Die Filme von Manoel de Oliveira

Die Ästhetik der Integration

In seinen Filmen fusionieren christliche und jüdische Traditionen mit muslimischen Elementen. Sein Schaffen beginnt im Zeitalter des Stummfilms und ragt in die digitalisierte Postmoderne. Man findet den Spanier Buñuel, den Italiener Pasolini und den Franzosen Rouch in seinen Bildern wieder: Der Portugiese Manoel de Oliveira hat ein europäisches Kino der Integration geschaffen.

Manoel de Oliveira ist der unumstrittene Altmeister des portugiesischen Kinos. Dennoch ist er hierzulande immer noch ein weitgehend Unbekannter. Gelegentlich laufen seine Filme auf Arte und mitunter sogar im Kino. Sie setzen allerdings auch einen mitdenkenden Zuschauer voraus. »Der Zuschauer«, sagt Oliveira, »soll aber aktiv sein und sein eigenes Urteil fällen. Er muss nicht amorph sein.« Oliveiras sperriges Kino steht konträr zu Hollywood: »Das amerikanische Kino von heute ist das genaue Gegenteil von dem, was ich mache, und ich beginne es zu hassen.«
Wer sich auf Oliveira einlässt, erliegt schnell der Faszination seines Werks. Sein spezifischer Umgang mit der filmischen Zeit ist einzigartig. Ellipsen, Sprünge, Zeitversetzung, Ton-Bild-Versetzungen benutzte er lange vor Lynch, Iosseliani oder Almodóvar. Wenn es so etwas wie ein filmisches Imperfekt gibt, dann stammt es von Oli­veira. Seine Erfindung einer Vergangenheit, die nicht abgeschlossen ist, plötzlich auftaucht und sich mit der Gegenwartserzählung mischt, ist nicht zu verwechseln mit der wohlstrukturierten Rückblende. Oft passiert es mitten in der Szene, nur das Licht wechselt, und wir sind in der anderen Erzählzeit. Mit einem ganzen Repertoire von technischen Mitteln vermischt er die Erzählzeiten, lässt Ereignisse, die auch für die Akteure unvollendet sind, in der Gegenwart herumspuken. Das Verblüffende ist, dass ihm das sowohl im Spielfilm wie auch im Dokumentarfilm gelingt.
Film ist ein Zeitfluss-Medium. Oliveiras Beitrag zum Zeitfluss im Kino ist vor allem ein humanistischer. Die klassische Zeitkonstruktion, wie sie auf Griffith zurückgeht, ist eine funktiona­listische. Sie trennt vorher und nachher, hier und anderswo. Das ermöglicht eine Art von industriellem Erzählen. Oliveira arbeitet mit Zeitfunktionen, wie sie der Bewusstseinsstrom kennt. Diese Zeitebenen sind Möglichkeiten, die nebeneinander stehen, keine Ausschließlichkeiten. Dieses Erzählen ist vielleicht sein radikalster und ureigenster Beitrag zur Filmgeschichte.
Selbst ganz einfache Dokumentarfilme mit ganz einfachen Themen enthalten kleine, durchaus kenntliche Inszenierungen, die nicht die Dokumentation fälschen, sondern kommentieren. Und das Spiel mit den Zeiten setzt er im Dokumentarischen fort, arbeitet mit historischen und zyklischen Zeiten. Seine Dokumentationen folgen einem sezierenden ethnologischen Blick. Filme wie »Das Brot« (1959) oder »Der Leidensweg Jesu in Curalha« (1963) verbindet viel mit Buñuels »Land ohne Brot« (1932) oder Jean Rouchs »Les Maîtres Fous« (1954). Die Dokumentarfilme beweisen auch Oliveiras große Begabung im Umgang mit Laienschauspielern. Im Spielfilm setzt er den Kontrast von professionellen Schauspielern und Laienschauspielern häufig als wichtiges dramaturgisches Element ein, genauso auch unterschiedliche Sprach­ebenen, Formen von Herrschaftssprache oder schichtenspezifischen und fachspezifischen Sprachduktus im Kontrast zu Volkssprache, zu Drastischem, Komischem und Subversivem. Er setzt Sprache aber nie als plumpe Milieuschilderung ein, sondern immer als eigenständiges Stilmittel.
Nach eigenen Aussagen war Oliveira für seinen Erstling »Harte Arbeit am Fluss« (1929-1931) von Walter Ruttmanns »Berlin – Die Sinfonie der Großstadt« beeinflusst, ein andermal von Pasolinis »Teorema« (1968) bei »Benilde, Jungfrau und Mutter« 1975; für seine Filme der siebziger Jahre war die »Chronik der Anna Magdalena Bach« (Jean-Marie Straub 1967) eine wichtige Anregung, ebenso die Bedeutung des gesprochenen Worts bei Rossellini. Aber dies alles kann nur sehr äußerlich und oberflächlich sein. Immer schon hatte Oliveira einen unverwechselbaren Stil.
Er ist ein Meister darin, die beiden großen Kunstformen der Aufklärung, das Melodram und die Farce, wechselseitig als kommentierende Elemente einzusetzen. Er dreht zum Beispiel zwei Blindenfilme hintereinander, »Tag der Verzweiflung« (1992) und »Die Büchse« (1994). Ein melodramatischer Lebensentwurf und eine Farce im Armenviertel. Gegenläufig mischt er in die melodramatische Erzählung groteske Elemente oder lässt die Farce ins Melodram umkippen. Aber genau dadurch macht er Mechanismen sichtbar und beleuchtet Zusammenhänge, die sonst verborgen bleiben. Blindheit ist ein klassisches Melodramenmotiv, das sich das bürgerliche Melodram von der antiken Tragödie geklaut hat. Es besitzt eine große Vielfalt an Bedeutungen, von der Verblendung bis zur Weisheit. Oliveira benutzt die Motive und macht die Kodifizierungen sichtbar, die ihnen zugrunde liegen.
Seine Vermischung von grotesken und melodramatischen Formen, das groteske Melodram, ist sein wichtigstes Mittel. Er gehört damit zu den Regisseuren, die in der Form des Melodrams eine ästhetische Kollision herbeiführen, die das Melodram kritisiert, kommentiert. Renoir, Buñuel, Sirk, der Film Noir haben ähnliche Momente. Umgekehrt wird es in der Filmgroteske oft besonders spannend, wenn melodramatische Elemente aufgegriffen werden, so bei Chaplin oder Valentin. Oliveira arbeitet mit dem Spannungsverhältnis des Melodrams zur Farce und Groteske. Sein Blick auf gesellschaftliche Prozesse ist oft so komisch wie bei Tati und immer so scharfsichtig wie bei Vigo, dem er auch eine filmische Hommage gewidmet hat. Er schmuggelt ins Melodram groteske Elemente ein oder nimmt melodramatische Elemente wörtlich mit groteskem Ausgang. Obsessionen nehmen pathologische Formen an. Sprachliche Metaphorik gerinnt zu karnevalesken Bildern. Und die Handlung der Domestiken kommentiert die Handlung im bürgerlichen Salon.
Das Melodram nimmt sich selbst nie ganz ernst, es ist keine Tragödie. Es bleibt immer ein unaufgelöster Rest, der sich mit ironischer Distanz lesen lässt. Die Zwangsläufigkeit der Handlung existiert nur in den Wahnvorstellungen der Protagonisten. Das Melodram drückt dies schon in seiner formalen Exaltation aus. Das Komische am Melodram kann man selten so schön studieren wie an den Filmen Manoel de Oli­veiras. Eine Ehe, die nicht vollzogen wird, ein Beischlaf, der verhindert wird, dies gehört, bei genauer Betrachtung, zum Repertoire der Klamotte. Wie bei allen Melodramatikern kreist Oliveiras Werk um den Punkt, wo das Eigentum die bürgerliche Liebe konstituiert und zugleich vernichtet. Was das Besondere an dem Regisseur ausmacht, ist sein boshafter Scharfsinn für die grotesken Verwerfungen, die damit verbunden sind.
Diejenigen, die lieben, sind bei Oliveira immer dem Wahnsinn, dem Tod, der Selbstvernichtung nahe. Das lehrt uns schon sein Kinderfilm »Ene-meine-muh« (1942). Der kleine Junge, der sich in ein besseres Mädchen vergafft hat, ist ein Mondsüchtiger, der blind über Straßen läuft, ohne auf Autos, Straßenlampen oder Fußgänger zu achten. Nachts klettert er über Dächer zum Fenster des Mädchens und stürzt beinahe zu Tode. Zum Schluss des Films ist er dem Selbstmord nahe. Die große Liebe ist bei Oliveira eine Vernarrtheit, eine Projektion, sie ist nicht körperlich, sie ist Selbstliebe, ihre Erfüllung kann sie nur im Tod des geliebten Objekts finden.
Seine großen Melodramen sind auf geniale Weise antimelodramatisch. Er baut in sie Exkurse über Raserei, Liebeswahn, Fetischismus oder Objektfixierung ein. Er lässt Körperliches immateriell und Immaterielles wieder körperlich werden, wie es nur ein Regisseur mit katholischem Hintergrund kann. Sein Zugang zu portugiesischer Kultur und Geschichte erklärt sich aus dieser Kombination von tiefem Verständnis mit Momenten der Distanz und Außenansicht, die eine kosmopolitische Perspektive eröffnen. Oli­veira war vom Avantgardekino der zwanziger Jahre bis zu einem postmodern distanzierten und reflektierten Kino immer seiner Zeit voraus. Junge Regisseure können heute noch bei ihm lernen. Von Greisenavantgardismus darf man reden.
André Bazin hat den Begriff des Cinéma Impur geprägt. Kino, das sich mit anderen Formen mischt, ohne dass es theaterhaft oder literarisch wird. Für Oliveira sind Film, Theater und Literatur Formen der Repräsentation, die einander nicht ersetzen, aber vertreten können. Eine Sonderrolle fällt dabei dem Theater zu, es existiert gewissermaßen a priori: »Das Theater präexistiert in unserem Leben. Für uns, wie Zuschauer, präsentiert sich alles, was wir sehen, wie Theater.« Oliveiras selbstreflexiver Umgang mit den Mitteln des Mediums geht vom Theater zum Film und umgekehrt, aber immer mit filmischen Mitteln: Point of View, Tiefeninszenierung, Bewegung der Kamera, Objektivwahl. Das Kino wird bei Oliveira als Formel sichtbar, sein Kino ist nicht klischeehaft, sondern er benutzt Klischees, um sie vorzuführen. Er holt sich seine Klischees von überall, auch aus der Malerei, der Musik, der Bildhauerei, um damit zeichenhaft zu arbeiten. Und wenn es zu bunt wird, darf ein Schwenk schon mal die Kamera und das Team zeigen. Die Kommentierung bricht immer scheinbar konventionelles Erzählen.
Das Formelhafte ist bei Oliveira oft den Abstraktionen fernöstlicher Kunst verwandt. Ein Rad, das sich dreht, ersetzt eine Kutschenfahrt, eine Welle ersetzt den Ozean. Oliveira appelliert an die Intelligenz des Publikums, das er gern auch einbezieht. Oft laden ruhige lange Passagen zum genauen Sehen ein. Er filmt so lange, bis alle Masken und Schichten wegfallen, bis die Seele sichtbar wird. Dafür lässt er anderes unaufgelöst. Gleichzeitig widersetzt er sich Kinokonventionen, die ihm verdächtig vorkommen. Er macht vielsprachige Filme, weil ihm die Sprache wichtig ist. Und er lehnt Konventionen der Montage ab, die ihm fraglich erscheinen. Dass jemand eine Klinke in die Hand nimmt und dann plötzlich in einem anderen Raum steht, ist keineswegs selbstverständlich. Große Aktionen werden groß angekündigt und vorbereitet, um dann ganz beiläufig abgehandelt zu werden.
Oliveira nimmt in seinem Werk neorealistische Elemente vorweg, benutzt schon 1956 Techniken der Nouvelle Vague und gehört zu den Wegbereitern des postmodernen Kinos. Um ein bzw. zwei Jahre ist »Der Leidensweg Jesu in Curalhu« vor Pasolinis »Das 1. Evangelium Matthäus«, ist »Vergangenheit und Gegenwart« (1972) vor Buñuels »Der diskrete Charme der Bourgeoisie« und »Benilde« vor Rohmers »Die Marquise von O« entstanden. Sein postmoderner Hiob, »Mein Fall« (1986), ist Jahrzehnte vor »A Serious Man« der Coen-Brüder gedreht worden. Oliveira ist ein genuin europäischer Regisseur, der sich von Feuillade und nicht von Griffith ableitet.
Wenn Buñuel ein katholischer Atheist ist, ist Oliveira ein katholischer Agnostiker. Die beiden verhalten sich zueinander wie Spanien und Portugal. Bei Oliveira ist alles etwas sanfter, aber nicht weniger subversiv und kritisch. Alle europäische Tradition lebt im Komparativ zur christlich-jüdischen Tradition, bei dem Portugiesen Oliveira kommt noch die muslimische dazu. Essentiell ist für Buñuel und Oliveira, die Jesuitenschüler, die Reibung am Katholizismus. Das verbindet die beiden mit dem Jesuitenschüler Hitchcock. Oliveiras Werk beschäftigt sich häufig mit Religion, aber er ist kein religiöser Regisseur. Es gibt kulturell bedingte, erkennbare Unterschiede in der Wahrnehmung. In Italien, Spanien oder Frankreich wird Oliveira erheblich höher geschätzt als in nordeuropäischen Regionen. Speziell in Frankreich spielt es sicherlich auch eine Rolle, dass Oliveira Bazin und Lyotard persönlich kannte und vieles wie ein künstlerischer Kommentar dazu wirkt. Wie Buñuel ist Oliveira auch ein Bürger-Rebell. Obwohl er sich um die väter­liche Fabrik und das Weingut seiner Frau kümmern musste, stand er immer neben dieser Existenz. Er trieb sich in den intellektuellen Zirkeln von Porto herum, wo sich alle Oppositionellen, vom Sozialisten bis zum Liberalen, austauschten. Der portugiesische Kritiker António-Pedro Vasconcelos hat ihn einmal so charakterisiert: »Gleichzeitig Christ und Perverser, Klassiker und Avantgardist, Konservativer und Anarchist.«
Oliveira, auch darin gleicht er Buñuel, ist ein Subversiver aus der Mitte, dessen böser Blick auf portugiesische Verhältnisse von der Binnenkenntnis des Großbürgers lebt. Die Zensur des portugiesischen Faschismus hat seinem frühen Werk stark zugesetzt, seine öffentliche Kritik brachte ihm einen Aufenthalt in den Gefängnissen der Geheimpolizei ein. »Schließlich«, so Oliveira, »kamen auch die Korrekteren im Salazar-Regime zu dem Befund, dass ich außerhalb des Gefängnisses weniger gefährlich war als im Gefängnis.« Jahrelang erhielt er aber noch anonyme Briefe mit Todesdrohungen. Entsprechend lang sind die Pausen zwischen den Filmen, ein Umstand, der seine theoretische Auseinandersetzung mit dem Medium vorantrieb.
Die Beschäftigung mit Oliveira ist ein Vergnügen der besonderen Art. Er ist der einzige Regisseur, der vom Ende der Stummfilmzeit bis ins digitale Zeitalter Filme dreht. Als er geboren wurde, drehte Griffith gerade seine ersten Filme. Derselbe Jahrgang wie Helmut Käutner, James Stewart, Carole Lombard und Jacques Tati: 1908. An seinem Werk kann man fast die ganze Filmgeschichte verfolgen. Inzwischen ist es schon beinahe komisch, alte Kritiken zu lesen, in denen er als der »Dinosaurier« aus Portugal beschrieben wird. Die meisten dieser Kritiker sind nämlich längst tot, während Oli­veira noch munter lebt und Filme dreht. Sein Regiekollege João Botelho, 40 Jahre jünger, sagt über die portugiesische Film-Avantgarde: »Oli­veira ist der jüngste unter uns. Und gleichzeitig ist es Méliès. Das ist der Filmstil eines Zwanzigjährigen.«
1929 gab Oliveira sein Filmdebüt. Hätte er nur in der Stummfilmzeit und im frühen Tonfilm gearbeitet, wie der früh verstorbene Jean Vigo, wäre ihm in der Filmgeschichte sicherlich ein Platz gleich neben diesem einzuräumen. Beide leben von einem engen Kontakt mit der künstlerischen Avantgarde der Zwanziger. Die Anregungen aus Surrealismus und Futurismus sind bei Oliveira unübersehbar. Gern gibt er Auskunft über Fragen der Repräsentation, ansonsten weicht er geschickt aus. Der portugiesische Kritiker Eduardo Prado Coelho hat es einmal so formuliert: »Sagen wir, dass Manoel de Oliveira sich ins Reden über das Sichtbare flüchtet, weil er anscheinend Angst hat, über das Übrige zu sprechen. Aber gerade diese Angst ist es auch, die ihn dazu bringt, Filme zu machen.«
Die großen Diskurse der Aufklärung greift Oli­veira immer wieder auf, aber mit dem Wissen um das Scheitern des Projekts der Moderne. Ein Schlüsselfilm dafür ist die Filmoper »Die Kannibalen« (1988). Dass Oliveira die Form einer Oper wählt, ist nur konsequent. Nirgends ist der me­lodramatische Diskurs so überhöht. Gegenstand ist der Mensch, wie ihn die Aufklärung geformt hat, das transzendentale Subjekt. In diesem Kontext darf dessen bürgerliche Wahrheit, der Maschinenmensch, nicht fehlen. Listig mischt Oliveira dann verschiedene bürgerliche Diskurs­ebenen. Ein theologisch-philosophischer Diskurs wird von einem ökonomisch-juristischen kommentiert. Ein Candide der Postmoderne.

Von Thomas Brandlmeier ist gerade das Buch »Manoel De Oliveira und das groteske Melodram« im Verbrecher Verlag erschienen.