Über das Buch »Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin«

Nolte mortale

Stalin soll Hitler erst zum Judenmord animiert haben. Das behauptet der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder in seinem Bestseller »Bloodlands«.

Es ist immer wieder versucht worden, den Massenmord des Nationalsozialismus und den des Stalinismus in Beziehung zueinander zu setzen und die Vernichtungspolitik der Nazis als Reaktion auf das Morden der Sowjets zu erklären. Das bedeutsamste Beispiel hierfür unternahm wohl Ernst Nolte, der damit den sogenannten Historikerstreit auslöste. Den jüngsten Versuch, in diese Richtung zu argumentieren, stellt das Buch »Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin« von Timothy Snyder dar, der als Historiker an der Universität Yale tätig ist. Es wurde bereits in 20 Sprachen übersetzt und hat es auch in Deutschland auf die Bestsellerliste geschafft. Snyder verspricht, die Grenzen der nationalen Geschichtsschreibung zu überwinden und eine transna­tionale Region zu untersuchen, die Polen, die Ukraine, Weißrussland, das Baltikum und die westlichen russischen Grenzgebiete umfasst. In diesen »Bloodlands« sollen Stalin und Hitler zwischen 1931 und 1945 insgesamt 14 Millionen Menschen ermordet haben. Das Buch enthält zahlreiche schockierende Schilderungen des nationalsozialistischen Terrors, dennoch gerät Snyder in geschichtsrevisionistische Abgründe.
Der Nationalsozialismus habe seinen mörderischen Charakter erst durch die Eroberung Polens und der Sowjetunion voll entfaltet, als ihm Millionen Juden in die Hände fielen, so Snyder. Von Stalins mörderischem Terror sei vor allem die nichtrussische Peripherie im Westen der Sowjetunion betroffen gewesen, wie etwa die Ukraine, wo zwischen 1932 und 1933 zirka 3,3 Millionen Menschen einer zum Teil staatlich organisierten Hungersnot zum Opfer fielen. Snyder räumt ein, dass es kaum Beweise dafür gibt, dass die Nazis sich von Stalins Terror »inspirieren« ließen oder »Säuberungsaktionen« mit der sowjetischen Regierung nach der Aufteilung Polens 1939 koordinierten. Es sei aber zu berücksichtigen, dass die Nazis mit den »Bloodlands« eine Zone erobert hätten, die bereits von Terror und Gewalt gezeichnet war. Ein Umstand, der weitere Gewalttaten begünstigt habe.
Jene Historiker, die versuchen, den Nationalsozialismus mit dem Stalinismus gleichzusetzen, sind mit dem Problem konfrontiert, dass sie die Einzigartigkeit der industriellen Massenvernichtung der Juden leugnen müssen. Snyder versucht dieses Problem zu umgehen, indem er die Bedeutung der Lager in beiden Systemen relativiert. Er argumentiert, dass fünf Millionen Juden östlich von Auschwitz umgebracht worden seien, die meisten davon nicht in Lagern, sondern von deutschen Erschießungskommandos und Einsatztruppen. Die Lager seien außerdem nicht die effizienteste Tötungsmethode gewesen, sondern Kugeln und Hunger. So erschossen 1941 Einsatztruppen und SS in Babi Yar zirka 34 000 Menschen an nur zwei Tagen. Die deutsche Führung setzte außerdem 2,6 Millionen sowjetische Kriegsgefangene gezielt dem Hungertod aus und ließ etwa eine halbe Million Menschen erschießen. Fraglich ist, ob man mit diesen quantitativen Vergleichen die Qualität der industriellen Massenvernichtung der Juden in den Lagern wirklich relativieren kann. Sonst könnte man auch behaupten, die Taiping-Revolution (1851–1864) in China sei mit 20 Millionen Toten ein historisch bedeutenderes Ereignis gewesen als der Holocaust. Auch die Bedeutung des Gulags relativiert Snyder, indem er mit einer Million Toten eine relativ niedrige Opferzahl angibt. Neun von zehn Häftlingen hätten das sowjetische Lagersystem überlebt, das von vielen Totalitarismus-Theoretikern für den Vergleich mit den nationalsozialistischen Todes­fabriken herangezogen wird.
Stalins Massenmord beginnt für Snyder mit der Hungersnot von 1932–33, die die sowjetische Regierung benutzt haben soll, um einen Massenmord an ukrainischen Bauern zu begehen. Wiederholt zieht er Vergleiche: Stalin habe 1933 die ukrainischen Bauern ausgehungert, auch die Nazis versuchten, mit dem »Hungerplan« 1941–42 die sowjetischen Städte auszuhungern. Die Nazis mussten allerdings eingestehen, dass sie den ursprünglichen Plan, 30 Millionen Sowjetbürger als »nutzlose Esser« verhungern zu lassen, nicht umsetzen konnten, weil ihnen die Truppen fehlten, um die Mangelregionen im Norden Russlands von den reicheren Regionen im Süden abzuschneiden. Im Kapitel über die Hungersnöte wird deutlich, wie selektiv Snyder mit seinen wissenschaftlichen Quellen umgeht. Er zitiert mehrfach die Historiker Robert Davies und Stephen Wheatcroft, ohne den Leser darüber zu informieren, dass die beiden die prominentesten Gegner der These vom Genozid an den Ukrainern durch die sowjetische Regierung sind. Davies und Wheatcroft argumentieren, dass die Hungersnot ein gesamtsowjetisches Phänomen gewesen sei und als Folge von Industrialisierung, Dürre und demographischer Entwicklung aufgetreten sei. Die Führung um Stalin sei zwar bereit gewesen, Bauern für die Industrialisierung zu opfern, trotzdem habe sie angesichts des Hungers die Abgabequoten von Getreide für die Ukraine mehrfach gesenkt und auch in einzelnen Fällen Hilfe geschickt, so Wheatcroft und Davies. Unbestritten ist, dass bis heute kein einziges Dokument gefunden wurde, in dem Stalin den Tod von ukrainischen Bauern durch Aushungern anordnete. Der »Hungerplan« der Nazis ist hingegen hinreichend dokumentiert. Das sollte auch Snyder zu denken geben, der in einem Interview mit dem Magazin Cicero behauptet, dass die Sowjets ihre Akten viel besser als die Deutschen geführt und ihre Verbrechen genauer dokumentiert hätten, da sie völlig davon überzeugt gewesen seien, die Geschichte auf ihrer Seite zu haben.
Nicht gerne werden die Anhänger der Totalitarismus-These daran erinnert, dass nach der Öffnung der sowjetischen Archive die Opferzahlen von Stalins Herrschaft deutlich nach unten korrigiert werden mussten. Auch Snyder nennt die mittlerweile allgemein anerkannte Zahl von zirka 680 000 exekutierten Menschen während der »Großen Säuberung« 1937–38.
Insgesamt wurden zirka eine Million Menschen von Mitte der zwanziger Jahre bis 1953 exe­kutiert. Zu Recht weist Snyder darauf hin, dass die »Große Säuberung« auch eine starke völkische Komponente hatte. Nachdem 370 000 »Kulaken« als »Klassenfeinde« getötet worden waren, fielen rund 85 000 Polen einer »Säuberungsaktion« gegen eine angeblich existierende Untergrundorganisation zum Opfer. Mitte der dreißiger Jahre begann die sowjetische Führung damit, »Völker«, die als illoyal galten, von den West- und Ostgrenzen ins Inland zu deportieren. Dies hatte wohl weniger mit dem Stalinismus als solchem zu tun als vielmehr mit dem gescheiterten Versuch der Sowjetunion, eine Art »Affirmative Action Empire« (Terry Martin) aufzubauen, in dem »ethnischen Minderheiten« eigene autonome Gebiete und besondere staat­liche Förderung gewährt wurden. Bald aber setzten sich sowohl die alte imperiale Logik als auch das Ideal von ethnisch homogenen Nationalstaaten wieder durch, die die Bolschewiki mit der Gründung der Sowjetunion eigentlich überwinden wollten.
Snyder kritisiert zwar die Engstirnigkeit natio­naler Geschichtsschreibung, verwendet aber dennoch Argumente, die von polnischen und ukrainischen Nationalisten gerne vorgetragen werden: Die Russen hätten unter der Herrschaft Stalins und dem Nationalsozialismus weit ­weniger gelitten als die Bewohner der »Bloodlands« wie zum Beispiel Weißrussen, Polen und Ukrainer. Nur ein kleiner Teil Russlands sei von der Wehrmacht besetzt worden. Unter den Opfern des Holocaust befänden sich nur zirka 60 000 russische Juden im Vergleich zu nahezu einer Million weißrussischer und ukrainischer Juden innnerhalb der Grenzen von vor 1939. Deutschland überfiel 1941 die Sowjetunion, die im Westen multiethnisches Grenzland war. Welchen Sinn macht es da, getötete Juden nach Nationalstaaten, die es zum Teil noch gar nicht gab, auseinanderzudividieren?
Zwar wurde nur ein Teil Russlands besetzt, doch starben auch Millionen russische Soldaten sowie über eine Million Bürger Leningrads als Folge des deutschen Vernichtungskrieges. Die Rote Armee leistete den entscheidenden militärischen Beitrag, um Europa vom Nationalsozialismus zu befreien. Danach wurde zwar Osteuropa mit repressiven »sozialistischen« Regimen überzogen, der Massenmord in den »Bloodlands« hatte jedoch ein Ende. Diese Tatsache kann Snyder nicht erklären. Er hält sogar den sowjetischen Partisanenkrieg gegen die Wehrmacht für »illegal«, der den Nazis einen weiteren Grund für Terror gegen die Zivilbevölkerung geliefert habe. Hätte Deutschland den Krieg gewonnen, so wäre der Holocaust jedoch nur der Beginn der Vernichtung weiter Teile der Bevölkerung im Osten gewesen.

Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, C. H. Beck, München 2011, 522 Seiten, 29,95 Euro