Der Sozialstaat als Elendsverwaltung

Dienstleistung, die keiner braucht

Der »Umbau« des Sozialstaats zur selbstbestimmten Elendsverwaltung schlägt sich auch im Alltag nieder. Sogar die Bettler sind zu wandelnden Ich-AGs geworden.

Die Literatur der Moderne kennt einen regelrechten Kult des Bettlertums. Armut galt ihr, wie es in Rainer Maria Rilkes berüchtigter Formel heißt, als »großer Glanz aus Innen«, als negatives Bild des im Zuge der Säkularisierung verlorengegangenen Heiligen. Die hauptberuflichen Samariter der großen christlichen Kirchen und ihre outgesourcten freikirchlichen Ableger zehren noch heute von diesem Mythos. Insofern war es ein großer Fortschritt, als sich in den neunziger Jahren Obdachlosen- und Armutshilfeprojekte wie der Berliner Verein Motz & Co. anschickten, den professionellen Sachverwaltern der Bedürftigkeit Konkurrenz zu machen.
Zumindest in zweierlei Hinsicht beförderten Projekte wie Motz & Co. eine sensiblere Wahrnehmung der Armut. Sie halfen die Ohnmacht zu überwinden, die das Angewiesensein auf Almosen bedeutet, indem sie armen Menschen die Möglichkeit zu einer wie auch immer prekären Erwerbstätigkeit boten. Und sie befreiten die Armut aus ihrem Nischendasein und trugen sie in die Öffentlichkeit, um den Menschen bewusst zu machen, dass sie zum Alltag gehört und poten­ziell jeden ereilen kann. Eine Zeit lang konnte man glauben, dass von diesem Fortschritt alle Seiten profitierten: die Armen, die dadurch soziale Kontakte knüpfen, größeres Selbstbewusstsein gewinnen und eine gewisse Stabilität in ihren Tagesablauf bringen konnten; aber auch die Bürger, denen die von ihrer eigenen Öffentlichkeit Ausgespuckten als gewöhnliche Mitmenschen gegenübertraten, um sie über ihr Schicksal zu informieren.

Doch wie alles Gute in verkehrten Verhältnissen fast zwangsläufig dämonische Züge annimmt, so tritt auch die einst progressive Armutsselbstverwaltung mittlerweile fast nur noch in unangenehmen Erscheinungsformen auf. Die altehrwürdigen Traditionsbettler, die sich mit einem Hut oder Teller ganz einfach in die Fußgängerzone setzen und auf Münzen warten, sind fast vollständig aus dem Stadtbild verschwunden. An ihre Stelle ist der prekarisierte Existenzgründer getreten, der seine Bedürftigkeit als neofeudale Dienstleistung der Volksgemeinschaft anbietet.
Er tritt in verschiedenen Typen auf. Enervierend, aber noch erträglich ist der Typus des professionellen Spaßmachers, der den Verkauf seiner Zeitung mit flotten Sprüchen, Witzen und einer habitualisierten Munterkeit begleitet, die den Zwang und die Not seiner Lebenssituation eher betont als überspielt. Weit schlimmer ist der Typus des moralischen Erpressers, der dem morgendlichen U-Bahn-Reisenden wiederum in verschiedenen Varianten begegnet. Die einen rechtfertigen mit einer Mischung aus Larmoyanz und Aggressivität zwei Stationen lang ihre Anwesenheit, betonen ihre Drogenabstinenz und entschuldigen sich so vehement für ihre Störung, dass sie irgendwann tatsächlich stören. Die anderen wünschen allen Reisenden »auf dem Weg zur Arbeit« einen »guten Tag« oder am Spätnachmittag einen »schönen Feierabend«. Ihre Botschaft ist dabei stets dieselbe: Obwohl ich immer brav war, geht es mir schlecht, und euch kann jeden Tag dasselbe passieren, denn ihr seid nicht anders als ich. Wer immer von euch sich noch an seinem Broterwerb freut, sollte sich schämen bei meinem Anblick.
Nicht anders denn als moralische Erpressung ist es auch zu verstehen, wenn Bedürftige mit oder ohne Motz den Supermarkteinkäufern ungebeten die Tür aufhalten, um sie mit »Einen schönen guten Tag« zu begrüßen, oder im Vorraum der Banken die Kunden daran erinnern, dass sie, wenn auch oft genug selbst tief im Dispo, immer noch besser dran sind als andere. Dass sich kaum jemand traut, das tiefe Unbehagen zuzugeben, das diese Mischung aus Devotion und Zudringlichkeit zwangsläufig verursacht, liegt an dem noch viel widerwärtigeren Typus des bürgerlichen Saubermanns, für den der Spruch »Eure Armut kotzt mich an« wie gemacht erscheint und der pikiert zur Seite rückt, sobald sich ein Penner mit Aldi-Tüte neben ihn setzt. Gerade dieser Typus ist es jedoch, der sich von den abgerissenen jungen Männern vor Kai­ser’s gern die Tür aufhalten lässt, haben die­se doch aus der Erniedrigung, gegen die sich zu empören sie jedes Recht hätten, längst eine besondere Dienst­leistungskompetenz gemacht. Solange es Charakterschweine gibt – hierzulande also immer und überall –, ist freiwillige Unterwürfigkeit eine Marktlücke, die sich niemals füllen lässt.

Neben dem bürgerlichen Saubermann, der sich noch in seinem Alltag als Sittenwächter im Staatsauftrag begreift, dürfte aber auch der Siegeszug der privaten Sicherheitsdienste an der prekären Lage eine Mitschuld tragen. Seit die Boulevardpresse die jüngsten Gewalttaten auf U- und S-Bahnhöfen zum Anlass genommen hat, eine Generaldebatte über die »Brutalisierung des Alltags« anzustoßen, rechnen private Wachgesellschaften mit guten Geschäften. Organisationen wie Securitas, der größte private Wach- und Sicherheitsdienst in Deutschland, oder GSE-Protect dienen sich mittlerweile bei den regionalen und städtischen Verkehrsbetrieben regelrecht an, um die Aufgaben der angeblich überforderten Polizei zu übernehmen. In den Discountern erfüllt die Gefahr von Diebstählen und Ladeneinbrüchen eine ähnliche Alibifunktion, um die inzwischen zum Alltag gehörende Dauerpräsenz von Sicherheitskräften zu rechtfertigen. Mit welcher Klientel man es dabei zu tun hat, lässt sich kaum ermessen und wird nur aus Anlass einzelner Skandale mitunter öffentlich diskutiert – etwa, als im Oktober einem Wachmann von GSE-Protect gekündigt wurde, weil dessen Mitgliedschaft in der NPD aufgeflogen war, und bei dieser Gelegenheit deutlich wurde, wie unwillig und zugleich unfähig die Verantwortlichen in solchen Fällen sind, schnelle Maßnahmen einzuleiten.

Wie widerstandslos die Bürger die Übernahme von Aufgaben der staatlichen Exekutive durch racketähnliche Privatunternehmen hinzunehmen bereit sind, wird seit Jahren in den Supermärkten und Kaufhäusern, auf den Bahnsteigen und in den Zügen erprobt. Da der öffentliche Raum zumindest hierzulande nicht als autonome, dem exklusiven Zugriff Einzelner ebenso wie dem unmittelbaren Zugriff des Staates entzogene Sphäre, sondern als Staatsbesitz wahr­genommen wird, gilt er als Laufsteg der Anständigkeit. Prototypisch dafür sind die Fußgängerzonen, ebenfalls eine genuin deutsche Institution, deren überwältigende Ödnis und Leblosigkeit andernorts längst zu Massenprotesten geführt hätte, die aber in Deutschland der belieb­teste Übungsplatz zur verordneten Armutsentfernung sind. Aber auch in Berlin oder Hamburg, die lange Zeit als alternative Soziotope galten, gibt es so gut wie keine Bettler mehr, sondern nur noch kreative Armuts­unternehmer, die sich bei der Erarbeitung ihrer Performances nicht selten an eben jener linken Nachbürgerbohème orientieren, deren Angehörige mit den Armen schon immer gern ihr Bier teilten, weil diese so oll und lustig sind. Einig sind sich alle, sogar die meisten Armen selbst, in einem: Geld gibt es nicht geschenkt, und wer es zugesteckt bekommen will, muss etwas bieten, am besten bare Selbsterniedrigung. Eine Gesellschaft, die an solch generalisierter Asozialität keinen Anstoß nimmt, zugleich aber »streiken­den« Studenten ein monatelanges Medienecho liefert, hat ein Problem, dem das alte Konzept der »Hilfe zur Selbsthilfe« offenbar nicht mehr hin­reichend beikommen kann. Das ist nämlich ­selbst schon längst zur realen Basis des ero­dierenden Sozialstaats geworden.