Berge oder Meer – wohin in den Urlaub? Martin Krauss wird schlauer auf Bergen

Gipfel der Erholung

Am Strand herrscht nichts als die pure Langeweile. Nur wer Urlaub in den Bergen macht, gewinnt Abstand und womöglich die eine oder andere Erkenntnis.

Kurz gesagt, lautet die These, die die geschätzte Redaktion der Jungle World von mir begründet und von der notorisch widersprechenden Frau Wittich bestritten wissen will, dass Berge hui, Meere hingegen pfui sind, zumindest wenn es um Urlaubsziele geht. Nun erreichte mich die Anfrage, zu diesem Thema etwas zu schreiben, als ich gerade im Zug nach Langeoog war, eine Nordseeinsel, auf der ich ein paar Tage Urlaub machte. Soll heißen: Wenn ich hier nun den Gebirgsurlaub mit Wandern, Bergsteigen, Klettern und Gebirgspanoramen plus Bayerns, Österreichs, Schweizer und Tiroler Küche lobe und mich nicht so lobend über Strandurlaube in Nah und Fern äußere, habe ich ein Glaubwürdigkeitsproblem.
Aber ich fahre ja wirklich gerne in die Alpen und in andere Gebirge, mache dort wirklich gerne, was man da halt so macht und esse wirklich gerne die tendenziell deftigen Gerichte, die dort aufgetischt werden. Und weil »das mensch­liche Wesen«, also unter anderem auch ich, »kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Ab­straktum« ist, wie wir aus Marx’ 6. Feuerbach-These wissen, sondern »in seiner Wirklichkeit (…) das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« , so hat die Frage, ob ein Mensch, so er denn überhaupt (und hoffentlich) über die Mittel verfügt, in Urlaub fahren zu können, den Strand oder die Gipfel bevorzugt, doch eine gesellschaftliche Bedeutung.

Berge liefern mir Abwechslung: Das sind die so unterschiedlichen Wege und Tritte, die bestiegen werden, das sind die verschiedenen Grüntöne der Wiesen und Wälder, die diversen Grautöne der Gesteine, die unterschiedlichen Baustile der Häuser und Gehöfte, die markanten Formationen der Gipfel und Bergketten, die vielfältigen regionalen Unterschiede, was Essen und Trinken angeht und noch vieles mehr. Diese Abwechslung mag ich sehr, und ich vermisste sie, wenn ich nur einen Strandurlaub buchte. Berge bieten mir die Möglichkeit, mich selbstbestimmt und viel­fältig zu bewegen und mich dabei gleichzeitig mit der natürlichen Umwelt auseinanderzusetzen (die, ich weiß, ja keine Natur mehr ist, auch wenn unsereins dazu Natur sagt, sondern Kultur, kulturalisiertes Gelände – aber auch darüber kann ich während einer Wanderung gut nachdenken).
»Dialektik der Alpen« hat Arnold Zweig einen ­Essay genannt, in dem er versucht, die europäische Geschichte der letzten 4 000 Jahre zu beschreiben. So groß waren ihm die Alpen, so bedeutend und wirkungsmächtig, dass er, obwohl nach geglückter Flucht aus Nazideutschland in Haifa, bekanntlich eine Mittelmeerstadt, lebend, vor allem an dieses europäische Hochgebirge dachte, um abendländische Kultur zu beschreiben: »Ihre Gipfelwelt, gelagert um den Riesen Montblanc, wurde sinnbildlich für alles, was sich aus den Niederungen des Alltags und der Zeit in Einsamkeit und Ewigkeit erhebt.« Zweig fügte den schönen Gedanken an: »Die Geschichte der Alpen gibt im Groben und Abgekürzten die Geschichte Europas, das heißt, unserer Gesittung.«

Wenn ich jetzt behauptete, dies sei meine Motivation, in die Berge zu gehen und dort sowohl zu wandern als auch zu klettern, löge ich. Mir gefällt, auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob ich ihn richtig verstanden habe, einfach Zweigs Gedanke und ich mache ihn mir zueigen. Meine Motivation hat eher mit einer historischen Erfahrung zu tun, die sowohl individuell als auch in großem vergesellschafteten Rahmen zutrifft: Berge sind Fluchtorte, sie stellen Möglichkeiten des Rückzugs dar, wahlweise um drohender Gefahr zu entgehen oder einfach um zu Abstand und Reflexion zu gelangen.
Das gefällt mir, und das vermisse ich beim Strandurlaub, auch wenn ich ja gerne gegen brechende Wellen anschwimme, mich auf Wogen treiben lasse oder einfach längere Distanzen kraule. All das ist schön, aber es füllt keinen Urlaub aus, nicht mal einen ganzen Tag. Wandern hingegen halte ich sehr lange aus. Es ist ja nicht so, dass man beim Strandurlaub »mal nichts tun« könnte, dass man »abschaltet«. Was der strand­urlaubende Mensch macht, wenn er aus dem Meer kommt, ist: im Sand liegen, sich eincremen, zum Kiosk bummeln, das Ordern von Pommes rot-weiß und letztlich den in den Alpen undenkbaren, überflüssigen Entschluss fassen, jetzt mal den Spiegel oder die Bild zu kaufen.
Weil der Mensch eben nicht nichts tun kann, finde ich es attraktiver, Berge zu erwandern und zu erklettern und so vielleicht irgendwas zu begreifen. Was ich also eigentlich sagen wollte – oder auch sollte – ist: Berge hui, Meere pfui!