Hat junge arbeitslose Künstlerinnen und Künstler in Valencia getroffen

Arm, aber bunt

Die Stadt und Region Valencia gehören in Spanien zu den Gegenden mit der höchsten Arbeitslosenquote. Besonders junge Menschen und mehr noch Migranten trifft dies hart. Dennoch gilt Valencia vielen als attraktiver und preiswerter als andere spanische Städte.

Im besetzten Haus »Mayhem« in Valencia dröhnen Balkanbeats aus den Boxen: Shantel, Goran Bre­govic, Shazalakazoo. Fast alle tanzen sich die Seele aus dem Leib. Zumindest im Musikgeschmack scheinen sich europäische Jugendliche an diesem Abend ziemlich zu ähneln. Der DJ könnte genauso gut bei einer Party in Frankfurt am Main oder München auflegen.
Etwa 700 Menschen sind anwesend, unter ihnen Mario. Der 29jährige ist in seiner Freizeit Keyboarder einer französischen Chanteuse. Er gönnt sich eine kleine Verschnaufpause, wischt sich den Schweiß von der Stirn und holt an der Bar ein paar Bier zur Erfrischung. »Ich schreibe derzeit meine Doktorarbeit und bin seit drei Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität beschäftigt. Als ich angefangen habe, wurde ich meistens eingeladen, weil mein Gehalt so mickrig war, inzwischen ist es umgekehrt, weil ich einer der wenigen bin, die überhaupt noch einen Job haben«, erzählt er. An der Bar herrscht großer Andrang, mit so vielen Gästen haben die Veranstalter nicht gerechnet. Um zwei Uhr nachts gibt es kein Bier mehr. 15 Minuten später ist sogar der schlimmste Fusel verkauft und die feiernde Menge sitzt auf dem Trockenen, viele gehen nach draußen. Hier, 50 Meter vom Strand entfernt, verkaufen Anwohnerinnen und Anwohner Dosenbier für einen Euro, an diesem Abend ein lukratives Geschäft. Dieser Art informeller Arbeit gehen inzwischen immer mehr Valencianos nach. »Früher haben das vor allem die Sinti und Roma und die Migranten aus Afrika und Südamerika gemacht, inzwischen machen das aber auch die Spanier aus dem Viertel«, sagt Mario und holt sich weitere drei Bier bei einem der Händler. Auch hier ist an diesem Abend die Nachfrage ausnahmsweise deutlich größer als das Angebot.

Das besetzte Haus befindet sich in der ehemaligen Fischersiedlung El Cabanyal, was übersetzt so viel heißt wie »Hüttendorf«. Es ist ein denkmalgeschütztes Viertel, unweit der touristischen Zentren. Viele der Häuser sind Anfang des 20. Jahrhunderts von den ansässigen Fischern selbst gebaut worden. Die zentrale Lage weckte Begehrlichkeiten bei Investoren. Die Avenida de Vicente Blasco Ibanez, ein breiter Boulevard, sollte bis zum Meer ausgebaut werden und mitten durch das Viertel führen. Hunderte der einstöckigen Jugendstilhäuschen sollten abgerissen werden, um Platz zu schaffen für Hotels und Luxuswohnungen. Ein großes Banner im »Mayhem« spielt darauf ironisch an: »Blasco Ibanez, von hier bis nach Ibiza!«
Bereits vor drei Jahren schickte die valenzianische Bürgermeisterin Rita Barberá vom rechtskonservativen Partido Popular (PP) Planierraupen in das Viertel. Dass es immer noch steht, ist vor allem der inzwischen abgewählten sozialdemokratischen Zentralregierung in Madrid zu verdanken, die den Abriss im letzten Moment mit Hinweis auf den Denkmalschutz untersagte. Der Konflikt hat sich etwas gelegt, seit der spanische Immobilienboom vorbei ist. Zugleich haben viele Jugendliche aus dem Viertel eben deswegen ihre Jobs verloren. Dieselbe Entwicklung, die manchen Bewohnerinnen und Bewohnern des Viertels ihr Heim gerettet hat, hat auch viele den Arbeitsplatz gekostet.

In Valencia ist die Situation besonders schlimm. Nicht umsonst wird die gleichnamige Autonome Gemeinschaft, zu der die Provinzen Alacant, Castelló und Valencia gehören, in anderen Landesteilen inzwischen abwertend als das »Griechenland Spaniens« bezeichnet. Ein trauriges Fanal dafür ist die Bauruine des neuen Stadions des FC Valencia: Ein riesengroßer Rohbau, für dessen Fertigstellung das Geld fehlt – was im fußballverrückten Valencia schon etwas heißen will. Viele Menschen haben im Zuge der Immobilienkrise ihre Häuser verloren. Schilder an Häuserwänden mit dem Hinweis »Zu verkaufen« gehören zum Stadtbild und sind an nahezu jedem größeren Gebäude zu finden. Gekauft werden die inzwischen sehr günstigen Wohnungen häufig von Britinnen und Briten, die die größte migrantische Gruppe in der Stadt stellen. Wahrscheinlich sind die meisten von ihnen eher vor dem englischen Wetter geflohen als aus wirtschaftlichen Gründen.
Die Erwerbslosenquote hat sich in Spanien seit 2008 verdreifacht. Die Jugenderwerbslosigkeit liegt inzwischen bei 52,1 Prozent. Dabei hat die Autonome Gemeinschaft Valencia in Spanien die dritthöchste Quote nach Andalusien und Ceuta, innerhalb der europäischen Regionen liegt sie auf Platz acht. »Es ist nicht so, dass jeder zweite in unserem Alter nicht arbeitet, es handelt sich vor allem um schlechte Arbeit und um informelle Arbeit«, erläutert Julia Martinez Prat das Problem. Sie ist 26 Jahre alt und hält sich als Künstlerin und Angestellte in einem Nachtclub über Wasser. Ihre Bilder verkauft sie als Postkarten im Internet. »Die Verträge sind kurzfristig, wenn es denn überhaupt welche gibt. Man erwirbt kein Recht auf Sozialleistungen und macht unbezahlte Überstunden.«
Kreativarbeiterinnen und -arbeiter stellen einen nicht unwesentlichen Teil der jungen Erwerbstätigen in Valencia. Vor allem dank ihnen bleibt die Stadt trotz der sozialen Misere attraktiv. Valencia wirbt mit seinem vielseitigen kulturellen Angebot. Und tatsächlich gibt es Vernissagen und Ateliers, wohin das Auge blickt. Besonders die Street-Art-Szene ist groß und bestimmt das Stadtbild. Die sozialen Probleme, denen sich eine gut ausgebildete, aber ihrer Zukunftsaussichten beraubte Generation gegenübersieht, werden an den Wänden der Mittelmeermetropole verarbeitet. Auch renommierte Street-Art-Künstler wie Blu haben zur Verschönerung der Stadt beigetragen.

»Man darf sich aber von dem großen Angebot nicht täuschen lassen«, warnt Julia. »Insgesamt ist kulturell deutlich weniger los als noch vor vier Jahren. Zwar gibt es viele Ausstellungen und Künstler und es sieht aus, als hätten gerade die Jungen viel Zeit, um kreativ zu sein, aber der Lebensstandard ist unglaublich gesunken. Früher waren Freigetränke auf einer Vernissage üblich, heutzutage können sich viele Künstler das schlicht nicht mehr leisten. Die schwierige Situation wird noch dadurch verschärft, dass der Partido Popular in der Stadt lieber das ganze Geld in große Veranstaltungen wie die Formel 1 steckt, aber werben tun sie mit der Kunstszene natürlich trotzdem gerne.« Eine Kritik, der man in Valencia oft begegnet. Nur in wenigen spanischen Städten werden Gelder so offensichtlich veruntreut wie hier. Während in Bereichen wie Bildung, Gesundheit und Sozialem schon seit Jahren streng gespart wird, gab es Investitionen in großangelegte Prestigeobjekte. Korruption spielte dabei eine nicht unwesentliche Rolle.
Julia kommt aus Cadiz, einer der wenigen Gegenden mit einer noch höheren Jugendarbeitslosigkeit. Mit Anfang zwanzig ist sie von zu Hause aus- und nach Valencia gezogen. Viele ihrer Altersgenossen können sich eine eigene Wohnung oder auch nur ein kleines WG-Zimmer nicht leisten. Mit weit über 30 Jahren noch bei den Eltern zu wohnen, ist nicht ungewöhnlich. Das hängt gewiss nicht mit einer angeblich südländischen Mentalität zusammen, in der die Familie wichtiger wäre als in den atomisierten Gesellschaften Nordeuropas, oder damit, dass spanische Machos gerne bei Mama bleiben, sondern schlicht mit der miserablen Situation auf dem Arbeitsmarkt. »Von meinen Bekannten leben nur die wenigsten noch bei ihren Eltern, finanziell abhängig von ihnen sind die meisten aber dennoch. Und das ist schwierig, da auch viele der Eltern ihre Arbeit verloren haben. Aber die Älteren erhalten wenigstens noch etwas mehr Sozialleistungen«, erzählt Julia. Durch die steigenden Arbeitslosenzahlen und die sich seit Jahren nicht verbessernde ökonomische Situation laufen auch die Sozialleistungen bei immer mehr Menschen aus. Viele wissen nicht einmal mehr, wie sie die Miete bezahlen sollen.
Valencia gefällt Julia dennoch sehr gut. »Natürlich mag ich die Stadt sehr gerne, die große Kunstszene und den Strand. Ich bin aber auch hergekommen, weil ich mir den Lebensunterhalt in Madrid oder Barcelona einfach nicht leisten könnte. Außerdem ist Valencia flach, hier komme ich wenigstens überall mit dem Fahrrad hin«, sagt sie und lacht. Die »coole Prekarisierung« hat Valencia erreicht. Dabei handelt es sich aber nicht nur um junge Menschen, die sich bewusst für ein Leben abseits von Nine-to-Five-Jobs entschieden haben und dafür materielle Einbußen in Kauf nehmen, sondern auch um viele, die wirklich jeden Euro brauchen, um über die Runden zu kommen, und schlicht nichts anderes finden, womit sie etwas dazuverdienen könnten. »Selbst wer bei Starbucks arbeiten möchte, braucht inzwischen einen Universitätsabschluss oder Kontakte – und so etwas gehört noch zu den besseren Jobs«, sagt Julia.
Wegen der insgesamt miserablen Situation der Lohnabhängigen in Spanien können junge Leute kaum noch Forderungen stellen, egal wie gut sie ausgebildet sind. In dieser Lage kürzt die konservative Regierung von Mariano Rajoy auch noch die Ausgaben für Bildung. Das Geld werden sich viele Universitäten bei den Studierenden wieder zurückholen. Die Gebühren steigen, das Studium wird immer teurer. Damit entfällt für immer mehr junge Spanierinnen und Spanier die Möglichkeit, bei drohender Arbeitslosigkeit ein Studium zu beginnen, um sich irgendwie sinnvoll zu beschäftigen.

An dieser Situation werden auch die Proteste vorerst nichts ändern, an denen sich in Valencia im vergangenen Sommer Zehntausende beteiligten, die mitunter wochenlang den zentralen Platz besetzt hielten. Auch der sogenannte Valencianische Frühling, also die Demonstrationen von Schülerinnen und Schüler zu Beginn des Jahres gegen die miserablen Lernbedingungen (Jungle World 10/12), die die Proteste des Sommers wieder aufflammen ließen, wird die Regionalregierung nicht zum Einlenken bewegen. Sie hat keinerlei Interesse daran, ausgerechnet das Bildungssystem zu verschonen. Das Sparen gilt als alternativlos und die Protestierenden machen ihr Kreuzchen in der Regel sowieso nicht beim PP. Ironischerweise haben die Proteste die Rechtskonservativen eher gestärkt, da das Wahlsystem in Spanien die großen Parteien stark bevorzugt und vor allem die sozialdemokratische Partei PSOE Stimmen an kleine linke Parteien verloren hat. Somit macht sich die Bewegung, die gar nichts mit Parteien zu tun haben möchte, unfreiwillig zu Gehilfen ihrer Gegner. Im vergangenen November bekam der PP landesweit die absolute Mehrheit der Parlamentssitze, obwohl nur 10,8 der 35,8 Millionen spanischen Wahlberechtigten für die Rechtskonservativen stimmten.
Rajoy galt außerdem als einer der schärfsten Kritiker der einigermaßen liberalen Einwanderungspolitik unter seinem sozialdemokratischen Vorgänger José Luis Rodríguez Zapatero. Während viele junge Spanierinnen und Spanier das Land verlassen, um Arbeit zu finden, ist vom PP keine liberale Einwanderungspolitik zu erwarten. Dennoch ist Spanien zum Einwanderungsland geworden, und auch Rajoys Regierung wird daran nichts ändern.
Einer der Menschen, die viele Wählerinnen und Wähler des PP lieber nicht in ihrem Land haben wollen, ist Amadou*. Er trägt ein weißes Unterhemd, genießt das erste Bier des Abends und sieht überanstrengt aus. Vor ein paar Jahren ist er aus Westafrika nach Madrid gekommen und lebte zunächst dort. Er ist kein anerkannter Flüchtling. 2007 legalisierte die sozialdemokratische Regierung durch eine Gesetzesänderung Hunderttausende zuvor illegale Immigranten. Das klingt nach einem erfreulichen Schritt, allerdings wurde gleichzeitig die Anstellung von sogenannten Papierlosen mit hohen Strafen belegt. Seit der ökonomischen Krise ist es für Menschen wie Amadou fast unmöglich geworden, irgendwo Arbeit zu finden. Denn westafrikanische Migrantinnen und Migranten stehen in der Hackordnung ganz unten, gerade jetzt, wo auch viele junge Spanierinnen und Spanier bereit sind, für wenig Geld schwerste Arbeit zu leisten. »Zuerst bin ich nach Madrid gegangen und fand es da auch schön, aber ich habe dann einfach keine Arbeit mehr gefunden. In Valencia bekomme ich zwar auch nichts, aber zum Glück braucht man hier auch nur sehr wenig Geld, um über die Runden zu kommen«, sagt Amadou. Auf die Frage, was er tue, um sich über Wasser zu halten, antwortet er: »Ach, so dies und das«, und zwinkert.

* Name von der Redaktion geändert.