Das schwierige Leben im mexikanischen Naturparadies »Lagunen von Chacahua«

Umweltschutz kann man nicht essen

Umweltschutz ist eigentlich eine gute Sache. Doch in einem südmexikanischen Dorf, das in einem Nationalpark liegt, bestimmt der Natur- und Artenschutz das Leben vieler Bewohnerinnen und Bewohner. Sie fühlen sich nicht nur durch die Vorschriften und Verbote der staatlichen Umweltbehörde gegängelt, sondern werden in vielen Fällen auch daran gehindert, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Esteban liegt in der Hängematte vor seiner Holzhütte und erzählt Geschichten. Die Kinder tollen unter dem Palmendach herum und kreischen. Seine Frau Minga sitzt neben ihm und hört zu. Es regnet in Strömen.
Das südmexikanische Dorf Chacahua liegt im Nationalpark »Lagunen von Chacahua« an der Küste des Bundestaates Oaxaca. Esteban ist einer der wenigen Indigenen, die in Chacahua leben. Am Anfang war es für ihn nicht einfach, hier akzeptiert zu werden.
Die Bewohnerinnen und Bewohner von den beiden Seiten der Lagune kommen nicht gut miteinander aus. Während die östliche Halbinsel Touristen, vor allem Surfern, einen attraktiven Strand bietet, ist der Strand der westlichen Halbinsel von Chacahua weder zum Schwimmen noch zum Surfen geeignet. Die Bewohnerinnen und Bewohner der östlichen Halbinsel können teilweise vom Tourismus leben. Sie besitzen Restaurants und Holzhütten, vermieten Zimmer und Hängematten am Strand.
In Chacahua sagen einige, die Leute auf der »anderen Seite«, die Chacahua La Grua heißt, seien durch den Tourismus sehr geldgierig geworden. Da ihre eigene Seite für Touristen nicht so attraktiv ist, leben die Menschen hier vom Fischen und von der Arbeit im Umwelt- und Artenschutz für den Nationalpark. So wie Esteban, der vor 15 Jahren hierherkam. »Ich hatte gehört, dass man hier in Chacahua Landwirtschaft betreiben könnte«, erzählt er, »ich war Bauer und Fischer, da habe ich gesagt: Ich gehe dahin. Aber das erwies sich dann als Irrtum.« Esteban hält sein Enkelkind in den Armen, als das Kind zu schreien beginnt, nimmt seine Schwiegertochter Guadalupe es ihm ab. Esteban fährt fort: »Als ich hier ankam, wurde mir sofort klar, dass man hier nichts anbauen darf. Man darf auch nicht abholzen. Das Einzige, was man hier machen darf, ist schützen.«

Das Gebiet um Chacahua zeichnet sich durch eine sehr hohe Biodiversität aus. 1937 erklärte der damalige mexikanische Präsident Lázaro Cárdenas das Lagunensystem zum Schutzgebiet. Die Mangroven und die kleinen und größeren Inseln der Lagune bieten zahlreichen seltenen Vögeln Rast- und Nistplätze. So finden sich hier verschiedene Reiherarten, Kormorane und Fregattvögel. Außer den Vögeln leben an dem Ort zahlreiche Reptilien, darunter auch Krokodile. Die Strände der beiden Halbinseln Chacahuas sind zudem ein Anlaufpunkt für einige vom Aussterben bedrohte Meeresschildkrötenarten.
Nachdem der Sturm »Paulina« 1997 die gesamte Küste Oaxacas verwüstet, die Lagunen beschädigt und fast alle Hütten der Küstendörfer zerstört hatte, verstärkten die nationale Umweltbehörde (Semarnat) und der Nationalpark (Conanp) die Maßnahmen zur Wiederaufforstung. In dieses Projekt wurden auch die Bewohnerinnen und Bewohner der Lagune einbezogen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Nationalparks führten Seminare und Fortbildungen durch, in denen sie versuchten, der lokalen Bevölkerung die Notwendigkeit der Wiederaufforstung der Wälder und der Mangroven zu erklären. In Chacahua La Grua wurde eine Kooperative zum Schutz der vom Aussterben bedrohten Meeresschildkrötenarten gegründet. Esteban koordiniert das Projekt. »Seit acht Jahren arbeite ich mit Meeresschildkröten und vor kurzem ist unsere Kooperative registriert worden«, erzählt er. »Unser Ziel ist der Schutz und der Erhalt von Meeresschildkröten im Nationalpark. Wir müssen die Umwelt schützen, von der wir leben.«
Esteban winkt seinem Sohn Pedro zu, der mit Carlota, einem weiteren Kooperativenmitglied, auf einem vierrädrigen Motorfahrzeug zur abendlichen Kontrollfahrt am Strand aufbricht. Es ist kurz nach 17 Uhr. Um diese Zeit kontrollieren die Mitglieder der Kooperative für Schildkrötenschutz und Ökotourismus »Chacahua El Azufre« zwei umzäunte Plätze am Strand, wo sie Schildkröteneier vergraben haben.
Carlota öffnet das Gehege und geht zu den Sandbetten. Sie gräbt mit der Hand und fühlt den Kopf einer winzigen Schildkröte, die das Ei durchbrochen hat und nun versucht, an die Sandoberfläche zu gelangen. Gemeinsam mit Pedro gräbt sie etwa 20 winzige Schildkröten aus. Als sie die Tiere am Strand freilassen und diese sich langsam dem Ufer nähern, sagt Pedro: »Wir müssen diese Schildkröten schützen und erhalten. Hier in der Gemeinde müssen wir ein Bewusstsein dafür schaffen«
Von 60 geschlüpften Schildkröten überlebt im Durchschnitt nur eine im Meer. Die anderen werden von Fischen gefressen. Zudem werden in Chacahua und den umliegenden Dörfern immer noch Schildkröteneier gegessen. Viele Bewohnerinnen und Bewohner suchen nachts, in der Zeit, in der die Tiere ihre Eier legen, den Strand nach Schildkröteneiern ab. Häufig treffen sie dabei auf Esteban und seine Truppe, die in der Zeit zwischen 23 Uhr und vier Uhr morgens auf dem zwölf Kilometer langen Strand mit dem Motorfahrzeug patrouilliert. Die sogenannten hueveros warten in der Regel, bis die Schildkröten alle Eier gelegt und vergraben haben, was mehrere Stunden dauern kann. Die erbeuteten Eier werden dann entweder gegessen oder verkauft. »Den Menschen hier abzugewöhnen, Schildkröteneier zu essen, funktioniert nur mit viel Aufklärung und Sanktionen«, sagt Esteban.

Der Verzehr von Schildkröteneiern ist an der gesamten Küste Oaxacas eine jahrhundertealte Tradition, wie der Biologe Hector Aguilar berichtet, der lange für den Nationalpark gearbeitet hat. Wenn die riesigen, ungefähr einen Meter langen und einen halben Meter breiten Schildkröten zum Eierlegen ans Land kommen, ist das für die lo­kale Bevölkerung seit jeher ein Symbol der Fruchtbarkeit.
»Bereits unsere Vorfahren wussten, dass die Reproduktion der Schildkröten mit Regen und Wind zusammenhängt«, sagt Aguilar, »sie assoziierten die Reproduktion der Schildkröten mit Fruchtbarkeit. Es ist eine alte Tradition hier an der Küste, Schildkröteneier auf die Hochzeitstorten zu legen, um dem Hochzeitspaar Fruchtbarkeit zu wünschen.«
In Chacahua ist es schwer zu überleben. Neben dem Fischfang gibt es nur wenige Möglichkeiten, sich zu ernähren. Daher werden auch die inzwischen ebenfalls vom Aussterben bedrohten, hier lebenden Leguane gegessen und verkauft. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Nationalparks versuchen, etwas dagegen zu unternehmen, etwa durch Schutzinitiativen wie die, bei der Esteban arbeitet. Aber von dem wenigen Geld, das der Nationalpark diesen Initiativen zur Verfügung stellt, können nicht alle in Chacahua leben. Einige sind neidisch auf Leute wie Esteban, weil der Nationalpark ihnen Arbeit gibt und vielen anderen nicht.
»Die Angestellten des Nationalparks geben nur ihren Freundinnen und Freunden Arbeit«, behauptet etwa Eloisa, eine ältere Frau, die ihr weniges Geld damit verdient, den Hof vor ihrer Hütte als Parkplatz für Reisende zu vermieten.
Im Rahmen von Fortbildungsseminaren des Nationalparks zur Wiederaufforstung der Palmenwälder und der Wiederherstellung der Mangroven wurde das Programm der sogenannten »Zeitarbeit« ins Leben gerufen. Dieses sieht vor, dass die Bewohnerinnen und Bewohner der Lagune im Rahmen des Umweltschutzes zeitweise beschäftigt werden. Diese Zeitarbeitsprogramme bieten jedoch nur einigen wenigen Ortsansässigen eine Einkommensgrundlage.
Gilberta kommt aus dem Dorf Zapotalito und erzählt, wie sie dazu kam, sich für den Schutz der Mangroven und der Wälder in ihrer Gemeinde einzusetzen: »Nach dem Sturm ›Paulina‹ hat uns der Nationalpark zu einem Workshop eingeladen. Es ging um die Folgen des Sturms, um Präventionsmaßnahmen und Naturschutz. Durch diese Fortbildungen ist uns klar geworden, dass wir selbst für unsere Umwelt verantwortlich sind. Der Nationalpark hat uns unterstützt. Das Geld reicht aber kaum zum Überleben.«

Außer dem Fischfang haben die Bewohnerinnen und Bewohner der Lagunengemeinden bisher noch keine eigene Einkommensquelle erschlossen. Der Nationalpark hat viele Menschen von den Zeitarbeitsprogrammen abhängig gemacht. Dabei wurde ihnen bisher nicht gezeigt, wie sie sich selbstständig in Kooperativen organisieren und einem angemeldeten Gewerbe nachgehen können. Im Gegensatz zu anderen Dörfern werden in Chacahua die meisten Gewerbe ohne Zulassung betrieben. Die Fischer haben keine Genehmigung zum Fischen, die Mitglieder der Bootskooperative »El Faro« haben keine Genehmigung zum Transport von Personen auf Wasserwegen, den Mitgliedern der Kooperative des »Semicautivério« fehlen die Genehmigungen zum Umgang mit wildlebenden Tieren wie Leguanen und zum Anbieten ökotouristischer Dienstleistungen, wie etwa Führungen in dem Wald- und Lagunengebiet. Wenn diese Tätigkeiten angemeldet würden, könnten die Bewohnerinnen und Bewohner auch bei anderen staatlichen Institutionen Geld be­antragen. Dann würde aber der Nationalpark an Einfluss und Kontrolle verlieren, was der Direktor des Nationalparks, Ignacio Carrasco Escobar, vermeiden will.
Das Verhältnis der Bewohnerinnen und Bewohner des Lagunengebiets zum Nationalpark ist daher zwiespältig. Wer in Projekte eingebunden ist, schätzt die Unterstützung des Nationalparks. Bisher sind dies aber nur Menschen von der westlichen Seite der Halbinsel.
Piedad lebt auf der östlichen Halbinsel, wo der Strand von Restaurants gesäumt ist. Von hier aus kann man die märchenhafte Aussicht auf das Meer und die wegen des tropischen Klimas verschwommen wirkenden Berge genießen. Dennoch sind kaum Touristen da.
Piedad sitzt an einem der leeren Tische ihrer kleinen Hütte, in der sie frischen Fisch für Touristen zubereitet. »Touristen kommen hier nur alle sechs Monate, im Dezember und im März, während der semana santa. Sonst gibt es hier wirklich nichts«, klagt sie.
Zweieinhalb Stunden ist man von Chacahuas mit Boot und Bus unterwegs, bis man Puerto Escondido erreicht, die nächste größere touristische Stadt der Region. Während der Regenzeit zwischen Mai und August sind die Landwege nach Chacahua so gut wie unbefahrbar und das Dorf ist fast vollkommen abgeschottet.
Dass so wenige Touristen kommen, liegt aber auch daran, dass Chacahua kaum als Urlaubsort bekannt ist. Der Tourismus ist hier noch nicht kapitalistisch durchorganisiert. Preise werden zum Beispiel individuell ausgehandelt. »Ich gucke mir die Leute an. Wenn es reiche Australier sind, die zum Surfen kommen, oder wohlhabende Leute aus Mexiko-Stadt, nehme ich mehr, als bei Leuten, bei denen ich den Eindruck habe, dass sie nicht viel haben«, erzählt etwa Cassandra, die in Chacahua La Grua Hütten vermietet.
Auch einige Schulklassen und Gruppen von Naturliebhabern kommen auf diese Seite der Lagune. Tagsüber besichtigen sie die Krokodilaufzuchtstation und lassen sich die in der Lagune lebenden Vogelarten und Reptilien erklären. Abends sind sie dann wieder weg.
Das Leben in Chacahua ist auch wegen der Abnahme der Fischbestände in der Lagune in den vergangenen Jahren härter geworden. »Seit 35 Jahren bin ich Fischer. Von Jahr zu Jahr nehmen die Fischbestände hier ab«, sagt Esteban. »Das liegt auch daran, dass jetzt immer mehr Leute vom Fischfang leben wollen. Früher lebten die Menschen hier auch von anderen Tätigkeiten, zum Beispiel von der Landwirtschaft. Aber in den vergangenen Jahren gingen immer mehr Leute fischen, das ist eine leichte Arbeit.« Auch die Methoden des Fischens haben sich geändert. »Früher haben die Menschen mit sehr wenig Netz gefischt. Jetzt benutzen sie engmaschige große Netze. Es mangelt auch an Übereinkünften in unserer Gemeinde«, sagt Esteban. »Hier in Chacahua fischen die Menschen ständig, auch während der Zeit, in der die Fische Eier legen. Wie soll es dann Nachwuchs geben?«
Hinzu kommt, dass große Krabbenfischboote das Meer nahe an der Lagune fast leerfischen. Die staatlichen Behörden überwachen die Küste kaum. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind zudem leicht zu bestechen, so dass die großen Schiffe ungestört auch in geschützten Zonen fischen können.
In Chacahua fühlen sich viele durch die Vorschrifte und Verbote der staatlichen Umweltbehörden gegängelt und sehen ihr Recht auf Selbstbestimmung verletzt. Juristisch ist ihre Situa­tion kompliziert. Das Schutzgebiet steht unter der Obhut des Nationalparks. Um die geschützten Tiere kümmert sich die Behörde für wildlebende Tiere. Beide Institutionen unterstehen wiederum der Umweltbehörde. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben zwar ein Nutzungsrecht für das Land, sie müssen sich aber an die gesetzlich vorgeschriebenen Umwelt- und Artenschutznormen halten.

In den siebziger Jahren war das Lagunensystem noch ein Naturparadies. Seitdem wurde viel zerstört. Heutzutage rasen die Boote, die Touristen nach Chacahua bringen, durch die engen Flussarme und stören die seltenen Vogelarten, insbesondere in der Brutzeit.
»Als ich nach 1978 nach Zapotalito gekommen bin, gab es noch viele Fische und Tiere hier«, erzählt Gilberta, die mit ihrer Familie an der großen Lagune in dem Ort Zapotal lebt. Sie ist Mitglied der Kooperative »Ökotouristisches Abenteuer«, die Ausflüge in die Mangroven und kleine Touren auf den Flüssen bis zur Lagune Chacahua anbietet. »Unsere Kooperative hat kleine Motorboote, mit denen wir ökotouristische Ausflüge anbieten. Wir nehmen Rücksicht auf die Natur«, betont sie. Aber noch ist die Ausrüstung der Kooperative nicht umweltschonend: Für Motoren, die wenig Schadstoffe ausstoßen, ist noch kein Geld da.
Ob der »ökologische Tourismus« für die Menschen in Chacahua eine Lebensgrundlage bieten und mit ihm zugleich der Umwelt- und Artenschutz sichergestellt werden kann, ist nicht leicht zu beantworten. Rivalitäten zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern, soziale Pro­bleme wie fehlende Schulbildung und Freizeitmöglichkeiten für Jugendliche, Drogenkonsum und Alkoholismus prägen das Leben dort.
Auch scheint der Begriff »Öktourismus« ein Widerspruch in sich zu sein: Ist doch jeglicher Tourismus mit mehr oder weniger großen Umweltschäden, Ressourcenverbrauch und Emissionen von Schadstoffen verbunden. Trotz dieser Einwände möchte der Direktor des Nationalparks von Chacahua »seine« Lagune gut als »ökotouristisches Ziel« verkaufen. Eine grüne Marktstrategie zu verfolgen, ist allerdings etwas anderes als der Aufbau einer touristischen Infrastruktur nach sozialen und ökologischen Kriterien.
Dass der »Ökotourismus« auch gravierende Folgen für die Ortsansässigen haben kann, zeigt das Beispiel des Dorfes Huatulco, das von Chacahua aus in etwa zwei Stunden zu erreichen ist. Dort kauften Vertreter der Tourismusindustrie das Land auf, die Bewohnerinnen und Bewohner wurden vertrieben.