Die 101. Tour de France

Straße der Wahrheit

Die 101. Tour de France war wieder ein großes Epos: Es ging um Lüge und Wahrheit, um Krieg und Frieden, also um Sport.

Champs-Elysées, Paris. Die halbe Innenstadt ist abgesperrt. Nur halbfreundliche Polizisten erzählen Passanten, dass sie eine völlig leere und komplett einsehbare Straße parallel zu Les Champs nicht begehen dürften und ganze Häuserblocks umrunden müssten, um zu ihrem in Sichtlinie nur 30 Meter entfernten Ziel zu gelangen. Was anmutet wie die Begleiterscheinungen ­eines Antiterroreinsatzes, sind nur die Nebenwirkungen der Ankunft der Tour de France in Paris.
Zum 101. Mal fand dieses Ereignis statt. Und noch immer inszeniert die Pariser Polizei – gemeinsam mit den Sicherheitskräften der umliegenden Regierungsbauten – eine Art Absperrungsgroßmanöver, wenn etwa zwölf Dutzend Fahrradfahrer und eine etwa zehnmal größere Anzahl von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor das Territorium innerhalb des Autobahnrings erobern.


Inmitten des abgesperrten Bereichs sah man dann einen Menschen mit gelbem Hemd über himmelblauer Kniehose von einem Blatt Papier Dankesworte »an meine Mannschaft, alle Betreuer bis hin zu den Masseuren und Mechanikern und an meine Familie« ablesen. Der Ableser, Vincenzo Nibali mit Namen, hatte gerade die Tour de France gewonnen. Er ersparte dem Publikum eine Rede, wie sie ein anderer Tour-Sieger geschwungen hatte. »Zum Schluss an all die Leute, die nicht an den Radsport glauben, an die Zyniker und die Skeptiker: Ihr tut mir leid! Es tut mir leid, dass ihr keine großen Träume habt. Es tut mir leid, dass ihr nicht an Wunder glaubt«, hatte der später des Dopings überführte Lance Arm­strong 2005 nach seinem letzten Toursieg verkündet.
Vincenzo Nibali nutzte die große Bühne auf dem Pariser Prachtboulevard nicht zu einer großen Rede. Professionell stellte er sich den Fotografen, reckte kurz die Trophäen in die Höhe – und war nicht einmal mehr beim traditionellen Defilee der Tourmannschaften dabei. Angeblich war er durch Fernsehinterviews verhindert. Nibali gestaltete einen nüchternen Abschluss einer ereignisreichen Tour.

Bereits der Auftakt geriet zum Ereignis. In der mittelenglischen Grafschaft Yorkshire war einem Reiterstandbild des »Schwarzen Prinzen« Edward von Woodstock das gelbe Trikot der Tour de France übergezogen worden. In Yorkshire begann die Tour, und sie löste dort Begeisterungsstürme aus. Auf den Hügeln Mittelenglands fanden sich mehr Menschen ein als in den Alpen und den Pyrenäen. Das mag daran liegen, dass die Tour sehr selten auf den Britischen Inseln zu Gast und der Neuigkeitswert daher groß ist. Ein Grund mag auch der verblüffend dichte und gut organisierte öffentliche Nahverkehr sein, der die radsportaffinen Briten zahlreich an die Strecke brachte und sie rechtzeitig vor der letzten Pint-Runde auch wieder in die Innenstädte transportierte.

Der Beginn der Tour in England stand in seltsamem Kontrast zur sportlichen Performance britischer Profis. Der ehemalige Toursieger Bradley Wiggins war für charakterlich nicht geeignet für das Team um den Titelverteidiger Chris Froome befunden worden und daher gar nicht am Start. Ebenso wenig hatte der Saulus-Paulus des Profiradsports, der schottische Ex-Doper David Millar, trotz intensivster Tourvorbereitung einen Platz in seinem Team Garmin gefunden. Als es dann losging, katapultierte sich Mark Cavendish in Harrogate, der Geburtsstadt seiner Mutter, durch einen selbstverschuldeten Sturz aus dem Rennen. Das britische Team Sky schließlich, bei den vergangenen zwei »Großen Schleifen«, wie die Tour auch gerne genannt wird, dominierend, verlor Froome durch Sturzverletzungen.
Nicht einmal Plan B und C gingen auf. Edelhelfer Richie Porte fiel durch Schwäche am Berg aus dem Gesamtklassement; nicht einmal ein Etappensieg mochte dem Rennstall mit den Murdoch-Millionen und dem Geld aus der staatlichen Lotterie gelingen. Die Tour of the Brits, die beim Start noch viele erwartet hatten, wurde zu einer niederlage des angelsächsischen Radsports.

Für die deutschen Radfahrer lief es dagegen nicht schlecht. Sieben von 21 möglichen Tagessiegen eroberten deutsche Profis, vier davon durch den Supersprinter Marcel Kittel, zwei durch Tony Martin und einen durch Kittels Hauptkonkurrenten André Greipel. Hinzu kamen drei zweite Plätze durch Kittels Teamkol­legen John Degenkolb und den Deutsch-Australier Heinrich Haussler.

Was machen Funktionäre bei einem solchen Erfolg? Klar, sie phantasieren sich eine Nationenwertung herbei. »Gäbe es eine Nationenwertung, dann hätten deutsche Sportler gewonnen«, meinte der Präsident des Bundes deutscher Radfahrer (BdR), Rudolf Scharping. Aber die Zeiten, in denen Radprofis auf Sportförderung und die Infrastruktur des BdR angewiesen waren, liegen eine Weile zurück. Die Gehälter kommen aus der globalen Pharma­industrie wie bei Martins, von belgischen Lotto-Anbietern wie bei Greipel oder dem japanischen Fahrradkomponentenhersteller Shimano, der Kittel und Degenkolb unterstützt. Für den deutschen Radsport wird sich im kommenden Jahr der Kochplattenhersteller Bora engagieren, der ab 2015 das Net App-Team unterstützen wird. Bora ist allerdings ökonomisch nicht vergleichbar mit Telekom, Gerolsteiner oder Milram.

Die Zurückhaltung beim Sponsoring hat Ursachen. Die wichtigste ist der »Dopingschock« von 2006. Seitdem aber hat sich im Radsport einiges getan. Dopingkontrollen sind häufiger und qualitativ besser. Auch hat sich die Mentalität gewandelt. Epo-Doping ist nicht mehr Grundvoraussetzung für die Ausübung des Berufs; es ist sozusagen nicht mehr die Regel, sondern ein Verstoß dagegen. ARD und ZDF wollen im September auch darüber beraten, ob und wie sie in eine Tour-Übertragung wieder einsteigen. In diesem Jahr haben sie allerdings verpasst, dass die Route der Tour aus Anlass des 100. Jahrestags des Beginns des Ersten Weltkriegs an den ehemaligen Schlachtfeldern in Nordfrankreich und Belgien vorbeiführte. In der Gegend von Verdun und Douaumont musste sogar die Werbekarawane ihr Gehupe unterlassen. Ein berührender Moment in dem ansonsten hektischen Tourbetrieb.

Dass die Tour nicht fern von den gegenwärtigen Kriegen stattfindet, daran erinnerte der ukrainische Radprofi Andrej Griwko. Er nutzte seine Popularität als Helfer Nibalis, um mit deutlichen Worten auf den Krieg in seinem Land aufmerksam zu machen. Dass der Sieger der 101. Frankreich-Rundfahrt seine wenigen dürren Worte vom Blatt ablesen musste, fiel am Ende dieser so ereignisreichen Tour dann auch gar nicht weiter auf.