Die größte Mülldeponie Lateinamerikas wurde geschlossen

Mangroven statt Müll

Die größte Mülldeponie Lateinamerikas nahe Rio de Janeiro wurde geschlossen. Sie soll durch ein modernes Abfallverarbeitungszentrum ersetzt werden. Für ehemalige Müllsammler gibt es Sozialpläne.

Wer auf dem 50 Meter hohen Hügel in Jardim Gramacho steht, an der Küste von Duque de Caxias, der Nachbarstadt am nördlichen Rand von Rio de Janeiro, hat einen wunderbaren Blick auf die malerische Guanabara-Bucht. Eingefasst von den Ausläufern der Serra do Mar, lässt sich im Süden, wenn das Wetter es erlaubt, sogar der Zuckerhut erkennen. Sollte jemand trotz der atemberaubenden Landschaft unbedachterweise atmen, wird er oder sie schnell merken, woraus der Hügel besteht. Auf 140 Hektar türmen sich hier 60 Millionen Tonnen Müll, die in 34 Jahren angehäuft wurden. Nur mit einem löchrigen Zaun begrenzt, erstreckt sich das Gelände bis an die Küste. Die giftige Gülle fließt ungeklärt in die Bucht und hinterlässt einen dunklen, kilometerlangen Film im Wasser. Es stinkt zum Himmel.
Im Jahr 1978 noch während der Militärdiktatur eröffnet, war die Müllkippe eigentlich nur für ein Drittel der jährlichen Menge angelegt, die tatsächlich anfiel, und sollte spätestens nach 20 Jahren wieder schließen. mangelung von Alternativen wuchs die Anlage mit der Zeit unkontrolliert weiter, bis sie schließlich größer war als das Stadtviertel, in dem sie liegt: Jardim Gramacho. Am 1. Juni wurde auf der bislang größten Mülldeponie Lateinamerikas die letzte Fuhre abgeladen. Zu diesem Anlass haben sich – zum wahrscheinlicht ersten und einzigen Mal – Rios Bürgermeister Eduardo Paes und Brasiliens Umweltministerin Izabella Teixeira auf dem Hügel eingefunden. In einem symbolischen Akt bedecken sie mit Bulldozern den letzten Abfallhaufen mit roter Erde. Die Ministerin erinnerte sich: »Während des ersten großen UN-Umweltgipfels 1992 war Gramacho der Schandfleck der Stadt.« Sie sei froh, dass nun zum Nachfolgegipfel Rio+20 dieser Schandfleck endlich beseitigt sei, für sie sei dies ein »historischer Moment«.

Der historische Moment, den die Ministerin meint, ist der Beginn einer seit 20 Jahren diskutierten »Nationalen Politik der festen Abfälle« (PNRS), die vorsieht, sämtliche offenen Mülldeponien Brasiliens zu schließen und durch moderne Müllverwertungsanlagen zu ersetzen. Der ehrgeizige Plan sieht vor, dass die noch existierenden 2 900 offenen Deponien des Landes bis 2014 geschlossen werden. Ein unrealistisches Vorhaben, wie das Institut für angewandte Wirtschaftsforschung (Ipea) in einer im April veröffentlichten Studie feststellt. Für die täglich landesweit anfallenden 183 000 Tonnen Müll gebe es noch nicht einmal ansatzweise ausreichende Alternativen. Es wurden Befürchtungen laut, dass sich nach der Schließung der Deponien überall in der Stadt ­illegale Müllkippen bilden könnten. Das ist in Mexiko-Stadt geschehen, als im Dezember der dor­tige Bordo Pontiente seine Tore schloss und sich der Abfall in allen Winkeln der Stadt sammelte.
Rio scheint besser vorbereitet zu sein. Das neue Abfallverarbeitungszentrum (CTR) im 75 Kilometer entfernten Seropédica ist bereits seit April vergangenen Jahres in Betrieb. Nach Angaben des Landesumweltministeriums handelt es sich um eine der modernsten Anlagen Lateinamerikas, der Boden sei dreifach versiegelt worden, die Gülle werde aufgefangen, der Müll vorsortiert und jede Lieferung sofort mit Erde bedeckt. Offizielle Messdaten, anhand derer dies nachvollziehbar wäre, gibt es für das CTR ebenso wenig wie es solche Daten jemals für Gramacho gab. Fest steht aber, dass die neue Anlage ihren Preis hat.

Bisher musste die Stadt für jede Tonne Müll, die auf dem Jardim Gramacho landete, umgerechnet rund 2,30 Euro bezahlen. In Seropédica steigen die Kosten auf das Vierfache. Bei 9 000 Tonnen täglich ergibt das eine erhebliche Summe. Carlos Minc, Umweltminister des Bundesstaates Rio de Janeiro, ist sich des Problems bewusst: »Wir wissen, dass es für einige Gemeinden schwer ist, diese Kosten zu tragen, und weil wir nicht wollen, dass sie den Müll unkontrolliert entsorgen, beteiligt sich das Land an den Kosten.«
Bisher sind es zwei Gemeinden, die von der Unterstützung des Landes profitieren können. Der Bundesstaat Rio übernimmt etwa 80 Prozent ihrer Gebühren, 30 weitere Gemeinden wollen ebenfalls Anträge stellen. Allerdings ist zweifelhaft, ob sie angesichts der Korruption in der öffentlichen Verwaltung die Voraussetzungen erfüllen können. »Das Problem ist, dass die Gemeinden ihre Kassen in Ordnung haben müssen, um einen Anspruch auf die Subvention zu haben«, sagt Minc, »und das ist nicht immer der Fall.« An dem Zeitplan für die Schließung der verbleibenden 30 offenen Deponien im Bundesstaat Rio werde aber nicht gerüttelt.
Eine andere Möglichkeit, Kosten zu sparen, soll das Recycling-Zentrum bieten, das im Laufe des Jahres eröffnet wird. Für Recycling waren in Rio und im Rest des Landes bislang die Müllsammler, die sogenannten Catadores, zuständig. Weltbekannt wurden sie durch den für den Oscar nominierten Film »Waste Land« (2010), der die Arbeit des brasilianischen Künstlers Vik Muniz mit sechs dieser Müllarbeiter dokumentiert. Gemeinsam mit ihnen schafft er Kunstwerke aus Müll und schildert das Leben und die Arbeitsbedingungen seiner Protagonisten.
Ihr Schicksal wurde so erstmals einer breiten Öffentlichkeit bekannt, und nebenbei erhielten die Catadores mit Sebastião »Tião« Carlos dos Santos, einer der Hauptfiguren des Films, einen prominenten Fürsprecher. Als nationaler Botschafter der Catadores ist er mittlerweile ein gefragter Gesprächspartner in Brasília. Sogar Coca-Cola hat sein Potential erkannt und unterstützt seine »Vereinigung der Städtischen Deponie von Jardim Gramacho« (ACAMJG) logistisch und finanziell. Im Gegenzug darf der Konzern dos Santos’ Konterfei auf Dosen drucken. Ebenfalls bei der Schließung in Jardim Gramacho anwesend, erinnerte dos Santos noch einmal an das Schicksal seiner Kollegen: »Es ist das erste Mal, dass die Müllsammler anerkannt werden. Die Schließung wird als Modell für die Schließung von anderen Deponien in ganz Brasilien dienen.«
Zu wünschen wäre es. Jahrzehntelang haben die Catadores in relativer Unsicherheit gelebt. Im Grunde genommen waren sie sich immer bewusst, dass sie – juristisch gesehen – illegal an ihrem Arbeitsplatz waren. Niemals konnten sie sich sicher sein, ob und wann sie auf das Gelände gelassen wurden. Mit Geiern, Schweinen und Hunden mussten sie sich herumschlagen. Eine harte und unangenehme Arbeit, trotzdem konnten in Jardim Gramacho bis zu 3 500 Menschen dadurch sich und ihre Familien ernähren. Und sie gehörten nicht einmal zu den Ärmsten der Armen. Um den Abfall herum hatte sich im Laufe der Jahre eine eigene Recycling-Ökonomie gebildet: ein Kilo weißes Plastik für umgerechnet einen halben Euro, ein Kilo Karton für 14 Eurocent. Im Monat waren so für jeden bis zu 1 300 Euro drin – in Brasilien das Fünffache des Mindestlohns.

Anlässlich der Schließung ihres Arbeitsplatzes bekommen die Catadores jetzt eine Art Abfindung. Das ist keine Selbstverständlichkeit und das Ergebnis von jahrelangen Verhandlungen mit den Kooperativen der Müllsammler. 1 709 Personen, die nachweisen konnten, von oder im Müll zu leben, erhalten einmalig etwa 5 800 Euro. »Das ist nicht mehr als eine Anerkennung«, gibt Glória Christina Santos von der ACAMJG zu bedenken. Sie selbst hat 25 Jahre lang, seit sie elf war, als Müllsammlerin gearbeitet. Seit zwei Jahren ist sie mit der Koordination der Schließung und der Registrierung der Catadores beschäftigt.
Kein leichtes Unterfangen, wie sie berichtet. Viele ihrer Kollegen haben noch nicht einmal eine Geburtsurkunde, jeder fünfte war niemals auf der Schule. 70 Prozent der Müllsammler ­haben noch nie in ihrem Leben ein Bankkonto besessen, das aber ist eine Voraussetzung, um die Entschädigung zu erhalten. »Immerhin«, sagt sie, »die Zusammenarbeit mit Stadt und Sparkasse läuft bisher ziemlich gut. Es gab nur wenige Probleme. Anfangs standen 300 auf der Liste, die da nicht hingehörten, und 100 andere fehlten, aber das lässt sich klären. Das Wichtigste ist: Die Versprechen werden eingehalten und 1 460 Catadores wurden sogar schon ausbezahlt.« Die im neuen Recycling-Zentrum entstehenden 500 Arbeitsplätze werden mit Mitgliedern der Koope­rativen vom Jardim Gramacho besetzt. Den übrigen Arbeitern werden kostenlose Fortbildungskurse angeboten, außerdem wird das gesamte Viertel, in dem über 5 000 Familien wohnen, für acht Millionen Euro urbanisiert, Straßen und eine Kanalisation werden gebaut.
Diese Maßnahmen sind Teil einer Vereinbarung mit der Betreibergesellschaft des Novo Gramacho, des Neuen Gramacho, die sich über 15 Jahre die Rechte auf das austretende Methangas gesichert hat. Gás Verde wird die Biogas-Anlage in Kooperation mit dem kalifornischen Unternehmen Firm Green betreiben. Teile der Anlage wurden schon 2009 eingeweiht, mit 80 miteinander verbundenen Schächten verarbeitet die Anlage bereits 6 000 Kubikmeter methanhaltiges Deponiegas pro Stunde, woraus ungefähr 2700 Kubikmeter Biogas gewonnen werden. Bis Ende des Jahres soll die Anlage auf 320 Schächte erweitert werden, dann können 9 000 Kubikmeter Biogas gewonnen werden.
Einziger Abnehmer ist eine Erdölraffinerie der staatlichen Petrobras in Duque de Caxias (Reduc), die per Pipeline beliefert wird, damit zehn Prozent ihres Energiebedarfs deckt und so fossile Brennstoffe im Volumen von 600 Millionen Litern Benzin jährlich einspart. Durch den Gasverkauf und den Handel mit CO2-Krediten verspricht sich das Unternehmen einen Gewinn von 180 Millionen Euro, 18 Prozent davon fließen in die Restrukturierungsmaßnahmen. Teixeira fasst zusammen: »Wir verbinden Umweltbewusstsein mit sozialer Inklusion. Mit Müll zu Arbeit und mit Müll zu Reichtum.« Auf der in Rio de Janeiro Ende  Juni stattfindenden UN-Umweltkonferenz Rio+20 werde man mit diesem Modell als Beispiel für Nachhaltigkeit werben.
Für die Öffentlichkeit ist der Hügel in Jardim Gramacho jetzt erst einmal geschlossen. Nach Berechnungen des Bundesstaates Rio wird es noch einmal 15 Jahre dauern, bis das Gelände wieder zivil genutzt werden kann. Dann, so der Plan der Stadt, soll das Gelände zu einem Naturpark umgestaltet werden, mit einem Mangrovenwald und hoffentlich auch sauberer Luft.