Die Offensive der Regierung gegen Kindesmissbrauch

Die Zeit der Unschuld

Pädophile Pädagogen, laxe FSK-Gutachter und dubiose Internetpornografen bedrohen die Nation. Das sexualhygienische Vollwaschprogramm von Kristina Schröder, Annette Schavan und Stephanie zu Guttenberg verspricht Abhilfe.

Seit den sechziger Jahren hat sich die Arbeitsteilung der Geschlechter beim Vollzug der gesellschaftlich notwendigen Selbstdeformation drastisch verändert. Linke Männer, gegen deren resistenten Hausvaterinstinkt die zweite Frauenbewegung einst die Forderung nach dem Recht auf Abtreibung durchsetzen musste, kämpfen mittlerweile an vorderster Stelle gegen Abtreibungsgegner, während eine Riege konservativer Frauen eine Kampagne gegen Kindesmissbrauch und sexuelle Gewalt betreibt. Beide Gruppen können sich der Sympathie der Bevölkerungsmehrheit sicher sein, weil sich der Stellenwert der Diskussion um Abtreibung und Missbrauch verändert hat.
War die bevölkerungspolitische Ideologie bis in die Sechziger hinein durch die Reduktion von Sexualität auf Reproduktion sowie durch die Entpolitisierung von Ehe und Kleinfamilie als vermeintlichem Schutzraum geprägt, haben sich Ehe und Familie längst selbst als Anachronismen erwiesen, die geschliffen werden müssen. Deshalb ist die Abtreibung als Mittel zum Zweck der marktkompatiblen Selbstoptimierung und Vermeidung demografisch nutzlosen Nachwuchses in gewissen Grenzen akzeptiert, während der private Charakter von Familie und Partnerschaft zunehmend in Frage gestellt wird. Je weniger Ehe und Kleinfamilie als einzig legitime Formen des Zusammenlebens gelten, desto rigider fordert die Gesellschaft von der Vielfalt der anerkannten Partnerschaften »gelebte Verantwortung« und Konformität ein.

Ausdruck dieser Symptomatik ist die jüngste Kampagne von Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) und Familienministerin Kristina Schröder (CDU) gegen »Missbrauch, Vernachlässigung und Gewalt«, die drei Debatten miteinander vermischt: die Diskussion um Kindesmissbrauch, die Warnung vor jugendgefährdenden Medieninhalten sowie die Initiative gegen Kinderpornografie im Internet. 32 Millionen Euro will das Bildungsministerium für Projekte zur Verfügung stellen, um Menschen mit einer vermeintlichen Disposition zur Pädophilie zu »helfen«, Erzieher und Lehrer für »Anzeichen von Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch« zu »sen­sibilisieren« und die »Verantwortung« der Eltern zu stärken.
Ein großer Teil der Summe dürfte für neurologische Untersuchungen ausgegeben werden. Denn pädophile Neigungen sind nach Aussage des Sexualmediziners Klaus M. Beier, auf dessen Forschungen zur Missbrauchsprävention sich die Kampagne unter anderem bezieht, eine Sache der »sexuellen Impulskontrolle«, die durch Konsum von Internetpornografie, die möglicherweise »entsprechende Verschaltungen im Gehirn« begünstige, Schaden erleiden könne. Da die ersten Lebensjahre für die hirnphysiologische Konstitution der Individuen entscheidend seien und sich vor allem »vernachlässigte Kinder« in Beziehungen begäben, in denen sie sexuell »ausgenutzt« würden, müsse, so die Schlussfolgerung der Ini­tiatoren des sogenannten Forschungsnetzes gegen »Missbrauch, Vernachlässigung und Gewalt«, die Präventionsarbeit in der frühesten Kindheit ansetzen – in jener Zeit der kindlichen Entwicklung also, die vom staatlichen Zugriff bislang weitgehend verschont geblieben ist.
Damit ist künftig wohl endgültig Schluss. Die erziehungspolitische Tendenz, die ohnedies dahin geht, Kinder immer früher einzuschulen und durch kognitives Training auf ihren Bildungsweg vorzubereiten, wird durch die Diskussion um den Missbrauch verstärkt. Indem das Lebewesen von der Geburt bis zur Freisetzung für den Arbeitsmarkt als prospektives Opfer aller möglichen »Missbräuche« betrachtet wird – zwischen sexueller Gewalt und körperlicher Misshandlung wird kein Unterschied mehr gemacht –, gelten fortan nur jene Eltern und Erzieher als »verantwortungsvoll«, die sich in jeder Nuance ihres Verhaltens als Staatsagenten im Dienst von Sexualhygiene und kindlicher »Unschuld« ausweisen.

Stephanie zu Guttenberg, Gattin des Verteidigungsministers und dritte Frontfrau in der Schlacht gegen Verwahrlosung, ist Präsidentin des Vereins »Innocence in Danger«, der »Präventions- und Interventionsprojekte« gegen sexuellen Missbrauch fördert, und hat mit »Tatort Internet« auf RTL2 mittlerweile ihre eigene Fernsehsendung. Wie Schröder und Schavan hebt sie hervor, dass sexueller Missbrauch selten durch Fremde, sondern im »sozialen Nahbereich«, durch ­Eltern oder Verwandte, stattfinde. Diese im Grunde aufklärerische Erkenntnis muss hier als Alibi für ein Verdächtigungsprogramm her­halten.
Die jüngsten Projekte gegen Missbrauch haben nämlich vor allem ein gemeinsames Ziel: allen, die mit Kindern zu tun haben, schon vor jedem konkreten Vorfall ein diffuses Schuldgefühl einzureden. Man kann schließlich immer mehr tun, als man schon tut, um den Nachwuchs gegen die böse Außenwelt zu schützen, der er mit Eintritt der Volljährigkeit doch ohnehin mit Haut und Haaren ausgeliefert werden soll.
Einen drakonischen Eingriff in die Privatsphäre stellt nicht nur Guttenbergs Sendung dar, in der durch abstoßendes Intrigantentum juristische »Fälle« konstruiert werden, die es ohne die Spitzelinitiativen der beteiligten Journalisten gar nicht gäbe, sondern auch Kristina Schröders Intervention gegen die angebliche Laschheit der Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK). Nachdem Redakteure der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in einem Selbstversuch mit für Zwölfjährige empfohlenen Filmen zu der Ansicht gelangt waren, einige davon seien für diese Altersgruppe ungeeignet, rügte Schröder die Behörde und unterstellte eine Institution, die nicht umsonst »freiwillig« und weitgehend staatsunabhängig agiert, faktisch staatlicher Kuratel. Nicht nur die Erziehung, sondern auch die Mediennutzung von Eltern und Heranwachsenden wird sich künftig nach staatlichen Vorgaben richten müssen.
Die Auffassung von Kindheit, die diesen Initiativen zugrunde liegt, ist das beste Argument gegen die Zeugung von Nachkommen. Die revolutionäre Entdeckung der Psychoanalyse, dass es eine kindliche Sexualität gibt, scheint ebenso der Verdrängung anheim gefallen zu sein wie die psychoanalytische Forderung, wonach jedes Individuum, um frei sein zu können, die infantile Fixierung aufgeben müsse. Kindheit wird von Schröder, Guttenberg und ihrer Gefolgschaft als Stadium konfliktloser Unschuld dargestellt, von dem so unvermittelt wie unmerklich ins Erwerbs- und Partnerschaftsleben überzuwechseln sei. Das Engagement gegen »Missbrauch« ist ein sexualhygienisches Amnesieprogramm, das die letzten Rudimente der Erinnerung an die eigene Kindheit und deren unaufgehobenen Widerspruch zur erwachsenen Existenz aus dem Gedächtnis der Menschen tilgen will wie die Waschmittelfamilienpackung die Spuren des sozialen Lebens aus der Kleidung des Töchterchens.

Jeder Schimmer des unabgegoltenen Glücksversprechens der Kindheit soll mit derselben Gewissenhaftigkeit erstickt werden wie die Hoffnung auf eine wahrhaft erwachsene, selbständige Existenz. Welcher Subjekttypus dabei produziert wird, lässt ein Blick in die verkniffen-aufgeräumten Gesichter der selbsternannten Sexualaufklärerinnen erahnen: Es sind bornierte Infantile, die sich schon als Kinder freiwillig und lustvoll der Resignation ergaben, die das bürgerliche Individuum sich noch mühsam auferlegen musste.

Siehe auch Dschungel, Seiten 10 und 11