Bashar al-Assad höchstpersönlich mehrere Besuch ab und bekundete seine Solidarität mit dem »Widerstand des syrischen Volkes gegen den Imperialismus«.
In Regionen wie Hatay kommt es immer öfter zu Übergriffen und Attentaten auf syrische Flüchtlinge. Die Bevölkerung der südlichen Provinz ist durch einen überdurchschnittlich hohen Anteil an türkischen Aleviten geprägt, die traditionell der CHP nahestehen. Seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs und dem damit verbundenen Zuzug syrischer Flüchtlinge in die Türkei konnte die CHP in diesen Gebieten einen immer größeren Stimmenzuwachs verzeichnen. Während AKP-Politiker syrische Flüchtlinge regelmäßig als willkommene Gäste bezeichnen, warf Kılıçdaroğlu Erdoğan jüngst vor, ein »Vaterlandsverräter« zu sein, der die Absicht habe, das »türkische Volk« durch das syrische auszutauschen. Freilich verfehlen diese Wortmeldungen politischer Würdenträger nicht ihre Wirkung auf den Straßen Hatays. In Gaziantep merkt man davon bisher wenig. Zwar gab es in der Vergangenheit immer wieder kleinere Auseinandersetzungen, doch blieben größere Zusammenstöße zwischen Einheimischen und Geflohenen bisher auf andere Städte beschränkt. Fraglich ist nur, wie lange das noch so weitergehen wird. Denn mit dem permanenten Verbleib der Schutzsuchenden und der faktischen Unmöglichkeit, in die syrische Hölle zurückzukehren, kündigen sich bereits neue gesellschaftliche Konflikte an.
Seit die türkische Regierung im April 2013 mit dem Gesetz über »Ausländer und internationalen Schutz« eine einheitliche Rechtsgrundlage für syrische Flüchtlinge geschaffen hat, gelten für sie grundlegende Asylrechte. Dazu gehören der freie Zugang zu Krankenversicherung, legaler Aufenthalt und der Schutz vor Ausweisung. Wenngleich die türkische Regierung bisher nicht explizit angekündigt hat, drei Millionen syrischen Flüchtlingen die Staatsbürgerschaft zu verleihen, so geschah dies seit 2011 zumindest in einzelnen Fällen. Das türkische Rechtssystem hält drei Wege zur Staatsbürgerschaft bereit: Artikel 8 des türkischen Staatsbürgerschaftsrechts legitimiert die Verleihung der Staatsbürgerschaft auf Basis des ius sanguinis, des Abstammungsprinzips. Artikel 11 gewährt die Möglichkeit der Verleihung der Staatsbürgerschaft nach fünf Jahren ununterbrochenem legalem Aufenthalt im Land. Artikel 16 ermöglicht die Einbürgerung nach drei Jahren Ehe mit einem türkischen Staatsbürger, was zwischen 2008 und 2013 mehr als 2 500 Syrerinnen und Syrer in Anspruch genommen haben. Auf der Grundlage des Artikels 11 könnten zudem bis zum Ende dieses Jahres mehr als 8 000 Syrerinnen und Syrer einen Antrag auf Verleihung der Staatsbürgerschaft stellen. Ab Ende 2018 stünde diese Option für insgesamt mehr als eine halbe Million Syrer offen.
Youssef wäre einer von ihnen. Vor zwei Tagen wurde seine erste Tochter geboren. Er ist stolz und glücklich zugleich, dass sie nicht in Azaz, sondern in Gaziantep aufwachsen wird. Aus diesem Grund hat er ihr einen ganz besonderen Namen gegeben: »Emine« – benannt nach der Frau Recep Tayyip Erdoğans.
* Name geändert