Ein Besuch der Gedenkstätte für die Opfer der NS-»Euthanasie« in Bernburg

Die Tötungsklinik von Bernburg

Zu den ersten Opfern des systematischen Massenmords der Nazionalsozialisten gehörten psychisch kranke und behinderte Menschen. Im Rahmen des »Euthanasie«-Programms töteten die Nazis 250 000 Menschen. Ein Besuch in einer der wichtigsten daran beteiligten Kliniken in Bernburg, die heute eine Gedenkstätte ist.

Es ist ein kalter Dienstagvormittag im beschaulichen Bernburg, mitten in Sachsen-Anhalt. In der kleinen Industriestadt befindet sich eine Vielzahl von Kliniken. Hier kann man auch die Gedenkstätte für die Opfer der NS-»Euthanasie« besuchen. Dem Tötungsprogramm, dessen Name aus dem griechischen Wort für »schöner Tod« hergeleitet wurde, fielen zwischen 1939 und 1943 mehr als 250 000 Menschen zum Opfer.
Der Nebel lässt einen an diesem Tag nur wenige Hundert Meter weit sehen. Auf dem Weg zur heutigen Landesklinik für Psychiatrie und Neurologie sieht man keine Menschenseele. Die Straße an der gelben Backsteinmauer, die das Klinikgelände umgibt, ist nach Olga Benario benannt, der deutsch-jüdischen Kommunistin, die lange Zeit in Berlin politisch aktiv war und am 23. April 1942 von den Nazis in der »Euthanasie«-Anstalt in Bernburg ermordet wurde. Nach ihr ist auch die »Galerie Olga Benario« in Berlin-Neukölln benannt, die in den vergangenen Jahren mehrmals Ziel von rechtsextremen Anschlägen wurde.
Wie präsent sind dieser Ort und die grausamen Taten der Nazis im öffentlichen Bewusstsein der Stadt überhaupt? Schließlich war Bernburg eine der sechs zentralen Tötungsstätten, in denen der organisierte Massenmord durch Giftgas an Menschen mit Behinderung, KZ-Häftlingen und marginalisierten Gruppen stattfand. Anders als in vielen anderen Städten, in deren unmittelbarer Umgebung sich ein größeres Konzentrationslager befand und die mit dem Grauen unmittelbar verbunden sind, scheint das Gedenken in Bernburg eine eher geringe Rolle zu spielen.
Das sieht die Leiterin der Gedenkstätte, Dr. Ute Hoffmann, anders: »Die Gedenkstätte ist in der Stadt präsent.« Ob nun in positiver oder in negativer Hinsicht sei dahingestellt, sagt die promovierte Historikerin.
Von den 214 000 Besuchen in den landeseigenen Gedenkstätten entfielen im Jahr 2011 rund 8 900 auf die Gedenkstätte auf Bernburg.
Die ehemalige Gasmordanstalt besteht aus einem eher unscheinbaren zweistöckigen Gebäude mit Keller und Dachgeschoss. Auf der Bank vor dem Eingang machen einige junge Männer, die nicht gerade freundlich blicken, offenbar Pause. Drinnen angekommen, geht es geradeaus in den Keller, rechts nach oben zu den Seminarräumen. Der Weg nach unten führt an zwei originalen Schildern vorbei. Auf einem steht: »Gas, Hauptabsperrschieber Kellereingang links, 21m«. Es ist nicht ganz klar, ob es dabei um die reguläre Gaszufuhr oder, wie man eher vermutet, um das Gas geht, das zur Tötung eingesetzt wurde.
Es herrscht absolute Stille – zumindest scheint die Gedenkstätte leer zu sein. Es ist ein wenig merkwürdig, sich in dem langen Kellergang völlig allein zu befinden. Tageslicht strömt durch die Kellerfenster auf der rechten Seite, vor denen Leinwände hängen, die mit Zitaten bedruckt sind: »… dass das Unkraut vernichtet werden müsse – NS-Zwangssterilisation«, »Euthanasie« und »Ermordung von KZ-Häftlingen in Bernburg« steht auf der ersten Leinwand gleich am Eingang des Kellerraums.
Einige Meter weiter zeigt ein Miniaturmodell des damaligen Geländes mit Pfeilen den Weg, den die Busse fuhren, um die Menschen in der Tötungsanstalt abzuliefern. Um nicht aufzufallen, wurden die Busse damals in einer Garage geparkt, die direkt mit dem Erdgeschoss der Anstalt verbunden war. Erst nach Schließung der Garage ließ man die Insassen aussteigen. Im Erdgeschoss fand die Entkleidung, Registrierung und ärztliche Begutachtung statt, in deren Rahmen eine fiktive Todesursache festgelegt wurde.

Bundesweit erinnert heute das mobile »Denkmal der grauen Busse«, das bereits an verschiedenen Schauplätzen der Euthanasiemorde stand, an die Gräueltaten und an jene Fahrzeuge, in denen die Menschen meist nachts abgeholt wurden.
Der Schornstein auf dem Modell direkt neben der Tötungsanstalt gerät einem unweigerlich in den Blick. Der Weg führt durch mehrere Stationen. Im ersten Raum links sind Arbeitsplätze mit drei Computern und zwei Ordnern, die den Besucherinnen und Besuchern zur freien Nutzung zur Verfügung stehen. Allgemeine Informationen über die NS-Zeit, die »Euthanasie«, die Geschichten der Opfer sowie Akten und gerichtliche Vernehmungsprotokolle des ehemaligen Personals sind hier frei zugänglich.
Nach der Entkleidung wurden die Menschen aus dem Erdgeschoss sofort in den Keller gebracht und ohne Umwege in die heute noch erhaltene Gaskammer geschickt: weiß geflieste Wände, schwarzweiß gefliester Boden. Die Kammer ist erschreckend klein. Zusammengepfercht wurden hier 60 bis 75 Menschen durch Kohlenmonoxid umgebracht – ein grausamer Erstickungstod.
In einem Vernehmungsprotokoll des ehemaligen stellvertretenden Leiters der Anstalt, Dr. Heinrich Bunke, der in den sechziger Jahren vor Gericht stand, ist zu lesen, die Opfer hätten »entspannt« ausgesehen, der Tod sei innerhalb von Minuten eingetreten. In Wahrheit kämpften die Eingesperrten bis zu 20 Minuten um ihr Leben, während die Leichenbrenner im Aufenthaltsraum gegenüber der Eingangstür warteten. Eine dicke Glasscheibe neben der Eisentür, eingelassen in die dicke Mauer, ermöglichte den Blick auf einen gewölbten Spiegel im Inneren, durch den der gesamte Raum einsehbar war. Bis zu eine Stunde blieb der Raum geschlossen, bevor das Gas abgesaugt wurde. Danach wurden die Körper von Erbrochenem und Exkrementen gesäubert. Durch eine weitere Tür wurden die verkrampften Körper in den Leichenraum gebracht und übereinandergeworfen. Der Weg ist mit schwarzen und glatten Terrazzoplatten ausgelegt, was den Abtransport erleichtern sollte. Zwischen der Gaskammer und der Leichenkammer befand sich zusätzlich der Selektionsraum. Noch heute steht dort ein gefliester Selektionstisch. Hier wurde den Opfern meist das Gehirn entnommen, um es für angeblich wissenschaftliche Zwecke zu untersuchen. Dr. Heinrich Bunke wurde erst 1988 im Revisionsverfahren wegen Beihilfe zum Mord in 9 200 Fällen nach mehreren Anläufen schuldig gesprochen und zu drei Jahren Haft verurteilt. Nach 18 Monaten wurde er entlassen.

Die NS-»Euthanasie« gehört in den Zusammenhang einer Debatte, die schon Anfang des 20. Jahrhunderts begonnen hatte. Diese verschärfte sich in den zwanziger Jahren unter dem Begriff der »Rassenhygiene«, der durch den Arzt und Publizisten Alfred Ploetz geprägt wurde. Es wurde geläufig, von »Ballastexistenzen« zu sprechen. Bereits 1903 forderte ein enger Mitstreiter von Ploetz, Wilhelm Schallmayer, in seinem Buch »Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker«, Eltern von behinderten Kindern durch Lohnpfändung oder Arbeitszwang zu bestrafen. Der Arzt und Sozialdemokrat Alfred Grotjahn machte die Erbanlagen für die Erkrankungen verantwortlich und befürwortete den totalen Ausschluss von Kranken, Behinderten und »sozial Auffälligen« aus der Gesellschaft. Er sprach 1912 davon, das Krankenhauswesen in den Dienst der »Ausjätung« zu stellen. Der Jurist Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche forderten ebenfalls in den zwanziger Jahre in einem gemeinsamen Buch die »Freigabe zur Vernichtung lebensunwerten Lebens«.
Unter den Nazis nahmen diese Forderungen schnell konkrete Gestalt an. Bereits am 14. Juli 1933 erließen sie das »Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses«. Zwangssterilisiert wurden Behinderte, Alkoholabhängige und »sozial Auffällige«. Der Propaganda zufolge lebten die Patienten in den Heilanstalten zu Lasten der hart arbeitenden und notleidenden Bevölkerung im Luxus. Schulkinder mussten im Mathematikunterricht ausrechnen, wie das Geld, das für die Betreuung und die Versorgung der Patienten in den Heilanstalten aufgebracht werden musste, anderweitig verwendet werden könnte. Filme warben für die Zwangssterilisation. 1941 verzichtete der Propagandastreifen »Ich klage an« auf jede Hemmung, die Tötung »lebensunwerten Lebens« offen zu verlangen.
Nichtsdestotrotz verlief die »Euthanasie«  – heute auch »Aktion T4« genannt, nach dem Büro in der Berliner Tiergartenstraße 4, in dem die Tötung geplant wurde – eher im Stillen ab. Die Totenscheine wurden mit falschen Todesdaten ausgestellt, damit die Krankenkassen länger Geld für den Pflegeplatz bezahlten. So wurden viele »Eutha­nasie«-Morde finanziert. Man wies zudem unterschiedliche Sterbeorte aus, um auffällige Häufungen von Todesfällen in bestimmten Regionen zu vertuschen. Den Hinterbliebenen wurde unter der Vortäuschung dieser falschen Tatsachen mit standardisierten Schreiben das Beileid über den »plötzlichen Tod« ihrer Angehörigen mitgeteilt.
Zwischen Januar und Oktober 1940 wurden in Brandenburg bei Berlin mehr als 9 000 Menschen im Rahmen der »Aktion T4« ermordet, danach wurde das Programm nach Bernburg verlegt. Dazu mussten Teile der dortigen Anhaltischen Nervenklinik geräumt werden. Der Chemiker August Becker gab in seiner Aussage vom April 1960 zu Protokoll: »In Brandenburg waren keine Menschen mehr zu vergasen, das Gebiet war erschöpft.«
Zwischen November 1940 und August 1941 wurden in Bernburg in der als »Heil- und Pflegeanstalt« ausgewiesenen Mordstätte mehr als 9 000 Menschen im Rahmen der »Aktion T4« umgebracht. In Brandenburg wie in Bernburg geschah dies unter dem leitenden Arzt Dr. Irmfried Eberl, der später im Range eines SS-Untersturmführers als leitender Kommandant im Vernichtungslager Treblinka die systematische Ermordung von Juden und Roma mitorganisierte. Er war einer der 92 »Experten« aus dem »Euthanasie«-Programm, die später in drei Vernichtungslagern eingesetzt wurden. Eberl beging 1948 während der Haft Selbstmord. Am 24. August 1941 wurden die Tötungen der »Aktion T4« in den zentralen Anstalten, in denen bis dahin über 70 000 Menschen ermordet worden waren, eingestellt. Unter anderem, weil die Proteste aus den Kirchen zugenommen hatten. Aber das Morden ging weiter.
In der zweiten Phase der »Aktion T4« erfolgten die Tötungen dezentral und hauptsächlich durch Nahrungsentzug und Gift. Im Rahmen der »Sonderbehandlung 14f13« wurden in Bernburg zwischen 1941 und 1943 unter Aufsicht der SS zudem mehr als 5 000 KZ-Häftlinge aus umliegenden Lagern ermordet. Betroffen waren vor allem erkrankte und jüdische KZ-Häftlinge. Auch Olga Benario war Opfer dieser »Sonderbehandlung«, was im NS-Sprachgebrauch für die physische Vernichtung stand. Die Häftlinge kamen unter anderem aus den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Buchenwald. Erst im Sommer 1943 wurde das Gelände der »Heil- und Pflegeanstalt« an die Anhaltische Nervenklinik übergeben.

Die heutige Gedenkstätte entstand als öffentlicher Ort erst Ende der achtziger Jahre. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) stellte 1952 erstmals eine Urne in der Gaskammer als Zeichen des Erinnerns auf. Später waren es engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Klinik, die 1982 eine erste, nicht öffentliche Ausstellung installierten. Als der damalige DDR-Bezirk Halle, unter dessen Verwaltung die Stadt Bernburg fiel, die Bemühungen um eine Gedenkstätte unterstützte, wurde der Ort restauriert und 1989 eröffnet. Seit 2007 ist die Gedenkstätte in Trägerschaft der Stiftung der Gedenkstätten Sachsen-Anhalt. Ein Jahr zuvor gründete sich der Förderverein der Gedenkstätte für die Opfer der NS-»Euthanasie« e. V., der heute mit über 20 Mitgliedern die Arbeit der Gedenkstätte unterstützt. Partner sind unter anderem das AJZ Dessau und andere Gedenkstätten. Heute versucht die Gedenkstätte, mit Vorträgen, Seminaren und Workshops zum historischen Gedenken und zum Antirassismus einen Beitrag zur Demokratieerziehung zu leisten, etwa durch Gruppenführungen und Schulungen für Lehrerinnen und Lehrer.
Dr. Ute Hoffmann ist seit Beginn der Trägerschaft durch das Land Sachsen-Anhalt im Jahr 1993 die Leiterin der Gedenkstätte. Weder zu den Tätern noch zu den Opfern hat sie familiäre Verbindungen, ihre Arbeit verrichtet sie aus »historischen und menschlichen Interesse«.
Ob es hier schon Probleme mit Neonazis gab? Schließlich haben die Jungen Nationaldemokraten (JN) Bernburg noch vor einigen Jahren zur »national befreiten Zone« erklärt, die JN unterhält hier ihre Landesgeschäftsstelle und die NPD erhielt bei den jüngsten Kommunalwahlen immerhin über drei Prozent der Wählerstimmen. »Bisher hat es keinerlei Vorfälle gegeben«, versichert Hoffmann. »Ausgeprägter Rechtsextremismus tritt seltener auf und dann vor allem bei Jugendlichen, aber nur, weil diese in ihrem Alter noch eher sagen, was sie denken – Erwachsene sind da zurückhaltender«, lautet ihre Erklärung.
Die Geschichte dieses Orts und der NS-»Eutha­nansie« ist in dem langen, grün-weiß gehaltenen Kellergang dargestellt, den man betritt, nachdem man das Krematorium verlassen hat. Dort, wo die Leichen verbrannt wurden, sind die Öfen durch zwei maßstabsgetreue Fotostellwände dargestellt.
Der Leichenbrenner Werner Dubois gab in seiner Aussage vor Gericht im Mai 1962 noch zu Protokoll, man habe später »zwei bis drei Leichen auf einmal verbrannt« und bereits die Öfen neu »beschickt«, bevor die Überreste der vorigen »Beschickung« verbrannt gewesen seien. Fotos von Opfern dieses Wahnsinns hängen an den Wänden. Sie geben der schier unfassbaren Masse an Opfern ihre vielleicht unbekannte, aber individuelle Geschichte und entreißen ihre Schicksale der Anonymität. Es sind Portraits von Jungen und Alten, Frauen und Männern. In welchem Akkord und mit welcher Gleichgültigkeit hier der Tod verwaltet und organisiert wurde, macht sprachlos. Abscheu, Wut und Verständnislosigkeit mischen sich nach dem Besuch dieses Ortes mit dem Gefühl, dass dieser Teil der NS-Geschichte viel zu wenig beachtet worden ist, dessen Täterinnen und Täter sich in den meisten Fällen weder in der DDR noch in der BRD der Strafverfolgung stellen mussten.