70 Jahre Kriegsende in Nordhausen

Die Hölle des Gedenkens

Im thüringischen Nordhausen hat die Öffentlichkeit der Bombardierung der Stadt vor 70 Jahren gedacht. Das Gedenken daran und an die Befreiung des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora, das am Stadtrand liegt, hat eine ganz eigene Note.

Schweigeminuten, Gedenkreden, Zeitzeugenberichte, Schülerrundgänge, die Erschaffung eines »gemeinsamen Kunstwerkes«, die Eröffnung einer Sonderausstellung zur »Zerstörung der Stadt Nordhausen«, vom »ehrenhaften Gedenken« ungefähr 40 militant auftretender Neonazis ganz zu schweigen – zum 70. Jahrestag der Bombardierung der thüringischen Stadt Anfang April kulminierten die spektakulären und volksfestlichen Züge der örtlichen Gedenkkultur. Deren innere Widersprüche traten dabei deutlich zutage.

Zur Eröffnung der Sonderausstellung im stadthistorischen Museum »Flohburg« erläuterte die Museumsmitarbeiterin Cornelia Wulf: »Nicht Fakten, sondern Erinnerungen stehen im Mittelpunkt unserer Ausstellung.« Solche Aussagen kommen dem Bedürfnis der Nordhäuser Bürger sehr entgegen, sich selbst und den eigenen Wohnort nachträglich zum Opfer zu erklären – obwohl die historische Faktenlage das eigentlich nicht zulässt. Am Stadtrand von Nordhausen liegt das ehemalige Konzentrationslager Mittelbau-Dora, das am 11. April, also kurz nach der Bombardierung, befreit wurde. Die Zivilbevölkerung der Stadt war auf vielfältige Weise am Geschehen in dem Lagerkomplex beteiligt und unterstützte die Todesmärsche teilweise mit gezieltem Einsatz. Die historische Bedeutung der Region, die spätestens mit der Errichtung des Lagerkomplexes zum Ballungszentrum der Rüstungsindustrie in der geographischen Mitte Deutschlands ausgebaut wurde, wird im Gedenkzirkus gänzlich außer Acht gelassen. Verschwiegen wird auch, dass die Stadt Nordhausen sich im Zuge des wahnhaften »totalen Krieges« und der einhergehenden Aufrüstung der Heimatfront zur »Festung« ausrief und der »Volkssturm« noch Anfang April zur Verteidigung gegen die herannahenden Truppen der US-Armee an verschiedenen Stellen in der Stadt Gräben aushob.
Das zwanghafte Verdrängen der KZ-Geschichte geht mit der Dekontextualisierung und Dramatisierung des Bombardements einher. Die Stadtoberen erwähnen die im Konzentrationslager Ermordeten meist nur, wenn es um die Luftangriffe geht. Die versehentliche Bombardierung der »Boelcke-Kaserne«, jenes in der Endphase des Krieges als Sterbelager eingerichteten Außenlagers des KZ Mittelbau, wird weiterhin in revanchistischer und relativierender Manier den Alliierten als Kriegsschuld angelastet. Der Historiker Jens-Christian Wagner bezeichnet die »Boelcke-Kaserne« als »Mikrokosmos des nationalsozialistischen Lagersystems«. Sie wurde von deutscher Seite nicht mit einem roten Kreuz markiert, wie der Historiker Martin Clemens Winter herausgearbeitet hat, und konnte so erst zum Angriffsziel der Royal Air Force werden. Doch die Forschung von Historikern findet in Nordhausen ohnehin wenig Beachtung. »Noch mehr Bomben fielen am 4. April 1945 von 9.08 bis 9.24 Uhr auf die Stadt und die Boelcke-Kaserne«, schreibt das Online-Portal »Mein Anzeiger«, die »Bürger-Community für Nordhausen«. »Neben den mehr als 3 800 Sprengbomben wurden Brand- und Phosphorbomben sowie Phosphorbehälter abgeworfen.« Der Einsatz von Phosphorbomben in großer Zahl bei Angriffen auf deutsche Städte wurde von Historikern längst widerlegt. Dennoch wird in Nordhausen beharrlich an der Dramatisierung festgehalten, Phosphor klingt eben schön schrecklich.

Der von ehemaligen Häftlingen geprägte Begriff der »Hölle von Dora«, der die mörderischen Bedingungen des Lagerlebens, des Stollenvortriebs und des Produktionsstättenausbaus versinnbildlicht, hat offenbar die Redaktion der Thüringer Allgemeinen inspiriert. In ihrem Artikel »Die Hölle von Nordhausen« wird die Bombardierung akribisch nachgezeichnet. Selbstverständlich beginnt die »Hölle von Nordhausen« erst mit dem Flugstart der britischen Bomber am 3. April 1945 um 13 Uhr. In ähnlicher Weise ging die Stadtverwaltung vor. Anlässlich des Gedenkens an die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen hatte die Gedenkstätte Mittelbau-Dora in einer Nordhäuser Kirche eine Aufführung des »Requiems für einen polnischen Jungen« geplant, ein Werk des Heidelberger Komponisten Dietrich Lohff, das auf acht Gedichten von Opfern des Nationalsozialismus basiert. Die Stadtverwaltung fügte in einer Ankündigung der Angabe »anlässlich der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora« die Ergänzung »und des 70. Jahrestags der Zerstörung Nordhausens« hinzu.
Ähnliches Fingerspitzengefühl zeigt auch Oberbürgermeister Klaus Zeh (CDU), wenn es um die Opfer des Nationalsozialismus und ihre Nachkommen geht. Bereits während des Gedenkens zum 75. Jahrestag der Reichspogromnacht verwendete er unbedacht in Anwesenheit des damaligen Rabbiners der Jüdischen Landesgemeinde, Konstatin Pal, den euphemistischen Begriff »Reichskristallnacht«. Er wird zudem in Ansprachen zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus nicht müde, auch das Leid der Nordhäuser Stadtbevölkerung während der Bombardierung zu erwähnen. Kürzlich nutzte Zeh sogar in Anwesenheit ehemaliger Häftlinge des Konzentrationslagers gleich zwei Mal die Gelegenheit, die Bombardierung als »ebenfalls erlebten Schrecken« der Nordhäuser zu bezeichnen – am vorvergangenen Wochenende während einer sogenannten Bürgerbegegnung im Ratssaal der Stadt und zum gemeinsamen Abendessen am selben Tag in der Gedenkstätte.
Noah Klieger, in Strasbourg geborener und in Israel lebender ehemaliger Häftling des Vernichtungslagers Auschwitz, der während der Räumungstransporte in das KZ Mittelbau verschleppt wurde, erinnerte während der Bürgerbegegnung jedoch anders als Zeh und die Nordhäuser Bevölkerung an die Bombardierung: »Wir kamen aus dem Stollen: eines der schönsten Schauspiele, die wir je gesehen hatten. Nordhausen stand in Flammen! Wir haben alle gejubelt.«

Gebetsmühlenartig wiederholt hingegen Zeh in nahezu jeder Ansprache die Phrase, wonach »der Krieg, der von Deutschland in Gang gesetzt wurde, nach Deutschland zurückkehrte«. Das ist freilich die Erzählung der Täter. Der Krieg begann für diejenigen, die von den Nazis zu Feinden erklärt wurden, nicht erst mit dem Überfall auf Polen, sondern bereits mit dem »Vorkrieg« (Christa Wolf). Stigmatisierung, Arisierung, Verfolgung und Vernichtung lassen sich nicht auf das Kriegsgeschehen reduzieren, auch wenn dieses im deutschen Bombardierungsgedenken im Mittelpunkt steht. Die Fokussierung auf die vielbeschworenen Kriegsschrecken erfüllt durchaus eine Funktion: Nur in diesem Rahmen lässt sich überhaupt »deutsches Leid« ins Feld führen – in Konkurrenz zum Leid der verfolgten und vernichteten Juden.