Die japanische Atompolitik sechs Monate nach dem Gau in Fukushima

Verseucht für den Standort

Am 11. September wird die Nuklearkatas­trophe im japanischen Fukushima ein halbes Jahr zurückliegen. Die Bevölkerung leidet unter den Folgen. Trotz einer wachsenden Anti-Atomkraft-Bewegung scheint ein Ausstieg wegen der ökonomischen Abhängigkeit unwahrscheinlich. Auf regionaler Ebene gibt es allerdings Widerstand gegen den Betrieb von Atomkraftwerken.

»Gäbe es doch bloß das AKW nicht«, hatte ein 55jähriger Milchbauer in der Präfektur Fukushima mit Kreide an die Wand des Stalls geschrieben, bevor er sich dort erhängte. Es blieb nicht der einzige Selbstmord eines Bauern. Doch nicht nur die Milchbauern haben Anlass zur Sorge. In den japanischen Medien hatten die unmittelbaren Auswirkungen des Erdbebens und des Tsunamis vom 11. März den Störfall im Atomkraftwerk Fukushima lange Zeit in den Hintergrund gedrängt – immerhin sind inzwischen mehr als 20 000 Todesopfer zu beklagen. Seit einigen Wochen zeigen jedoch insbesondere Lebensmittel­skandale, dass auch Japaner, die nicht in der Nähe der Atomanlage wohnen, von den Folgen des Unglücks betroffen sind.
Wegen unzureichender Warnungen gelangte das Fleisch mehrerer Tausend Kühe, die verseuchtes Stroh gefressen haben, in den Handel und in Schulmahlzeiten. An 296 Schulen im ganzen Land wurde Anfang August erhöhte Radioaktivität gemessen. Seitdem geht die Angst vor einer Verseuchung von Reis, dem wichtigsten Grundnahrungsmittel, um. Als die Regierung Überprüfungen der diesjährigen Reisernte ankündigte, um die Bevölkerung zu beruhigen, begannen die Menschen, die Reste der letztjährigen Ernte aufzukaufen. Supermärkte in Tokio begrenzten daraufhin die Verkaufsmenge auf einen Sack Reis pro Kunde.

All das hat bislang weder die Betreibergesellschaften noch die Zentralregierung veranlassen können, ernsthaft über eine Veränderung der Energiepolitik nachzudenken. Schon Ende Juni hatten Aktionärsversammlungen von drei regionalen Energieunternehmen, darunter auch jenes, zu dem vier Reaktoren gehören, die dem Epizentrum des Erdbebens vom März am nächsten waren, beschlossen, weiter auf Atomenergie zu vertrauen. Gegenanträge von Aktionären wurden jeweils mit großer Mehrheit abgelehnt.
Die Betreibergesellschaften wissen dabei die Regierung hinter sich. Der damalige Finanzminister Yoshihiko Noda, der am 2. September das Amt des Premierministers übernahm, forderte bei einer Rede am 24. Juli, »unfruchtbare Diskussionen wie die über den Atomausstieg« zu unterlassen. Am 5. August bekräftigte das Kabinett, damals noch unter Nodas Vorgänger Naoto Kan, der wenige Wochen später zurücktrat, dass die Regierung am Export von Atomtechnologie festhalten will: »Wenn andere Länder unsere AKW-Technologie zur Anwendung bringen wollen, dann sollten wir ihnen unsere Technik, die weltweit die höchsten Sicherheitsstandards erfüllt, zur Verfügung stellen.«
Immerhin hatte Kan Anfang Mai eine der Betreibergesellschaften gezwungen, die zwei noch in Betrieb befindlichen Reaktoren der Atomanlage Hamaoka, die durch Erdbeben besonders gefährdet ist, abzuschalten. »Ich strebe eine Gesellschaft an, die nicht von Strom aus Atomkraft abhängig ist. Wir werden den Grad der Abhängigkeit von AKW planmäßig und stufenweise verringern«, meinte Kan am 13. Juli bei einer Pressekonferenz. Doch schon am folgenden Tag dementierte der Regierungssprecher: »Der Premierminister sprach von einem Wunsch für die ferne Zukunft.«

Viele Japaner wollen einen schnelleren Ausstieg. In einer Umfrage der Tageszeitung Asahi vom 7. August sprachen sich 72 Prozent der Japaner dafür aus, die Stromerzeugung aus AKW stufenweise zu reduzieren und in Zukunft ganz abzuschaffen. Ein weiteres Indiz für die schwindende Zustimmung zur Atomenergie sind die derzeit im Monatstakt in Tokio stattfindenden Anti-AKW-Demonstrationen, an denen trotz häufiger Polizeiübergriffe viele Menschen teilnehmen. Bei der Demonstration am 6. August wurden erneut mehrere Teilnehmer von der Polizei festgenommen. Die Polizei kann Festgenommene ohne Anklage für 23 Tage in Untersuchungshaft behalten, die Teilnahme an einer Demonstration birgt daher stets ein hohes Risiko. Dennoch sind die Organisatoren zuversichtlich, dass die nächste Demonstration die bislang größte sein wird. Sie wird genau sechs Monate nach dem Erdbeben, am 11. September ab 3 Uhr 11, in Shinjuku, Tokios belebtestem Stadtteil, stattfinden.
Politisch entwickelt sich aber zurzeit auf der regionalen Ebene am meisten, obwohl die 47 Präfekturen traditionell das schwächste Glied in der japanischen Politik sind. Die AKW-Betreiber hatten dort immer leichtes Spiel, während sie die Kommunen mit viel Geld und die Zentralregierung durch die Erfüllung zahlreicher gesetzlicher Auflagen zufriedenstellen mussten. Doch nur 16 von 53 Reaktoren sind zurzeit in Betrieb, viele Präfekturen weigern sich, zumindest bis auf Weiteres, eine Erlaubnis für die Wiederinbetriebnahme zu erteilen.

Wie schwer der Abschied von der Atomkraft in Japan dennoch werden wird, lässt ein Blick auf die Kleinstadt Kaminoseki erahnen. Hier hat eine Betreibergesellschaft vor drei Jahren mit Landgewinnungsarbeiten für den Bau eines neuen AKW begonnen. Doch bereits drei Tage nach dem Erd­beben im März verlangte der Gouverneur der Präfektur die Einstellung der Vorarbeiten. Sie seien sinnlos, da an die Ausstellung einer Baugenehmigung im Moment nicht zu denken sei. Die Stadtbevölkerung ist gespalten, aber es scheint, als hätten die Befürworter des AKW-Baus immer noch die Mehrheit. Wie in allen als AKW-Standort gewählten Orten wird die lokale Wirtschaft schon lange nur noch durch Subventionen am Leben erhalten. Weigert sich die Stadt, das AKW zu akzeptieren, kappt die Zentralregierung einfach die Zuwendungen. Die Bürgermeisterwahl in Kaminoseki am 25. September wird zeigen, ob die Erpressungsstrategie erneut aufgehen wird. Die Befürworter des seit 1982 geplanten AKW stellten seitdem alle Bürgermeister. Auch der amtierende Bürgermeister, der wieder kandidieren will, erhält seine Zustimmung zum Bau aufrecht.
Nicht auszuschließen ist, dass Daniel P. Aldrich, ein Experte für Atomenergie in Japan, recht behält: »Viele Kommunen, für die in der Zukunft Reaktoren vorgesehen waren, haben nach Fukushima ihre Angst zum Ausdruck gebracht, aber nicht Angst vor radioaktiver Verseuchung oder genetischen Langzeitschäden, sondern vor der Annullierung der Standortwahl.«
Hoffnung besteht allerdings, weil sich auch außerhalb Tokios neue Methoden der Mobilisierung durchzusetzen beginnen. So hat der Liedermacher Kazuyoshi Saito mit seinem Song »Es waren immer schon Lügen« Furore gemacht. Er hatte das Lied am 7. April auf Youtube veröffentlicht, von Radiostationen, die durch AKW-Betreiberfirmen gesponsert werden, wurde es ignoriert. Es ist zur Hymne der japanischen Anti-Atom-Bewegung geworden, auch zu Konzerten Saitos in der Provinz finden sich Tausende Fans ein. Ein Umdenken in der Politik, zumindest auf kommunaler und regionaler Ebene, kann wohl nur durch diese Art Protestbewegung erzwungen werden.