Alternative Projekte in der Türkei

Der ganz alltägliche Widerstand

Ob in besetzten Häusern, Stadtteilforen, Cafékollektiven oder selbstverwalteten Betrieben, in Istanbul ist eine Politisierung der Gesellschaft spürbar, die bisher noch nie da gewesen ist. Ohne die Gezi-Bewegung wäre dies nicht möglich gewesen.

Vom Schiffsanleger des Stadtteils Kadıköy auf der asiatischen Seite Istanbuls sind es nur fünf Minuten zu Fuß. Der Bezirk heißt Yeldeğirmen (Windmühle), weil Sultan Abdülhamid I. im 18. Jahrhundert hier vier Windmühlen bauen ließ. Direkt am Bosporus weht immer ein Lüftchen und so versorgte das Viertel die Siedlungen auf der asiatischen Seite mit Mehl. Trotz seiner unmittelbaren Nähe zum quirligen Stadtzentrum Kadıköys wirkt Yeldeğirmen heute noch wie ein Ort, an dem die Uhren langsamer gehen. Schöne zierliche Altbauten mit hübschen Jugendstil-Balkonen stehen neben Neubauten, die sich zumindest den architektonischen Proportionen angepasst haben. Auf den zweiten Blick fallen einige Bauruinen auf, auf den dritten die vielen Baustellen. Offensichtlich warten viele Bauunternehmer auch in diesem Viertel darauf, dass Altbauten verfallen und schließlich von funktionelleren Neubauten ersetzt werden können.
Das besetzte Haus ist eigentlich kein Haus, sondern eine Baustelle. 20 Jahre lang bestand sie nur aus dem geklinkerten Erdgeschoss und einem angefangenen Hochparterre, das aber mit den Jahren zusammengefallen war. Der Bauunternehmer hatte vier Wohnungen vorab verkauft und sich dann mit der Anzahlung aus dem Staub gemacht, ohne eine einzige davon fertigzustellen.
Eser kommt mit einem Becher Tee aus dem Erdgeschoss. Im August vergangenen Jahres begann die 38jährige Schulpsychologin, wie viele andere, an den Diskussionsforen im Yoğurtçu-Park, einer großen Grünfläche in Kadıköy, teilzunehmen. Der Gezi-Park war endgültig geräumt worden, nach den zwei Monaten des Demonstrierens verlagerte sich die Protestbewegung. »Wir wollten diesen Zusammenhalt nicht aufgeben«, beschreibt Eser die damalige Stimmung. »Wir alle waren noch voller Euphorie und spürten, wenn wir jetzt nicht weitermachen, war alles umsonst.«
Im Yoğurtçu-Park trafen sich wöchentlich 1 000 bis 2 000 Leute. »Nach einer Zeit haben wir gemerkt, dass in solch großen Gruppen kaum praktische Stadtteilarbeit gemacht werden kann. Es gab eine gemeinsame Entscheidung, Foren in den Stadtteilen zu gründen«, erzählt Zafer. Auch er arbeitet, wie Eser, im Schuldienst als Lehrer. Sie gehören zu den Besetzern der ersten Stunde. Die Idee entstand aus der Notwendigkeit, einen Ort für diese Treffen zu finden. In Yeldeğirmen gibt es keinen vergleichbaren Park, auch wenn die Stadtteil-Diskussionsrunden dort sehr gut besucht waren.

Es haben sich mittlerweile eine ganze Reihe Besucher vor dem Haus zusammengefunden. Drinnen herrscht Rauchverbot. Obwohl es viele Raucher gibt, kamen die Besetzer schnell überein, dass es besser für alle ist, wenn draußen geraucht wird. An einer Hauswand hängt eine Tafel mit einer Präambel. Im Projekt sind alle willkommen. Es geht nicht um Ideologien, sondern um praktische Stadtteilarbeit. Offensichtlich können die allgemeinen Prinzipien aber auch jederzeit modifiziert werden. Sie sind mit Kreide auf einer Schultafel notiert. Eser erklärt, dass es einen gemeinsamen Beschluss gegeben habe, diese Baustelle zu besetzen. Das Yeldeğirmen-Forum sei der Meinung gewesen, dass man eine lokale Form der Besetzung wählen sollte. »Es ging uns nicht darum, die europäische Hausbesetzerbewegung nachzuahmen. Bei uns gibt es eine Tradition, Häuser über Nacht auf öffentlichem Grund zu bauen. Die nennen sich dann gecekondu (›über Nacht gebaut‹)«, sagt Eser. »Wir haben uns daran orientiert. Schlafen tun wir ja auch nicht hier, wir wollten eine autonome soziale Einrichtung schaffen.«
Auf dieser Baustelle zu wohnen, wäre ein bisschen wie Campen im Winter, aber das Projekt folgt tatsächlich der Gezi-Tradition. Hauptmotiv der Besetzung war der Erhalt öffentlicher Orte gegen eine staatliche Politik, die das Ziel verfolgt, die Bürger ins Private zu verdrängen. Zafer zündet sich noch eine Zigarette an und grinst: »Nicht, dass wir nicht auch alle gern eine Wohnung in einer der leeren Altbauten hätten, aber darum geht es in der derzeitigen politischen Situation nicht. Wir haben bereits Formen alternativen Wohnens, wir leben bereits in WGs.«
Die Sanierungspolitik der türkischen Regierungspartei AKP zielt neben der Gentrifizierung von Wohnraum vor allem darauf ab, Kulturzentren, Kinos und Treffpunkte aus dem Stadtbild zu verdrängen. Es gibt prominente Beispiele, die stark zur politischen Mobilisierung der Intelligenzija der gesamten Stadt beigetragen haben. Neben dem Abriss des historischen Kinos »Emek« im Innenstadtviertel Beyoğlu und der Zerstörung des Atatürk-Kulturzentrum im vergangenen Sommer wurden auch beliebte Cafés, wie die Konditorei »Incı«, zum Auszug gezwungen. Sie lag im Circle d’Orient-Haus, einem großen Wohnhaus, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebaut worden ist. Die Spezialität des Hauses war Profiterole, eine Torte aus mit Creme gefüllten, von Schokoladensoße umhüllten Windbeuteln. Seit 68 Jahre war die Konditorei dafür bekannt: »Wir sind manchmal nur nach Beyoğlu gefahren, um dieses Zeug zu essen«, erzählt Zafer und lacht. Aber schlimmer als der Verlust der Konditorei findet er das sang- und klanglose Verschwinden statdteilprägender Gebäude. »Das ganze Haus wurde schon im Dezember 2012 dazu bestimmt, der sogenannten Sanierung anheimzufallen«, fährt er bedrückt fort. »Das heißt: Anstatt restauriert zu werden, wird das Haus einfach in einen modernen Bau mit falschem Stuck umgebaut, und da­rin entsteht entweder ein Hotel oder ein Einkaufszentrum.«
Die AKP betreibt mit ihren Sanierungsprojekten eine politische Stadtplanung. Die Altbauten in Beyoğlu und Kadiköy stammen aus der Zeit der Europäisierung des Osmanischen Reichs und wurden im 19. Jahrhundert vor allem von den nichtmuslimischen Minderheiten gebaut und bewohnt. Eine Erbe, auf das Ministerpräsident Recep Tayyp Erdoğan gern verzichten möchte.
In Kadıköy schreitet die Gentrifizierung langsamer voran. Im Bezirksparlament sitzt die Repub­likanische Volkspartei (CHP), der politische Gegner der Regierungspartei AKP. Nicht, dass die türkische Sozialdemokratie sich in der Vergangenheit viel um soziale Gerechtigkeit im Wohnungsbau oder um Denkmalschutz geschert hätte. Aber seit die AKP ganze Stadtviertel im Namen des angeb­lichen »öffentlichen Wohls« mehr oder weniger verstaatlicht, ärmere Bewohner durch die hohen Sanierungskosten zum Verkauf zwingt und Günstlinge aus AKP-Kreisen davon profitieren, hat sich die CHP einer oppositionellen Stadtplanungspolitik verschrieben. »Die Stadtverwaltung ist nicht gegen uns vorgegangen«, betont Eser, »sie lassen uns in Ruhe und helfen teilweise sogar«. Die Hausbesetzer hatten zunächst sechs Lastwagen Schutt aus der Baustelle schaffen müssen. Die Stadtverwaltung Kadıköy hatte den kostenlos abtransportiert.

Es geht auf acht Uhr zu, am Montagabend treffen sich die Hausbesetzer und viele andere Interessierte beim Forum. Das ist eine Diskussionsrunde, bei der gemeinsame Beschlüsse, die das Haus betreffen, gefasst werden und jeder ein Anliegen vortragen oder ein Projekt vorschlagen kann. Es ist düster im Erdgeschoss. Eine einzelne Glühbirne beleuchtet den etwa 200 Quadratmeter großen Raum spärlich. Vage sind Zeichnungen an den Wänden, ein kleines Bücherregal, Kisten mit leeren Flaschen und Stühle zu sehen. Da es an diesem Abend empfindlich kalt ist, sind nur etwa 20 Leute gekommen. Jeder kann einen Schemel ergattern, es stehen auch noch Apfelsinekisten, Säcke und Kissen in den Ecken und Winkeln herum. Doch je weiter die Sitzfläche vom kalten Betonboden entfernt ist, desto besser für die Anwesenden. Es geht erfreulich schnell zur Sache. Unmerklich haben verschiedenen Teilnehmer ihre Hände erhoben und werden in eine Liste eingetragen.
Zafer sträubt sich zunächst, dann übernimmt er die Moderation. Der mittelgroße Mann mit dem dunklem Lockenkopf und den freundlichen Augen macht das perfekt. Er spricht die Leute persönlich mit sanfter Stimme an und sorgt für eine lockere und gleichzeitig konzentrierte Atmosphäre. Zwei Stockwerke haben die Hausbesetzer in nur sechs Monaten gebaut. Doch es bleibt noch viel zu tun. Am dringlichsten sind Licht und Heizung.
Ein dick eingemummter kleiner Mann mit langen, grauen, zotteligen Haaren überrascht alle durch eine sehr kurze präzise Beschreibung der Möglichkeiten, das Haus mit Elektrizität zu versorgen. Aykut ist Elektroingenieur und lebt allein in einem verlassenen Dorf in Datça. Er hat dort alles infrastrukturell neu einrichten müssen und ist daher Meister in Fragen billigen Stroms und ökologisch verträglichen Heizens. Energiesparlampen und eine Stromquelle aus Autobatterien seien die sparsamste Lösung, sagt er. Sofort wird beschlossen, einen entsprechenden Aufruf im Internet zu veröffentlichen, um Akkus zu sammeln, Aykut verspricht die Anlage am Donnerstag zu installieren.
Ein junger Mann, vielleicht Anfang 20, meldet sich zu Wort und legt seine Situation dar. Er könne seit zwei Jahren seinen rechten Arm nicht richtig bewegen, weil er sich bei einem Arbeitsunfall in einer kleinen Autowerkstatt die Nerven eingeklemmt habe. Für den nötigen neurologischen Eingriff habe er keine Mittel, weder er noch sein ehemaliger Arbeitgeber seien krankenversichert. Die Runde überlegt kurz, dann versprechen zwei Frauen, sich in ihrem Kollegenkreis umzuhören. Sie sind selbst Hautärztinnen, aber es gebe immer wieder Kollegen in Krankenhäusern, die eine solche OP aus sozialem Gewissen kostenlos oder sehr günstig machen würden, versichern die beiden. Yılmaz, der Verletze, wird dazu aufgefordert, eine genaue Darstellung der Krankheitsgeschichte und seiner Beschwerden aufzuschreiben. Die Medizinerinnen versprechen, sich umzuhören, gleichzeitig wird ein Spendenaufruf im Internet veröffentlicht.
Es ist verblüffend zu sehen, wie das Projekt tatsächlich Aufgaben übernimmt, die in der Türkei sonst nur durch familiäre Solidarität oder beste Verbindungen zu lösen wären. Solidarität und praktische Hilfe dieser Art habe es lange Zeit in dieser Form nicht mehr gegeben, erklärt Demir Küçükaydin später in einem nahe gelegenen Café, in das wir uns vor der Kälte geflüchtet haben.

Küçükaydin gehörte in den sechziger Jahren zu den Kommunisten um Deniz Gezmiş. Schon damals gab es linke Kommunen in der Türkei. Und auch solidarische Bauprojekte, etwa die Errichtung einer Brücke über den Zap-Fluss in Anatolien als Protest gegen den Bau der ersten Bosporus-Brücke 1969. Die Studenten kritisierten damals, dass eine Brücke in Istanbul gebaut werde, obwohl man solche Infrastruktur in Anatolien dringender benötige. Der Soziologe Küçükaydin kam aufgrund seiner politischen Aktivitäten zehn Jahre ins Gefängnis und ging dann ins Exil. Jahrelang arbeitete er in Hamburg als Taxifahrer. Dem lebhaften 64jährigen ist anzumerken, dass die Gezi-Proteste die Wiederbelebung einer wichtigen Zeit in seinem Leben ist. Er drückt mir ein Buch in die Hand, »Gedanken zum Gezi-Widerstand«, eine Sammlung von Kommentaren, die er zwischen dem 1. Juni und dem 29. Juli 2013 auf einem Blog verfasst hat. Er kommt dort zum interessanten Ergebnis, dass weder die kurdische, noch die linke, noch die islamistische Opposition gegen die AKP in der Lage gewesen sei, den basisdemokratischen Impetus der Gezi-Bewegung zu verstehen und deshalb dort auch keine Rolle gespielt hätten. Zafer setzt sich mit einem Teller voller vegetarischer Spezialitäten dazu. Das Café wird von einem Kollektiv betrieben und gehört zu den in diesem Viertel überall entstehenden alternativen Projekten. »Nachdem Gezi immer stärker von der Polizei kontrolliert wurde, hat sich hier ein neues Zentrum der Bewegung entwickelt«, plaudert er kauend. Küçükaydin widerspricht und weist darauf hin, dass es auch in Beşiktaş, Maçka und Cihangir ähnliche Projekte gebe, »ihr müsst euch besser koordinieren«. Die Jüngeren lächeln wohlwollend, während Küçükaydin bereits plant, wer wann zu welchem Forum gehen soll, um Koordinierungsarbeit zu leisten.

Mit der Gezi-Bewegung ist erstmals in der Türkei eine Opposition entstanden, die sich von Ideologien distanziert und trotzdem politisch ist. Interessanterweise setzen jetzt auch stark ideologisierte Gruppen neue Protestformen ein. In einem kleinen Laden im Stadtteil Şişli auf der europäischen Seite etwa bieten die Arbeiter der Kazova-Textilfabrik ihre Produkte an. An der Wand hängt ein Gemälde von einer als DHKP-C-Mitglied im Gefängnis sitzenden politischen Gefangenen. Es zeigt die Arbeiter beim Streik vor ihrer ehemaligen Fabrik im Nachbarstadtteil Bomonti ganz in der Nähe. Nach der fristlosen Entlassung durch den Unternehmer im Januar 2013, der seinen Arbeitern noch drei Monate Lohn schuldete, besetzte die Belegschaft die Fabrik. Trotz Räumungsversuchen durch Istanbuler Antiterroreinheiten widersetzten sich elf von ehemals 91 Arbeitern zehn Monate lang. Dann gelang es ihnen per Gerichtsbeschluss, einen Teil der Arbeitsmaschinen als Entschädigung zugesprochen zu bekommen. Sie mieteten eine neue Fabrikhalle und das Ladengeschäft, in dem sie jetzt Pullover und andere Textilien anbieten. Ende März wurde der Laden mit einer großen Modenschau auf der Straße eröffnet. Istanbuler Künstler hatten Pullover mit Protestsymbolen gestaltet. Die »Widerstandskollektion« wurde an einem einzigen Tag verkauft. Yaşar Gülay hat früher bei Kazova als Näher an der Maschine gearbeitet und ist einer der Organisatoren. Jeden Tag steht er im Laden. »Die Gezi-Proteste haben uns beflügelt«, sagt er. »Die Gewerkschaften stecken doch mit den Unternehmern unter einer Decke. Mit denen war nie etwas anzufangen. Die labern immer nur vom Kämpfen, sind aber außerhalb ihrer Kundgebungen nirgendwo zu sehen.« Der Laden ist klein und originell eingerichtet. Der Boden ist mit Pflastersteinen belegt, in denen kleine Neonschriftzüge eingearbeitet sind. »Es lebe der erste Mai« und »Überall ist Widerstand«. Nirgendwo ist ein Parteisymbol zu sehen. Die zweite Kollektion wurde bereits produziert. Trikots für das Freundschaftsspiel der kubanischen und baskischen Jugendnationalmannschaften. Die Verbindung hat der Journalist und Autor Metin Yeğin hergestellt. Das Arbeiterkollektiv will jetzt im Keller des Ladens eine Kunst- und Kulturzentrum einrichten. Die Künstler wollen sie wieder unterstützen. »Wir haben nach Gezi plötzlich Leute kennengelernt, mit denen wir nie geglaubt hätten, etwas gemeinsam zu haben«, sagt Yaşar Gülay und näht geschickt ein Etikett an eines der Fussballtrikots.
Am Sonntagmittag steht eine Menschenmenge vor dem Hausprojekt in Yeldeğirmen. Im Erdgeschoss werden Demir Küçükaydıns Gezi-Schriften verpackt, um sie an politische Gefangene in türkischen Hochsicherheitstrakten zu schicken. Nurten Abla aus dem Laden der Kazova-Arbeiter verkauft Pullover. Das Erdgeschoss ist hell erleuchtet. Aykut hat Wort gehalten. In weniger als einer Woche hat er den Strom für das erste besetzte Haus in der Türkei installiert.