Langweilten sich in Rockensußra – so wie die dort hinverfrachteten Flüchtlinge

Abgestellt im Nirgendwo

Ein Besuch in Rockensußra, einem öden Ort in Thüringen, wo in einem Heim asylsuchende Flüchtlinge zur Langeweile verdammt sind.

»Wir suchen einen verlässlichen Pächter für unsere Gaststätte Alt-Thüringen«, heißt es im Fenster des ländlichen Lokals auf einem Schild, das man zunächst für die Speisekarte hält. Momentan allerdings scheint niemand daran interessiert zu sein, hier inmitten der thüringischen Provinz Wirt zu werden. Der kleine Ort Rockensußra, 50 Kilometer nordwestlich von Erfurt, besteht aus einer Kirche und einigen gepflegten Fachwerkgehöften, die von ausgedehnten Feldern umgeben sind. Hier wohnen 550 Menschen. In der landsommerlichen Hitze verwaist die einzige Bushaltestelle des Ortes, am Wochenende fährt hier überhaupt kein Bus. Auf dem abblätternden Putz des Haltestellenhäuschens haben sich Fans des BSV Eintracht Sondershausen per Graffito verewigt. Als einziges Fahrzeug parkt am Straßenrand ein kleiner grüner Traktor, gegenüber wirbt ein Veranstaltungsplakat für einen Auftritt der Coverband »Swagger« im Nachbarort.
Früher habe es hier so etwas wie Dorfleben gegeben, erzählt uns ein Anwohner, mittlerweile bekomme man davon aber wenig mit. Ebenso wie von den Asylsuchenden, die am Dorfrand untergebracht sind. Die wenigen Dorfbewohner, die wir antreffen und auf die Gemeinschaftsunterkunft ansprechen, reagieren gleichgültig. Man gehe eben seiner Beschäftigung nach, die Asylbewerber störten nicht. Kein Kontakt, keine Probleme.
Wir fahren zum Wohnheim, direkt am Feld gelegen. Über 70 Menschen wohnen in den vier schmucklosen, blassblauen Nachkriegshäusern, einige von ihnen haben es sich im Schatten bequem gemacht und schauen uns nach. Besucher gibt es hier selten, wir fallen auf. Im Heim sind wir mit Arman* verabredet, einem schlanken jungen Mann aus Afghanistan, der uns in seinem Zimmer empfängt und Kirschsaft anbietet. Er selbst trinkt davon nichts, zurzeit ist Ramadan. In dem kleinen Raum, den er seit seiner Ankunft mit einem Mitbewohner teilen muss, flimmert der Fernseher. Während Arman im blauen Polohemd mit gefalteten Händen auf seinem Bett sitzt und mit uns redet, gleitet sein Blick immer wieder in Richtung des Geräts; es läuft al-Jazeera auf Englisch. Wie jeder in seinem Alter beschäftigt sich der 19jährige intensiv mit dem Laptop und seinem Handy, unterbricht ab und zu das Gespräch, um Nachrichten zu beantworten oder einen Anruf anzunehmen. Die wichtigen Dinge scheinen sich anderswo abzuspielen. Doch im Gegensatz zu seinen deutschen Altersgenossen wird Arman später nicht mit Freunden in der Kneipe sitzen und über die SMS plaudern. Arman hat eine Fluchtgeschichte, kam über den Iran, die Türkei und Griechenland nach Deutschland. Warum genau er geflohen ist, möchte er nicht sagen, auch soll sein richtiger Name nicht in der Zeitung erscheinen. Außenaufnahmen des Flüchtlingsheims dürfen wir nur machen, wenn er nicht dabei ist. »Pass auf mit den Fotos«, sagt Arman. Er hat Angst, dass jemand dem »Chef« Bescheid sagt – sein Asylverfahren läuft noch.

Wie jeder Asylbewerber wurde auch Arman nach seiner Ankunft in Deutschland einem Bundesland zugeteilt. Das Verteilungssystem dafür nennt sich zynischerweise EASY, »Erstverteilung von Asylbegehrenden« – auf die Zuweisung nach dem sogenannten »Königsberger Schlüssel« hat der Einzelne keinen Einfluss. »Ich dachte: Thüringen – was ist das?« erinnert sich Arman und macht das verdutzte Gesicht von damals nach. Zuerst kam er in die Erstaufnahmeeinrichtung im ost­thüringischen Eisenberg. Nach ein paar Monaten verteilt man die Flüchtlinge von dort über das ganze Bundesland, je nachdem, wo gerade Platz ist. Zwei Drittel der Asylbewerber in Thüringen kamen Pro Asyl zufolge in den vergangenen Jahren in zentrale Gemeinschaftsunterkünfte, in einigen Landkreisen über 90 Prozent. Die hoffnungslosen Fälle werden in die Wohnheime auf dem Land geschickt, sagt uns Arman, so wie er hierher, in den Kyffhäuserkreis. Bis über seinen Antrag entschieden wird, kann er erst einmal in Deutschland bleiben, »Aufenthaltsgestattung« heißt das im Beamtendeutsch. Endet sein Verfahren positiv, darf er sich eine Arbeit suchen und aus Rockensußra wegziehen – fällt die Antwort negativ aus, kann er gegen die Entscheidung klagen. Das folgende Verfahren kann sich über Jahre hinziehen, ebenso das geduldete Warten auf die Abschiebung nach endgültiger Ablehnung. Für Arman wäre das gleichbedeutend mit einem längeren Aufenthalt in diesem Wohnheim in der Provinz. Einer, den er kennt, wohnt schon seit acht Jahren hier. Wie lange es bis zur Entscheidung über den Asylantrag dauert, hängt vor allem vom Herkunftsland ab, heißt es. Flüchtlinge aus Syrien haben gute Karten im Moment, bei Afghanen hingegen dauert es lange und die Chancen stehen schlecht.
Arman führt uns durch die Wohnung. Insgesamt teilen sich sechs Personen eine enge Küche und ein Bad, Privatsphäre gibt es kaum. Ein kleines Wohnzimmer dient als Gemeinschaftsraum, darin stehen zwei Sofas mit verblasstem Blumenpolster und eine massive Schrankwand im neo­barocken Stil der neunziger Jahre. Vor einem Fenster hängen kleine Spitzengardinen. Ein ähnliches Bild böte sich wohl auch in der Rentnerwohnung ein paar Straßen weiter. Beim Blick aus dem Fenster sieht man dunkelgrüne Tannen und Weizenfelder. Auf der Couch schläft eine Person, ganz in eine Decke gehüllt. Arman berichtet von den Problemen, die schon im Heim beginnen: Wer um sechs Uhr früh aufstehen muss, um zum Sprachkurs zu fahren, kann am Abend vorher nicht mit der Rücksicht der anderen Bewohner rechnen. Fernseher oder Musikanlagen laufen je nach Zimmernachbar bis spät in die Nacht, die Wände sind kein guter Schallschutz. Jeder hat seine eigene Art, mit dem Leben in der Einöde umzugehen.

Als wir auf der Straße vor dem Haus stehen, deutet Arman auf die Pferdekoppel nebenan. »Unser Sportplatz«, sagt er und lächelt kurz. Auf der heruntergekommenen Wiese bewegt sich ein braunes Pferd gemächlich aus der Hitze in den Schatten. Einmal habe sich im Nachbardorf spontan ein Fußballspiel ergeben, erzählt Arman, 15 Tore habe er geschossen. Man merkt, wie er aufblüht. In Rockensußra gibt es keine Gelegenheit dazu, eine Dorfmannschaft existiert längst nicht mehr. Überhaupt gibt es hier nicht viel: Landwirtschaftsbetriebe, getunte Autos, oberkörperfreie Fami­lienväter. Nicht einmal Nazis scheinen hier zu leben, vielleicht fehlt seit den neunziger Jahren der Nachwuchs: Ein rotes Protestschild verweist auf die baldige Schließung des örtlichen Kindergartens. Da im Ort weder Supermarkt noch Kiosk existieren, müssen Arman und die anderen Bewohner des Heims zum Einkaufen ins drei Kilometer entfernte Ebeleben. Fährt gerade kein Bus, bedeutet das insgesamt eine gute Stunde zu Fuß, auf dem Rückweg zusätzlich mit voll gepackten Einkaufstaschen. Eigentlich möchte Arman wie die meisten jungen Leute etwas erleben – aus­gehen, Spaß haben, ins Kino gehen. »Dort ist kein Kino«, witzelt er und blickt in Richtung der weiten Felder, die sich am Horizont golden vom Blau des Himmels abheben. Für einen jungen Menschen, der gezwungen ist, hierzubleiben, ein Albtraum.
Auch wenn die vergangenen Jahre für Asylsuchende und Geduldete ein paar Verbesserungen gebracht haben – so wurde in den meisten Kommunen Thüringens das Gutscheinsystem abgeschafft –, sind die Heime im Nirgendwo nach wie vor ein großes Problem. Der Aufbau sozialer Kontakte und der einfache Zugang zu Beratungsangeboten – alles, was bei dezentraler Unterbringung in Städten problemlos möglich ist, bleibt auf dem Land unerreichbar. Seit die Residenzpflicht in Thüringen abgeschafft wurde, ist es Asylbewerbern zwar formal gestattet, sich zumindest innerhalb des Bundeslandes frei zu bewegen, allein die Reise nach Erfurt und zurück kostet jedoch schon etwa ein Zehntel des monatlichen Budgets. Schwerer noch wiegt die Ohnmacht. Gerade im ersten Jahr, wenn die Hoffnung auf Teilhabe und der Wunsch, die Sprache zu lernen, am größten sind, sind die Flüchtlinge zum Nichtstun verdammt: Weder dürfen sie arbeiten, noch können sie einen Sprachkurs besuchen. Die institutionelle Diskriminierung und der alltägliche Rassismus haben ihre Gestalt verändert – lebten die Flüchtlinge in den neunziger Jahren oft unter untragbaren hygienischen Zuständen in überfüllten Heimen unter ständiger Bedrohung des rassistischen Mobs, geht es heute vor allem darum, die Präsenz von Asylbewerbern wo irgendmöglich aus der öffentlichen Wahrnehmung herauszuhalten. Ankommen, ein paar Jahre bleiben, Abschiebung. Aus staatlicher Sicht ist das allemal besser als selbstorganisierter Flüchtlingsprotest. Auch hier: Kein Kontakt, keine Probleme.

Das Zermürben wirkt. Wie hält man das aus? Arman lächelt verlegen, als wüsste der Fragende nicht, dass man über diese Dinge eigentlich nicht redet: die permanente Unsicherheit und die enttäuschten Hoffnungen, die Desillusionierung, wenn mal wieder ein Antrag abgelehnt wird, und das Gefühl, wenn das Sozialamt die ärztlich angeordnete Überweisung zum Augenarzt verweigert. All das lässt sich im Gespräch nur erahnen. Goldschmied sei in Afghanistan sein Beruf gewesen, erzählt Arman und formt mit seinen Händen gestenreich eine Schmuckkette. In Deutschland würde er gern in der IT-Branche arbeiten. Weil die Chancen auf eine Ausbildung ohne Schulabschluss hier schlecht stehen, möchte Arman in die Berufsschule gehen – für ihn die einzige Möglichkeit, eine Schulbildung nachzuholen. Einmal hat er sich schon bei der nächstgelegenen Schule beworben, schnell hieß es, man könne ihn nicht aufnehmen, schließlich spreche er kein Deutsch. Als er vorschlug, im persönlichen Gespräch von seinen Deutschkenntnissen zu überzeugen, hieß es auf einmal, die Klasse sei voll. Die Aufnahme in eine Berufsschulklasse hängt vollständig vom Gutdünken der Schulleitung ab, die nächste Gelegenheit ergibt sich erst wieder im folgenden Schuljahr. Für Arman bedeutet das ein weiteres Jahr Nichtstun. Fast symbolisch für die Situation steht der Kalender in Armans Zimmer noch immer auf März.
Einen kleinen Lichtblick gab es in den vergangenen Monaten, er lässt Arman die Lethargie und Langeweile für eine Weile vergessen. Jeden Werktag fährt er nach Erfurt, um an einem Sprachkurs teilzunehmen. Arrangiert wird das spezielle Förderangebot für Asylbewerber vom Bleiberechts-Netzwerk »to arrange – pro job«, das vor allem jungen Flüchtlingen zwischen 17 und 27 hilft, im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Beworben werden die Sprachkurse in den Wohnheimen selbst, viel Aufwand ist nicht nötig, denn die Nachfrage ist groß. »Wenn die Flüchtlinge hören, da gibt es einen Sprachkurs, der nicht nur zwei Wochen geht, sondern Monate, dann spricht sich das herum«, erzählt uns eine Mitarbeiterin des Flüchtlingsrats. Viele der Teilnehmer seien in verzweifelten Situ­ationen und hochmotiviert, Deutsch zu lernen. Dass die Förderung des Projekts nun nicht verlängert wird, könne man deshalb nicht verstehen, zumal es kaum Alternativen gebe. Zwar sind die offiziellen Sprachkurse des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge erst kürzlich auch für Asylbewerber geöffnet worden, doch dürfen diese erst nach einem Jahr Aufenthalt daran teilnehmen. Ganz davon zu schweigen, dass gerade in der Provinz keine Programme existieren, die den verschiedenen Sprachniveaus unter den Flüchtlingen gerecht werden – ein immer wieder angebotener Anfängerkurs ist für einen Fortgeschrittenen nicht hilfreich.

In Erfurt treffen wir Arman wieder. Mit zwei Freunden kommt er gerade aus dem Deutschkurs. Morgen findet der Unterricht zum letzten Mal statt, wir wollen wissen, wie es dann weitergeht. »Wir möchten weitermachen, doch keine Chance«, sagt uns Navid, der ebenfalls aus Afghanistan kommt und im Wohnheim in Rockensußra lebt. Arman ergänzt: »Jetzt sind wir jung und müssten lernen, doch für uns gibt es das nicht.« Gehört man wie die jungen Männer aus Afghanistan nicht zu den hochqualifizierten Arbeitskräften, nach denen momentan verlangt wird, bliebe, um dem Stillstand zu entgehen, nur die Schwarzarbeit. Was für die Flüchtlinge einer Verschärfung des illegalen Status gleichkommt, ist für die Wirtschaft eine willkommene Zufuhr an billigen Arbeitskräften ohne lästige Arbeitnehmerrechte. Zwar gibt es bisweilen rechtliche Verbesserungen des Zugangs zu Aus- und Weiterbildung, wie beispielsweise die seit dem 1. Juli eingeführte Beschäftigungsverordnung, nach der nun auch Menschen mit Aufenthaltsgestattung nach vier Jahren uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten. Doch es profitieren von den jüngsten Änderungen vor allem die gut Ausgebildeten – die grundlegenden Probleme der geringqualifizierten Flüchtlinge in den abgelegenen Heimen bleiben ungelöst.
Jamil, auch er ist aus Afghanistan, möchte gern KFZ-Mechatroniker werden. Seit 15 Monaten ist er in Deutschland, im Gegensatz zu Arman ist er mit seiner Frau dezentral in einer Wohnung in Arnstadt untergebracht. Zehn Bewerbungen hat er bereits verschickt, zwei Firmen haben geantwortet. »Bei einer Firma hat der Chef gesagt, da ist alles in Ordnung, du kannst bei mir eine Ausbildung machen«, berichtet Jamil. Später schickte ihm die Firma dann doch eine Absage – warum, weiß er nicht. Er vermutet ein Problem mit der Ausländerbehörde, deren Willkür er mittlerweile zur Genüge kennt: »Seit 15 Monaten konnte ich keinen Urlaub bekommen, 20 oder 30 Mal bin ich zur Ausländerbehörde gegangen, sie sagt ›Nein‹.« Urlaub – das bedeutet lediglich die Erlaubnis, Thüringen zu verlassen. Drei Monate hat die Behörde Zeit, um auf den Antrag zu reagieren. ­Warum er dann abgelehnt oder angenommen wird, scheint mancherorts völlig undurchsichtig, sagen uns die Mitarbeiterinnen des Flüchtlingsrats. Man könne die Entscheidung vor Gericht anfechten, doch wer würde das nur wegen eines simplen Besuchs schon tun. Jamil, der einen ­Bekannten in Hamburg hat, durfte ihn bisher nicht besuchen, auch nicht für ein oder zwei Tage. Zwei Mal ist er trotzdem ohne Urlaubsschein gefahren. Einmal wurde er erwischt und musste 40 Euro Bußgeld zahlen. Wird man wiederholt ertappt, droht gar Haft. Am Hamburger Hauptbahnhof sei er von Polizisten kon­trolliert worden, erzählt Jamil. Mit seiner Hautfarbe und in Begleitung seiner Kopftuch tragenden Frau fiel er genau ins Raster des Racial Profiling.
Kontrollen, Verbote, Ausschluss – die Unmöglichkeit eines selbstbestimmten und geplanten Lebens ist Arman, Jamil und Navid ständig präsent. Selbst nach dem Sprachkurs einmal in ­Erfurt zu bleiben, ein wenig in der größeren Stadt zu flanieren oder Cafés zu besuchen, ist ausgeschlossen. Erwischen sie erst nach 17 Uhr einen Zug nach Sondershausen, fährt dort kein Bus mehr ins 20 Kilometer entfernte Rockensußra. »Wir müssten dann in Sondershausen bleiben, im Park«, scherzt Arman. Ein paar Mal schon mussten sie laufen, dreieinhalb Stunden nach Rockensußra. Wenn der Sprachkurs ab nächster Woche nicht mehr stattfindet, sitzen sie wieder die ganze Zeit dort im Heim, neben den Pferden. »Essen – Schlafen, Essen – Schlafen«, entfährt es dem grinsenden Navid.

* Name von der Redaktion geändert