Der Armutsbegriff soll überprüft werden

Wir nennen es Armut

Die Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD) hat eine Überprüfung des Armutsbegriffs angekündigt.

Die Armut in Deutschland ist nach Angaben des Paritätischen Wohlfahrtverbands auf einen historischen Höchststand seit der Wiedervereinigung gestiegen. Derzeit sind 15,5 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen, stellt er in seinem Armutsbericht fest. Bei Andrea Nahles (SPD) hat das für Unbehagen gesorgt, allerdings nicht, weil die sozialen Verhältnisse in die Zuständigkeit des von ihr geführten Arbeits- und Sozialministeriums fallen. Vielmehr störte sich die Ministerin an der Berechnungsmethode, die der Erfassung von Armut zugrunde liegt, und forderte eine neue Definition des Armutsbegriffs.
Die FAZ jubelte: »In Deutschland gibt es immer mehr Armut? Gegen diese Erzählung gibt es immer mehr Opposition. Jetzt stellt sich auch die Sozialministerin dagegen.« Man fragt sich irritiert, wo die FAZ auf diese »Erzählung« gestoßen sein kann, denn der Begriff der Armut ist aus dem Sprachgebrauch weitgehend verschwunden. In den vergangenen Jahren sind hierzulande zwar Tausende von Suppenküchen entstanden, aber von Armut spricht man trotzdem oder gerade deshalb schon lange nicht mehr. In statistischen Untersuchungen erforscht man nicht die Armut, sondern nur noch die Armutsgefährdung. Der offizielle Sprachgebrauch negiert die Existenz von Armut. Seit unter der ersten rot-grünen Bundesregierung die Hartz-Reformen verabschiedet wurden, die sich als gigantisches Verarmungsprogramm entpuppten, nennt man die Armen Prekariat oder Unterschicht. Auch der viel diskutierten Altersarmut fehlen die Protagonisten, wenn man ausschließlich von »arbeitenden Rentnern« spricht. Diese Begriffspolitik folgt auch dem Kalkül, eine politische Debatte um Armut zu verhindern.
Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte Nahles, man laufe Gefahr, »den Blick auf die wirklich Bedürftigen zu verlieren«, und nannte »illegale Einwanderer« und »jüngere Erwerbsgeminderte«. Das ist löblich, aber angesichts des armseligen Empfangs, der Asylbewerbern hierzulande bereitet wird, und der zügigen Abschiebung, die Illegalen droht, kann man leider nicht davon ausgehen, dass die Bundesregierung einen warmherzigen Blick auf sie wirft. Hellhörig muss auch das Adjektiv »wirklich« stimmen.
Eigentlich sollten einer Sozialministerin die Armutsdefinitionen vertraut sein. Der Begriff »absolute Armut« geht auf eine Bestimmung der Weltbank zurück. In Armut lebt danach, wer weniger als 1,25 US-Dollar am Tag zum Leben hat. »Relative Armut« hingegen setzt das Einkommen ins Verhältnis zur Umgebung. Der Begriff wird meist in Wohlstandsgesellschaften verwendet, zu denen auch die Bundesrepublik gehört. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat in dem Armutsbericht entsprechend dieser Bestimmung von relativer Armut gerechnet. Nahles sagt dazu: »Man hört oft Zahlen, wer wie viel besitzt und dass die Kluft zwischen Arm und Reich größer wird. Mir geht es aber um die Frage: Wie wirkt sich Reichtum in unserem Land im Alltag aus?« In ihrer Partei gilt Nahles als Vertreterin des linken Flügels. Nun möchte sie erforschen lassen, ob Vermögende Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen. Da genügt eigentlich schon ein Blick auf die Wahlbeteiligung. Seit der Einführung von Hartz IV hat die Wahlbeteiligung der Armen stetig abgenommen. Und weil das vor allem die SPD zu spüren bekommt, scheint es nur folgerichtig, dass sie sich nun den Vermögenden widmet.