Auch du, meine Tochter
Es waren wundersame Worte. Am 4. Mai stellte Jean-Marie Le Pen in einer Erklärung vor Parteifunktionären des von ihm gegründeten Front National (FN) eine Frage, die er vier Tage später auf seiner Website öffentlich machte: »Sind wir zur ersten antifaschistischen und antirassistischen Partei Frankreichs geworden?« Die Frage war selbstverständlich rhetorisch. Für Le Pen wäre eine positive Antwort auf sie eine grauenhafte Vorstellung, ein purer Albtraum. Er fügte sogleich hinzu: »Überlassen wir dieses traurige Gerassel unseren Feinden und seien wir stolz darauf, die Partei der französischen Patrioten und der Parias mit der Trikolorefahne zu sein.«
Le Pens Häme zielte auf jene innerparteilichen Kritiker, die ihm wegen zweier im vergangenen Monat gegebener Interviews parteischädigendes Verhalten vorgeworfen hatten. Am 2. April hatte er dem bürgerlichen Privatfernsehsender BFM-TV ein Gespräch gewährt, genau eine Woche später erschien ein Interview in der altfaschistischen und antisemitischen Zeitung Rivarol. In beiden Fällen nahm der von 1972 bis 2011 als Vorsitzender amtierende Parteipatriarch kein Blatt vor den Mund. Im ersten Interview bekannte er sich zu seinen seit September 1987 mehrfach getätigten Aussagen über die Gaskammern, die einer leicht abgeschwächten Version der »Auschwitz-Lüge« gleichkommen. Im zweiten äußerte er sich unter anderem über Marschall Philippe Pétain, den Staatschef des mit NS-Deutschland kollaborierenden französischen Vichy-Regimes im Zweiten Weltkrieg, mit den Worten, er habe den Mann »nie als Verräter betrachtet« (Jungle World 16/2015).
Daraufhin reagierte seine Tochter Marine Le Pen, die im Januar 2011 den Parteivorsitz von ihm übernommen hatte, auf heftige Weise. Ihr und ihrer Umgebung liegt aus strategischen Gründen viel daran, keinesfalls den Verdacht einer Geistesverwandschaft mit dem Nazismus und dem historischen Faschismus aufkommen zu lassen. Für die derzeitige Führungsriege ist die Schlacht um eine Rehabilitierung dieser historischen Ideologien und Regimes bereits geschlagen und verloren, die Partei soll sich deshalb lieber auf »Zukunftsfragen« konzentrieren.
Marine Le Pens Lebensgefährte Louis Aliot, der stellvertretender Vorsitzender des FN ist, sagte dazu unter anderem: »Unsere Diabolisierung hängt ausschließlich am uns unterstellten Antisemitismus. Diesen Riegel müssen wir aufsprengen.« Dann könne die Partei nicht auf Dauer von politischem Einfluss und Machtteilhabe ferngehalten werden. Außer einem offenen Bekenntnis zum historischen Faschismus und zum Antisemitismus kann die Partei sich aus Sicht ihrer Führung hingegen alles erlauben – sei es Ethnonationalismus, Rassismus oder dick aufgetragene soziale Demagogie.
Jean-Marie Le Pen selbst hatte wohl nicht mit dem weiteren Verlauf der Auseinandersetzung gerechnet: Am Abend des 4. Mai entschied der engere Vorstand des FN, den Altvorsitzenden mit dem Aussetzen der Parteimitgliedschaft zu bestrafen. Dies kommt einem vorläufigen Ausschluss gleich, der in einen endgültigen Ausschluss umgewandelt oder aber nach einiger Zeit beendet werden kann.
Seinerseits kündigte Jean-Marie Le Pen an, er werde eine »eigene, neue Formation« gründen, die aber seinen Worten zufolge nicht mit dem FN in Konkurrenz treten, sondern ihn gewissermaßen ergänzen soll. Er verfüge bereits über »Hunderte, ja Tausende von Interessenten«, verkündete er. Scharfe Angriffe richtete er dabei nicht so sehr gegen seine Tochter Marine, die er lediglich als schlecht beraten und unter negativem Einfluss stehend darstellte, sondern gegen den stellvertretenden Vorsitzenden Florian Philippot.
Der Gründer des FN hat das erklärte Ziel, den Einfluss des eher nationalkonservativ und technokratisch auftretenden 33jährigen auf die Partei zu begrenzen. Philippot, der sich vordergründig zum Gaullismus bekennt, steht allerdings auch für eine Politik, die stark auf soziale Demagogie setzt. Jean-Marie Le Pen attackiert ihn besonders heftig wegen seiner mittlerweile auch öffentlich bekannten Homosexualität. So sprach Le Pen unter anderem von »Philippot und seinen Hübschen«, die »in der Meute jagend« auftreten würden. Am 13. Mai warf er Philippot im Sender BFM-TV sogar »Heterophobie« vor.
Der seit 2011 unter Marine Le Pen und Florian Philippot verstärkt erfolgende Rückgriff auf soziale Demagogie, die stellenweise mit keynesianisch klingenden Phrasen unterlegt wird und vor allem auf der Vorstellung eines Nationalprotektionismus beruht, ist indes Gegenstand heftiger Debatten in der gesamten Partei. In seinen umstrittenen Interviews stellte Jean-Marie Le Pen diese sozial- und wirtschaftspolitische Orientierung in Frage. Auch andere Protagonisten in der Partei äußern Kritik, etwa die Abgeordnete Marion Maréchal-Le Pen, eine Enkelin des Parteigründers. Sie treten seit Monaten dafür ein, dass auch Unternehmerinteressen, vor allem solche aus mittleren Betrieben, wieder stärker Beachtung in der extremen Rechten finden.
Inzwischen scheinen etliche Zirkel des FN offen von der sozialdemagogischen Politik abzurücken. Der Generalsekretär Nicolas Bay sagte beispielsweise am 18. Mai: »Wir haben niemals die Rente ab 60 verteidigt.« In Wirklichkeit hatte Marine Le Pen dies tatsächlich kurzzeitig getan. Nachdem zwischen Mai und November 2010 Gewerkschaften und eine starke soziale Bewegung – wenn auch vergeblich – gegen die damalige Rentenreform protestiert hatten, verordnete Marine Le Pen ihrer Partei eine Anpassung der offiziellen Programmatik.
Bis dahin war der FN für eine Anhebung des Rentenalters auf mindestens 65 sowie für eine teilweise Privatisierung der Rentenkassen eingetreten. Ab dem Herbst 2010 erfolgte plötzlich ein deutlicher Wandel zugunsten eines Erhalts der vorher möglichen Rente ab 60, was damals populär zu sein schien. Die Forderung nach der Rente mit 60 stand dann auch im Wahlprogramm für 2012. Der Parteiapparat rückt nunmehr jedoch offen davon ab. Auch Marine Le Pen selbst relativierte dieser Tage ihre früheren Aussagen. Sie forderte, der französische Staat solle erst einmal alle unnötigen Ausgaben einsparen, insbesondere bei den »Kosten der Einwanderung«. Wenn dies erfolgt sei, werde man versuchen, das Rentenalter herabzusetzen, und sehen, ob es möglich sei.
So löst sich eines der sozialdemagogischen Versprechen der rechtsextremen Partei also in Luft auf. Dies war auch das Schicksal ähnlicher Punkte in ihrem Programm. Vor dem Wahlsieg von Syriza in Griechenland Ende Januar etwa betonte der FN lautstark, er sei solidarisch mit den Griechen und wünsche sich einen Wahlsieg der dortigen Linken, da diese eurokritisch seien. Frankreich und Griechenland seien gleichermaßen Opfer des Molochs EU, hieß es.
Nachdem jedoch Alexis Tsipras gewählt worden war, fiel die erste Reaktion des FN auf dessen Forderungen in der Diskussion über die griechischen Schulden ganz anders aus. Eine Streichung oder Aussetzung der griechischen Schuldenzahlungen komme überhaupt nicht in Frage, dies wäre »unverantwortlich«, so die rechtsextreme Partei. So offenbaren sich die meisten vorgeblich sozialen Positionen des FN letztlich als heiße Luft.