Sparpolitik und Proteste in der Euro-Zone

Der demokratische Ausnahmezustand

Während in immer mehr Euro-Staaten Rezession herrscht und die Kritik an der Sparpolitik lauter wird, werden autoritäre Maßnahmen diskutiert. In Italien wird der Einsatz der Armee gegen Proteste erwogen, in Spanien werden Gewerkschafter kriminalisiert.

Mit seinem smarten Lächeln taugt er kaum als Bürgerschreck. Dennoch gelang es Alexis Tsipras, die Euro-Zone binnen kürzester Zeit in helle Aufregung zu versetzen. Lauthals hatte der Vorsitzende des griechischen Linksbündnisses Syriza, der vergangene Woche zwischenzeitlich mit der Regierungsbildung beauftragt wurde, verkündet, das »barbarische Spardiktat« kippen zu wollen. Die Aktienkurse bewegten sich prompt nach unten, die Sparpolitiker Europas, allen voran die deutschen, hoben den Zeigefinger. Europa dürfe sich nicht von Griechenland »erpressen lassen«, mahnte etwa Michael Meister, der Vizefraktionsvorsitzende der Union im Bundestag.
Nicht, dass man bei den Konservativen etwas gegen eine erpresserische Politik hätte. Nur möchte man die wohl sich selbst vorbehalten. Wenn Athen weitere Mittel aus dem »Rettungsschirm« wolle, müssten zunächst »stabile Verhältnisse für die Fortsetzung der eingeschlagenen Sparpolitik« hergestellt werden, fasste Markus Ferber, der Chef der CSU-Gruppe im Europa-Parlament, die Position der Sparfront zusammen. Ähnlich äußerte sich auch Jörg Asmussen von der Europäischen Zentralbank (EZB): »Griechenland muss klar sein, dass es zu diesem vereinbarten Sanierungsprogramm keine Alternative gibt, wenn es Mitglied der Euro-Zone bleiben will.« Damit ist eine Rückkehr Griechenlands zur Drachme für die deutsche Regierung und Europas höchste Banker plötzlich kein Tabuthema mehr.

Nicht nur die Wahlergebnisse aus Grichenland, wo über 60 Prozent der Wähler Parteien gewählt haben, die das verordnete Sparprogramm ablehnen, versetzen die EU-Führungsmacht Deutschland derzeit in Unruhe. »Bedauerlicherweise«, wie Norbert Röttgen wohl sagen würde, kollidiert die deutsche Strategie zur Rettung des Euro auch mit den Auffassungen der französischen Wähler. Diese haben mit dem Sozialisten François Hollande jemanden in das Amt des Präsidenten gewählt, der sich explizit gegen die von seinem Vorgänger Nicolas Sarkozy und Angela Merkel vertretene Krisenpolitik stellt. Hollande, der erst für 2017 einen Haushalt ohne neue Schulden vorlegen will, rüttelt am europäischen Fiskalpakt, den er mindestens um einen Wachstumspakt ergänzt haben möchte.
Neben dem »Nervenkrieg« (Guardian) mit Griechenland eröffnete die Bundesregierung denn auch gleich den Disput mit dem designierten Präsidenten Frankreichs. Selbst dieser soll – darin ist man sich mit dem Vorsitzenden der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker, einig – gemaßregelt und auf Kurs gebracht werden. »Wir haben klare Verabredungen in Europa«, stellte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble fest, und diese seien unabhängig von Wahlen gültig, wie er gebieterisch betonte. Auch Merkel bekräftigte, dass für sie der Fiskalpakt »nicht zur Disposition« stehe. Der Widerspruch aus Frankreich ließ nicht lange auf sich warten: »Wir waren nicht bei der Wahl, damit es eine EU-Präsidentin namens Angela Merkel gibt, die allein über das Schicksal aller anderen entscheidet«, empörte sich der Sprecher der französischen Sozialisten, Benoît Hamon.

Immer deutlicher wird, dass das Fortschreiten der Krise auch den europäischen Demokratien Schaden zufügt. Wo wirtschaftliche Instabilität um sich greift, ist eine harte Hand gefragt. Die Möglichkeiten des Durchgreifens sind in demokratischen, zumal föderalen Ordnungen freilich begrenzt. Deshalb simuliert man die notwendige Autorität, indem man die Beteiligten auf eine gemeinsame Linie verpflichtet. Dieser Räson sollen sich nicht nur Tsirpas und Hollande, sondern zumal deren Wählerschaft unterordnen. Für unterschiedliche Auffassungen, die den Konsens der Autoritären aufweichen könnten, ist da kein Platz. Ein demokratischer Ausnahmezustand sozusagen. Dabei haben die Strategen des Sparkurses, die sich auf die Mär der »Alternativlosigkeit« stützen, nicht einmal wirtschaftliche Erfolge zu verbuchen, die eine solche Einengung rechtfertigen könnten. Ganz im Gegenteil.
War die Schuldenquote in den kriselnden Euro-Ländern zwischen 2000 und 2007 weitgehend konstant oder sogar rückläufig, explodierte sie seit dem Krisenjahr 2008. Wenn auch ein krisenbedingter Rückgang des Bruttosozialprodukts statistisch eine höhere Schuldenquote zur Folge hat, so kommt man nicht umhin festzustellen, dass die zunehmende Überschuldung der Staatshaushalte zu einem großen Teil das Resultat der Bankenrettungen, Kreditzusagen und Stützungsmaßnahmen sind, mit denen man ab 2008 der Krise begegnete. Die folgenden Austeritätsprogramme sind gewissermaßen die erste Rückzahlungsrate für jene kostspieligen Maßnahmen. Gleichzeitig bereiten sie den Boden für den nächsten Krisenschub. So vermeldeten im April die Statistikämter einen Rückgang der Industrieproduktion in Italien um 5,9, in Griechenland um 8,5 und in Spanien gar um 10,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Selbst beim »Musterschüler« Portugal, das die Sparauflagen bisher alle erfüllt hat, ging der EU-Frühjahrsprognose zufolge die Wirtschaftsleistung weiter zurück.
Kaum zu ermessen sind die sozialen Auswirkungen der bisherigen Krisenpolitik, wie insbesondere das Beispiel Griechenlands zeigt. Das Land meldet mittlerweile eine Arbeitslosenquote von 22,6 Prozent, bei Jugendlichen liegt sie gar bei 53,8 Prozent. Zudem stieg im vergangenen Jahr die Zahl der Obdachlosen um 20 Prozent an, allein die kirchliche Armenhilfe gibt täglich 250 000 Mahlzeiten an Bedürftige aus. Nicht zuletzt ist die Selbstmordrate in den vergangenen beiden Jahren um mehr als 40 Prozent gestiegen. Besserung und ein wirtschaftlicher Aufschwung sind nicht in Sicht. Vor diesem Hintergrund kommt die scheidende Entwicklungsministerin Anna Diamantopoulou zu einem dramatischen Urteil: »Es ist wie ein Krieg, wenn ein Land in 18 Monaten 20 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts verliert. Es ist wie ein Krieg, wenn in europäischen Großstädten wieder Verpflegungsrationen verteilt werden müssen.«
Wenn Tsirpas in dieser Situation die Sparauflagen zurückweist und die Einsetzung einer internationalen Kommission fordert, um zunächst zu ermitteln, woher die Schulden kommen und wer von ihnen profitiert, könnte man eigentlich wenig dagegen einzuwenden haben. Ungeachtet dessen gelten seine Forderungen hierzulande als »populistisch«. Ähnliche Vorwürfe muss sich auch Hollande gefallen lassen. Ihm wird vorgehalten, mit sozialistischen »Wahlgeschenken« um Stimmen geworben zu haben, die nun andere zahlen müssten. Dabei befinden sich die beiden Politiker durchaus in »bester Gesellschaft«. Dazu zählt nicht nur der Investment-Mogul George Soros, der jüngst der EU einen Zusammenbruch im Stil der Sowjetunion prognostizierte, sollte diese weiter ihr Heil in einem radikalen Sparkurs suchen. Auch der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman wird nicht müde zu betonen, dass Europa mit dem jetzigen Kurs »ökonomischen Selbstmord« begehe.

Es könnte auch ein politischer Selbstmord werden, drohen die sozialen Verwerfungen der Krise zudem politische Instabilität zu erzeugen. Seit dem Wahlsieg Hollandes wird in Europa zwar vermehrt über Wachstumspolitik gesprochen – auch ein EU-Wachstumspakt, der die Sparpolitik ergänzen soll, ist im Gespräch –, sonderlich effektiv dürfte diese allerdings nicht ausfallen. Eine stärkere Belastung der Haushalte oder schuldenfinanzierte Investitionen sind nach wie vor tabu. Sollte sich die Krisendynamik also fortsetzen, wird die Frage in den Vordergrund rücken, wie gesellschaftliche Stabilität herzustellen ist.
Bereits jetzt ist eine deutliche Verachtung demokratischer Prozesse in Europa zu beobachten, die sich – wie im Falle Griechenlands – sogar in unverhohlenen Vorschlägen äußert, dort ein Protektorat zu errichten. Zugleich reagieren die Regierungen immer unduldsamer auf Proteste und Widerspruch. Während etwa in Deutschland die »Blockupy«-Proteste verboten wurden, erwägt man in Italien gar den Einsatz der Armee bei Protesten. Besorgniserregend sind auch Nachrichten aus Spanien, wo verschiedene Gewerkschaften von einer Repressionswelle im Zuge des Generalstreiks Ende März betroffen sind. Eine generelle Einschränkung der Gewerkschaftsrechte wird derzeit vielerorts in Europa diskutiert.

Nicht zu vergessen ist die extreme Rechte, die auf ihre Chancen lauert. Und die wachsen in der Regel dort, wo soziale Verwerfungen und politische Instabilität zunehmen. Die Stärke dieser Kräfte besteht in Krisensituationen gerade darin, vermeintlich die Interessen sowohl von Deklassierten als auch Privilegierten bedienen zu können – das berüchtigte Bündnis aus »Mob und Elite«. Den einen versprechen sie Schutz durch die nationale Gemeinschaft, den anderen Stabilität durch autoritäre Regierungsformen.
Ob die extreme Rechte in Europa weiter erstarkt, wird deswegen davon abhängen, ob die linken Kräfte in Europa den Betroffenen der Krisenpolitik ernsthaft etwas bieten können. Damit kommt auch Hollande eine besondere Verantwortung zu, Erfolge in der Krisenbewältigung zu erzielen und nicht zu enttäuschen. Doch einer separaten Wachstumspolitik Frankreichs sind Grenzen gesetzt. Nicht nur sind Hollandes geplante Maßnahmen ohnehin bescheiden – zu nennen wäre etwa die Schaffung neuer Stellen im öffentlichen Dienst oder eine Millionärssteuer –, er muss sich zudem hüten, durch allzu weitreichende Maßnahmen von den internationalen Märkten abgestraft zu werden. Ganz davon abgesehen, dass auch eine keynesianische Wachs­tumspolitik keineswegs die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus löst.