Österreich und die »deutsche Weltanschauung«

Schlafwandlerische Sicherheit

Zwischenberichte aus der »Versuchsstation des Weltuntergangs«: Österreich und die »deutsche Weltanschauung«.

Die grundstürzende These, mit der der australische Historiker Christopher Clark in seinem Buch »Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog« die Schuldfrage für den Ersten Weltkrieg erledigt hat, stammt ursprünglich vom Kaiser Franz Joseph. In seinem Manifest »An Meine Völker!« vom Juli 1914, das nicht zufällig in der »Kaiserstadt« Bad Ischl verfasst wurde, bekundete er treuherzig, dass es sein »sehnlicher Wunsch« sei, seine »Völker vor den schweren Opfern und Lasten des Krieges zu bewahren«, jedoch »im Rate der Vorsehung ward es anders beschlossen«. Clark, der ihn wie die anderen Akteure als »Schlafwandler« darstellt, säkularisiert bloß die Vorsehung und spricht von der »Frucht« einer allen beteiligten Mächten »gemeinsamen politischen Kultur«.
Für Franz Joseph war damit das Nötige aus monarchischer Perspektive gesagt: Seine Majestät ist das Opfer der Vorsehung, ihr Untertanen aber habt euch zu opfern. Was dazu das deutsche Volk, also der Heerhaufen, hüben und drüben sagte, hat Karl Kraus nicht nur einfach akribisch gesammelt und in »Die letzten Tagen der Menschheit« mit verteilten Rollen zur Aufführung gebracht. Die ästhetische Form dafür zu finden, war ihm vielmehr nur möglich, weil er die Vorsehung an sich, als Denkform, säkularisiert oder nicht, denunzierte. Wenn am Ende dieses seines »Marstheater«-Stücks Gott selber spricht: »Ich habe es nicht gewollt«, so bedeutet das: Ihr habt es durchaus gewollt, als ihr euch in diese »Phrasen auf zwei Beinen« verwandelt habt, die ich euch hiermit präsentiere.

Angesichts der Nibelungentreue solcher Schlafwandler entwickelte sich Karl Kraus zum ersten Antideutschen. Ihm erschien es in diesem Krieg unlogisch, die Auslieferung der deutschen Artillerie zu verlangen: »Logisch wäre nur das Verlangen nach Auslieferung der deutschen Weltanschauung und dieses ist unerfüllbar.« Unerfüllbar, weil solche Weltanschauung Gravitationspunkt von Gesellschaft und Staat geworden ist; ihr Kern besteht in der Verschmelzung dessen, was eben nicht verschmolzen werden soll: »Ware und Wunder«. Politik habe die Sachen lediglich zu verwalten, dafür zu sorgen, dass die Waren reibungslos verteilt werden, aber sie habe keine Wunder daraus zu zeugen – so scheinbar das bürgerlich-rationale, an den angelsächsischen Demokratien gewonnene Verständnis von Kraus; sie dürfe »nur eine Methode« sein, »das Leben zu besorgen, damit wir zum Geist gelangen. Wir verabscheuen eine Politik, die, um jenes zu verwahrlosen, diesen misshandelt hat. Wir sind mit einer zufrieden, die ehrlichen Willens ist, jenes wiederherzustellen und alles weitere uns selbst zu überlassen.« Es gebe nun wirklich noch Länder, sie liegen westlich von Deutschland und Österreich, »wo man wenigstens die Ideale in Ruhe lässt, wenn der Export in Gefahr ist, und wo man so ehrlich vom Geschäft spricht, dass man es nicht Vaterland nennen würde, und vorsichtshalber gleich darauf verzichtet, in seiner Sprache ein Wort für dieses zu haben. Solches Volk nennen wir Idealisten des Exports eine ›Geschäftsnation‹.«
So kann Kraus früh schon segensreiche Wirkungen alliierter Besatzungsmächte herbeisehnen: »Die einen wollen den Export und sagen, es handle sich um ein Ideal, die anderen sagen, es handle sich um den Export, und diese Offenheit ermöglicht schon das Ideal. Und sie könnten es den andern zurückerobern, indem sie sie von der kulturwidrigen Gewohnheit befreien, es als ›Aufmachung‹ für ihre Fertigware zu verwenden.«
Aber Kraus hatte darum keineswegs eine Vorstellung von Warenproduktion, die als harmlos zu bezeichnen wäre und den Schimären des Liberalismus entsprochen hätte. Was ihn vielmehr namenlos beunruhigte, war etwas Fundamentales: Im Verhältnis von Mittel und Zweck, das allein Rationalität garantieren könnte, habe überall eine Verkehrung stattgefunden. Dafür bot ihm die Presse ein unerschöpfliches Material zur Exemplifizierung, weil sie es unmittelbar mit dem Geist zu tun hat, den sie wie das Leben als Ganzes dem Mittel preisgibt. Das Leben stehe, von solcher »schwarzer Magie« bezwungen, »im Dienste des Lebensmittels, und wir Esser sind seine Nahrung. Wir decken nicht unseren Bedarf beim Händler, sondern seinen an uns. Aus solcher Geistesformation entsteht ein Weltkrieg (…)« Das Mittel ist kein bloßes Mittel mehr, und die Händler selber, soweit sie als Individuen in Betracht kommen, sind auch nur Teil seiner Nahrung. Das zu erkennen, ist aber nur unter einer Voraussetzung überhaupt noch möglich: wenn Ware und Wunder eben von vornherein getrennt betrachtet werden; wenn es noch einen Begriff von Mittel und Zweck überhaupt gibt.
Die Vorsehung, die Kraus denunzierte, ist damit nicht allein als die falsche Synthesis der Gesellschaft zu erkennen, die als solche nicht mehr erkannt werden will; sondern als der feste Wille, ihr sich um jeden, wirklich jeden Preis zu unterwerfen. Das heißt bei Kraus: »deutsche Weltanschauung«. Mit ihr hat nicht zuletzt der größte Teil des Herrenvolks der Habsburgermonarchie, vor allem seine Intellektuellen, auf das Manifest des Kaisers reagiert. Ihre satirische Entlarvung beruht auf der Fähigkeit, zwischen Individuen zu unterscheiden, die wenigstens die Ideale weitgehend in Ruhe lassen, wenn der Export in Gefahr ist, also ehrlich vom Geschäft sprechen, und solchen, für die das Geschäft selbst die höheren Weihen der deutschen Weltanschauung besitzt.
Ganz ähnlich sah es zu dieser Zeit übrigens der junge Georg Lukács, der sich darüber mit dem kriegsbegeisterten deutschen Dichter Paul Ernst zerstritt: »Die Macht der Gebilde scheint in stetigem Zunehmen zu sein und für die meisten Menschen wohl lebendigere Wirklichkeit zu sein als das wirklich Seiende. Aber – dies ist für mich das Kriegserlebnis – wir dürfen das nicht zugeben. Wir müssen immer wieder betonen, dass das einzig Essentielle doch nur wir sind, unsere Seele und selbst deren ewig-apriorischen Objektivationen sind (nach einem schönen Bilde Ernst Blochs) auch nur Papiergeld, dessen Wert von der Einlösbarkeit in Gold abhängt. Die reelle Macht der Gebilde kann freilich nicht geleugnet werden. Es ist aber eine Todsünde an dem Geist, was das deutsche Denken seit Hegel erfüllt: jede Macht mit metaphysischer Weihe zu versehen.«

Die Frage, wie die reelle Macht der Gebilde, also die Ware, mit der mythischen Weihe, also dem Wunder der deutschen Weltanschauung, konfirmiert, hat nach dem Ersten Weltkrieg vielleicht am intensivsten Hermann Broch in seinem großen Romanwerk über die deutsche Ideologie beschäftigt. Es trägt den Titel »Die Schlafwandler«, was aber weder Clark noch seinen vielen Lobrednern oder Kritikern aufgefallen ist (vgl. hierzu die Beiträge von Manfred Dahlmann, Klaus Thörner und Florian Ruttner in sans phrase 3/2013 und 4/2014). Gegenüber dem satirischen Element der »Letzten Tage der Menschheit« rückt nun etwas in den Vordergrund, das sich satirisch nicht mehr behandeln lässt. Von Huguenau, der Hauptfigur des letzten, 1918 in Südwestdeutschland spielenden Teils der Trilogie, heißt es: Er »ist ein Mensch, der zweckmäßig handelt. Zweckmäßig hat er seinen Tag eingeteilt, zweckmäßig führt er seine Geschäfte, zweckmäßig konzipiert er seine Verträge und schließt sie ab. Alldem liegt eine Logik zugrunde, die durchaus ornamentfrei ist (…). Und doch ist mit dieser Ornamentfreiheit das Nichts, ist mit ihr der Tod verbunden (…)«
Hier findet sich auch eine Abhandlung über den »Zerfall der Werte« einmontiert, die eben davon handelt, dass Ware und Wunder in der »pathetischen Geste einer gigantischen Todesbereitschaft« aufgegangen sind, auch wenn die Geste jederzeit mit einem »Achselzucken« enden kann. »Die große Frage«, wie sie hier gestellt wird, lautet: »Wie kann das Individuum, dessen Ideologie sonst wahrlich auf andere Dinge gerichtet war, die Ideologie und Wirklichkeit des Sterbens begreifen und sich ihr fügen?« Und rückblickend auf den großen Krieg heißt es: »Sind wir wahnsinnig, weil wir nicht wahnsinnig geworden sind?« Das »Achselzucken« täuscht also, es kaschiert eine große Sehnsucht: »Deshalb wohl sehnen wir uns nach dem ›Führer‹, damit er uns die Motivation zu ­einem Geschehen liefere, das wir ohne ihn bloß wahnsinnig nennen können.«
Ein solcher Führer kann zwar nur von jener Vorsehung gesandt werden, die seinerzeit der alte Kaiser in Bad Ischl bloß resignativ seufzend anerkannt wissen wollte. Sein Aufstieg setzt aber voraus, dass die Individuen mit einer bisher nicht gesehenen schlafwandlerischen Sicherheit bereit sind, ihn »an die Stelle ihres Ichideals« zu setzen, wie das ein anderer Intellektueller der Habsburgermonarchie nach deren Ende ausgedrückt hat.
Broch spricht in seinem Roman freilich nicht aus, worin die »Motivation zu einem Geschehen« wirklich liegt, die der Führer nur darum liefern kann, weil die Massenindividuen sie bereits haben, sobald sie nach ihm sich sehnen: Die »pathetische Geste einer gigantischen Todesbereitschaft« war nur die andere Seite der offenen oder heimlichen, pathetischen oder achselzuckenden Bereitschaft, die Juden zu vernichten. Die »Dritte Walpurgisnacht«, die Karl Kraus schließlich schrieb, als dieses »Geschehen« ein eigener Staat, ein Unstaat, geworden war, ist dem Erstaunen darüber geschuldet, dass die »letzten Tage der Menschheit« eben nur ein Vorspiel bildeten; dass jetzt erst, beginnend mit dem »Judenboykott«, »der Tod, dem Schlagwort entbunden, die erste und letzte Wirklichkeit ist, die das politische Leben gewährt«. Denn was »hier geschah«, sei »wahrlich nach dem Plan« geschehen, »das Leben des Staats, der Wirtschaft, der kulturellen Übung auf die einfachste Formel« zu bringen: »die der Vernichtung« – der Plan der Schlafwandler.
Nachdem der Plan ausgeführt war, bemühten sich schließlich die Volksgenossen aus der Ostmark – wiederum mit schlafwandlerischer Sicherheit –, ihre ganze Geschichte in einer einzigen Charaktermaske zusammenzufassen. Den alten Kaiser imitierend, sagten sie sich kleinmütig: »Wir waren doch schon Österreicher, aber im Rate der Vorsehung ward es anders beschlossen und wir wurden zu Deutschen«, zuckten die Achseln über die Vernichtung der Juden und machten zugleich die pathetische Geste, dass Österreich das erste Opfer Deutschlands gewesen sei.