Über »Bildungsgutscheine« als Zwangsmaßnahme

Gehirnjogging für Arme

In den Verhandlungen zur Neuregelung von Hartz IV ist bislang nur eines ausgemacht: Die Kinder von Hartz-IV-Empfängern sollen künftig »Bildungsgutscheine« erhalten. Damit drohen ihnen Zwangsverdummung und der Ausschluss aus der bürgerlichen Tauschgesellschaft.

Am Montag stand in der MDR-Sendung »Mach dich ran«, einer Provinz-Variante ähnlicher Formate des Privatfernsehens, das Schicksal von Ivone Ahnert zur Diskussion. Die Hartz-IV-Empfängerin kämpft seit geraumer Zeit vergeblich darum, von der zuständigen Arbeitsagentur einen »Bildungsgutschein« zu ergattern, um eine Fortbildung zur Tagesmutter finanzieren zu können. Wie üblich setzten sich die Helfer von den Medien mit einer Mischung aus Argumentationskraft und Aufdringlichkeit dafür ein, dass die Frau zu ihrem Recht kommt.
Aufschlussreich an der Sendung war jedoch weniger die Frage, welchen Erfolg ihre Bemühungen haben werden, als die Tatsache, dass die Jagd der »bildungsfernen Schichten« nach dem, woran es ihnen mangelt, inzwischen ebenso zur Massenunterhaltung taugt wie die Resozialisation schwer erziehbarer Schüler oder die Schlichtung gewalttätiger Beziehungsstreitigkeiten. Tatsächlich dürfte, wenn sich Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) bei den Verhandlungen über die neue Ausgestaltung der Hartz IV-Beiträge durchsetzen kann, bald eine weit größere Personengruppe als bisher »Bildungsgutscheine« erhalten.

Gab es für Erwerbslose bislang nur die Möglichkeit, solche »Gutscheine« zum Zweck der eigenen Weiterbildung zu beantragen, soll das gleiche System nun auch für deren Kinder eingeführt werden, und zwar am besten bundesweit. Das Verfahren ist in beiden Fällen ähnlich. Der Bedürftige erhält, nachdem die Agentur seinen Antrag geprüft hat, bei Bewilligung einen nicht übertragbaren »Gutschein« für ein inhaltlich genau bestimmtes Bildungskontingent. Dadurch wird ihm über einen gewissen Zeitraum die Finanzierung entsprechender Maßnahmen ermöglicht, die auf diesem Weg »direkt die Kinder erreichen« sollen, wie von der Leyen hofft.
Die im Januar 2003 eingeführten »Bildungsgutscheine« zur Weiterqualifikation gelten höchstens drei Monate lang und werden meist erst nach einem bürokratischen und undurchsichtigen Verfahren bewilligt, wie sicher nicht nur Ivone Ahnert erfahren musste. Was für diejenigen, die Erfolg haben, dabei herauskommt, ist selten mehr als eine Form der Beschäftigungstherapie, die den Betroffenen ihre Abhängigkeit vom Staat ebenso brutal vor Augen führt wie ihre objektive Überflüssigkeit. Die »Bildungsgutscheine« für den Nachwuchs sollen sich, falls von der Leyens Vorhaben verwirklicht wird, aus vier Komponenten zusammensetzen: Gelder für die »Lernförderung«, das Schulessen, die Anschaffung von Arbeitsmaterialien sowie die Förderung des »Vereinslebens«.
Angesichts der ohnehin mehr als mageren Hartz-IV-Sätze dürfte dies konkret bedeuten, dass neben der allernötigsten Grundausstattung gerade mal ein paar Nachhilfestunden und ein Mal- oder Sportkurs finanziert werden können. Die »Bildung«, die sich daraus ergibt, hat mit den tatsächlichen Bedürfnissen der Hilfsempfänger ebenso wenig zu tun wie mit dem bürgerlichen Bildungsbegriff, der mit dem System der »Bildungsgutscheine« endgültig zum Treppenwitz wird. Die deprimierenden und ärmlichen »kul­turellen Aktivitäten«, die den Kindern von Hartz-IV-Empfängern damit ermöglicht werden, sanktionieren lediglich ihr Ausgeschlossensein und fixieren sie auf den Status von Debilen, die nach ihrer nachmittäglichen Sonderförderung trost- und ideenlos in der Laienspielgruppe oder beim Körbeflechten vor sich hindümpeln müssen. Verstärkt wird das Gefühl der Ausweglosigkeit durch das Bewusstsein, dass man sich von nun an nie mehr allein wird aussuchen können, welche Form von Bildung oder kultureller Erfahrung man sich und seinen Kindern verschaffen will. Der Staat ist es, der genehmigt oder verbietet und die Überflüssigen und ihre Kinder fortan ideell ebenso kärglich durchfüttert wie materiell: Die Tochter malt, der Staat zahlt, der Sohn trainiert, das Amt alimentiert.

Die Erfindung von »Bildungsgutscheinen« für den »bildungsfernen« Nachwuchs ist ein Beispiel dafür, wie scheinbar fortschrittliche Forderungen in ihr Gegenteil verkehrt werden können, indem man ihnen nachkommt. Anlass der Idee war das vor fast genau einem Jahr, im Februar 2010, vom Bundesverfassungsgericht ergangene Urteil, wonach die bisherigen Hartz-IV-Regelsätze nachgebessert werden müssten, weil sie den Empfängern keine ausreichende Teilhabe am kulturellen Leben sicherten. Die »Bildungsgutscheine« sind eine Reaktion auf diese richterliche Entscheidung, aus der so eine noch umfassendere Zwangsmaßnahme abgeleitet wird. Einerseits verwandeln die »Gutscheine« den Bereich der »Kultur« von etwas zumindest potentiell Zweckfreiem, das jeder nach seinen individuellen Möglichkeiten und Interessen gestalten darf, in etwas Verordnetes. Wer die wenigen Euro, die er alle paar Monate überhaupt für den eigenen Luxus ausgeben konnte, früher in Bier, DVD oder Diskobesuche investiert hat, muss nun fürchten, dass die Arbeitsagentur nicht nur die Freizeitgestaltung seiner ganzen Familie neu ordnet, sondern ihn auch seine kulturelle Minderwertigkeit spüren lässt. An die Stelle banaler Zerstreuungen treten pädagogische Interventionen, welche die eigenen Kinder schon in der Grundschule mit jenen kleinbürgerlichen Kultursurrogaten verdummen, im Vergleich zu denen Unbildung die weit humanere Option ist. Aber von Unbildung ist im Jargon der Politfunktionäre auch gar nicht mehr die Rede, nur noch von »Bildungsferne«. Und das heißt: Ihr könnt die Bildung einholen, wenn ihr sprintet. Wir geben euch Starthilfe, also verprasst sie nicht.
Eine zweite Veränderung wiegt noch schwerer. Indem der für »Bildung« und »Kultur« veranschlagte Teil der Hilfsgelder nicht ausgezahlt, sondern gutgeschrieben wird und verfahrensgerecht eingelöst werden muss, werden die Hilfsempfänger in ungekannter Drastik vom geldvermittelten Tausch und damit tendenziell von der bürgerlichen Tauschgesellschaft selber ausgeschlossen, an der sie mit ihrer kargen Stütze wenigstens virtuell noch teilhatten. Bildung und Kultur werden gleichsam nach dem Modell der Naturalienwirtschaft behandelt, und die »Gutscheine« sind nichts als eine kaum verbrämte intellektuelle Armenspeisung.

Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass das gleiche Modell bald auch auf den Bereich des unmittelbaren Selbsterhalts angewandt werden könnte: Warum den Leuten Geld auszahlen, damit sie es für Alkohol, Zigaretten und Süßigkeiten verschwenden, wenn man ihnen stattdessen präzise bezeichnete Lebensmittelkarten ausstellen kann? Die einstweilen nur auf dem Papier stattfindende Streichung des Geldes für Alkohol und Zigaretten bei der neuen Berechnung der Hartz IV-Sätze, die passionierte Raucher bislang nicht davon abgehalten hat, einen Teil ihres Budgets für den Genuss aufzuwenden, war ein Hinweis auf das, was folgen könnte, wenn sich kein Widerstand regt.
Aber breiter Widerstand gegen staatliche Zwangs­alimentierung regt sich hierzulande nie, nicht einmal bei den Betroffenen. Selbst die Op­positionsparteien monieren an der Idee der »Bildungsgutscheine« lediglich die vermeintlichen Defizite, die sich in der Praxis ergäben: Es fehle an der materiellen Grundlage, um seinen Kindern die »Bildung« auch wirklich angedeihen zu lassen, sowie an kulturellen Angeboten. Kein Mensch scheint die Beglückung, für die von der Leyen wirbt, überhaupt als den Eingriff in die Privatsphäre zu empfinden, der sie ist. Und so lange es Leute gibt, die sogar das Fernsehen mobilisieren, um in den Genuss eines Zwangs zu kommen, ohne den es sich besser leben ließe, wird sich daran nichts ändern.