Notstand in Mexiko

Auf der Suche nach Ground Zero

In Mexiko hat das Auftreten der Schweinegrippe nicht nur die Regierung bloßgestellt, sondern auch eine Reihe sonst kaum beachteter sozialer Missstände sichtbar gemacht.

»Von 397 bestätigten Fällen leben im Moment noch 381, und sechs sind gestorben.« Ein Raunen geht durch die Reihen der Journalisten. »16, 16, entschuldigung. Es sind 16.« Empörtes Getuschel, dann gibt sich der mexikanische Gesundheitsminister Dr. José Angel Córdova größte Mühe, zumindest die folgenden Zahlen fehlerfrei abzu­lesen.
Wenn das mexikanische Krisenmanagement ein Gesicht hat, dann ist es das von Córdova. Schlecht vorbereitet und nervös muss er sich täglich den Fragen der Journalisten stellen. Dabei kommt es schon einmal vor, dass er die eigene Presseerklärung so interpretiert, dass in Tlalpan, einem Stadtteil von Mexiko-Stadt, die meisten Todesopfer der Schweinegrippe gelebt hätten. Erst auf Nachfragen wird ihm dann selbst klar, dass sich die Ortsangabe auf das dort gelegene staatliche Institut für Atemwegserkrankungen Iner bezieht, wo ein Großteil der Infizierten betreut wird.
Zwei Tage lang zögerte er zudem, die Zahl der Verstorbenen nach unten zu korrigieren, obwohl einer seiner Mitarbeiter der Tageszeitung El Universal bestätigte, dass man die aktualisierten Zahlen der WHO längst gekannt habe. Das anfangs latente Misstrauen in die Informationspolitik der Regierung breitet sich inzwischen viel schneller aus als der Virus H1N1.
Zwar kursieren auch Verschwörungstheorien, etwa die Behauptung, Barack Obama habe bei seinem Besuch im Anthropologischen Museum Mitte April einen mexikanischen Archäologen infiziert. Doch scheint die Zwangspause vom Alltags­trott vor allem eine unbequeme Neugier anzustacheln. »Warum sterben in Mexiko Menschen an dem Virus und in anderen Ländern nicht?« murmelt ein Taxifahrer durch seinen Mundschutz. »Wenn die Grippe so schlimm ist, warum werden dann öffentliche Ämter und Restaurants geschlossen, während weiterhin täglich Hunderttausende in einer schlecht gelüfteten Metro durch die Stadt rollen?« fragt eine Lehrerin. »Warum erlaubt das Gesundheitsamt keine Autopsien von Menschen, die vielleicht schon im März an dem Virus gestorben sind?« will ein Mann wissen, dessen Sohn mit Verdacht auf Schweinegrippe seit über einer Woche im Krankenhaus liegt.
Während Experten in aller Welt unterschiedliche Prognosen über die weitere Ausbreitung, über mögliche Mutationen und die Gefährlichkeit des Virus H1N1 diskutieren, hat der Ausbruch der Krankheit in Mexiko soziale Probleme sichtbar gemacht. Bei der Suche nach dem ground zero, dem Ort, an dem der neuartige Grippevirus in Mexiko erstmals auftrat, spekulierten zahlreiche Tageszeitungen über einen möglichen Zusammenhang zwischen den Schweinemastfarmen im Bundesstaat Veracruz und dem gehäuften Auftreten von Atemwegserkrankungen unter der lokalen Bevölkerung, vor allem in der Gemeinde La Gloria. Deren Einwohner kritisieren das Unter­nehmen Granjas Carroll, eine Aktiengesellschaft, an der der größte Schweinefleischproduzent der Welt, Smithfield aus den USA, die meisten An­teile hält, bereits seit knapp drei Jahren. Den Sickergruben fehlen Biomembranen, beißender Gestank verbreitet sich kilometerweit, und eine bedrohlich angewachsene Fliegenpopulation dringt in die umliegenden Dörfer ein.

Doch die Straßenblockaden und Proteste einer An­wohnerinitiative blieben unbeachtet, stattdessen hagelte es Anzeigen wegen Störung der Verkehrsordnung. Auch als zwischen Dezember 2008 und März dieses Jahres 400 der 3 000 Einwohner La Glorias an Grippe erkrankten, reagierte das Gesundheitsamt zunächst nicht. Die Behörde entschied erst am 5. April, die Gegend zu einem »sanitären Sperrgebiet« zu erklären. In den Häusern wurden Desinfektionsmittel versprüht, doch weiterhin behauptet Fidel Herrera, der Gouverneur von Veracruz: »Zwei Kaltluftfronten und einige Hagelschauer haben die Grippe­welle ausgelöst.«
Herrera sagte Ende April jedoch auch, die Erkrankung des vierjährigen Edgar Enrique Hernández aus La Gloria sei der wahrscheinlich erste bestätigte Schweinegrippefall Mexikos. Der niño zero ist inzwischen gesund aus dem Krankenhaus entlassen worden, die Behörden sprechen von einem »isolierten Phänomen«. Andrés Timoteo Morales, Korrespondent der Tageszeitung La Jornada, berichtet jedoch von zwei Säuglingen aus La Gloria, die an Atemwegserkrankungen starben. »Es ist nicht klar, um welchen Grippetyp es sich handelte, da keine Autopsie vorgenommen wurde«, erzählt Morales der Jungle World. »Die Eltern haben darauf gedrängt, die Kinder zu exhumieren und dies nachzuholen, aber die Behörden weigern sich. Außerdem haben in La Gloria inzwischen viele Familien Angst, sich zu dem Thema zu äußern«
Granjas Carroll weist alle Vorwürfe zurück. In den Anlagen, in denen 50 Prozent des in Mexiko gehandelten Schweinefleischs produziert werden, sei kein Tier erkrankt. »Leider können wir das im Moment aber niemandem zeigen, weil wir die Tiere vor der hier eingeschleppten Grippe schützen müssen«, erklärt Jasmin Jimenez, Pressesprecherin von Granjas Carroll, der Jungle World. Derweil berichten lokale Umweltschützer wie Margarita Burgos von anonymen Drohanrufen, die ihr nahelegten, endlich den Mund zu halten. Das Militär hat auf den Straßen der Region inzwischen 42 Kontrollpunkte eingerichtet.
Am Rand von Mexiko-Stadt brach derweil am Freitag im Reclusorio Norte ein Gefängnisaufstand aus. Die Angehörigen der Inhaftierten, die kurze Zeit später das Reclusorio Norte belagerten, sprechen von einer »Hungerrevolte«, denn seit über einer Woche werde den Besuchern der Zutritt verwehrt, eine Vorsichtsmaßnahme, um die Ausbreitung der Schweinegrip­pe zu verhindern. »Das Problem ist aber, dass das für 3 000 Menschen ausgelegte Gefängnis mit 15 000 Inhaftierten völlig überbelegt ist«, empört sich eine Angehörige. »Wir, die Familien, sind es, die die Ernährung hier sichern.« Erst als vor dem Reclusorio Norte ein Auto in Flammen aufging, wurde bekannt gegeben, dass am Wochenende wieder ein Besucher pro Häftling ins Gefängnis darf.
Bis zum 6. Mai müssen dagegen noch die Betreiber von Restaurants warten, um wieder mehr als Speisen zum Mitnehmen anbieten zu dürfen. Viele Lokale haben lieber gleich ganz geschlossen, die meisten Angestellten mussten unbezahlten Urlaub nehmen. »Ich habe noch Glück gehabt«, meint ein Kellner im Stadtteil del Valle, der Büroangestellten zur Mittagszeit Lunchpakete ans Autofenster trägt. »Trotzdem arbeite ich höchstens drei Tage in der Woche. Wir wechseln uns ab, damit zumindest für jeden ein bisschen was übrig bleibt.«

Sein Chef mischt sich ein und verflucht die Regierung der Hauptstadt um Bürgermeister Marcelo Ebrard. Im angrenzenden Bundesstaat Estado de Mexico seien die Restaurants geöffnet. »Ich glaube, Ebrard will sich nachträglich mit diesen Schutzmaßnahmen einfach profilieren, nachdem auch seine Regierung anfangs lange gezögert hat, etwas zu unternehmen.« Ebrard will 2012 bei den Präsidentschaftswahlen kandidieren.
Über die Versorgung in den Krankenhäusern ist immer noch wenig bekannt, da das Gesundheitsministerium dem Personal weiterhin verbietet, Interviews zu geben. Dokumentiert ist ­inzwischen, dass Patienten von staatlichen Hospitälern abgewiesen wurden, obwohl die Regierung versichert, auch Menschen ohne Krankenversicherung würden betreut. Der Reporter Humberto Ríos Navarette von der Tageszeitung El Milenio sagt, dass Menschen aus den »geficktesten Klassen« am längsten auf eine Untersuchung warten müssten. »Außerdem sagen sie vielen, sie hätten bloß Angina, und verschreiben Antibiotika.«
Die Regierung deutete am Montag an, der staatliche Notfallplan, der u.a. die Schließung der Schulen und strikte Quarantänerichtlinien verfügt, werde in dieser Woche aufgehoben. Bis dahin sind auch Hausdurchsuchungen erlaubt, wenn diese einer Eindämmung der Grippeepidemie zuträglich sein sollten. Vielleicht wären solche Ermittlungen zumindest in einigen Krankenhäusern angebracht, denn von den über 60 dort an Lungenentzündung und nicht, wie anfangs vermutet, am H1N1-Virus Gestorbenen, könnten viele noch leben, wenn die medizinische Grundversorgung funktionieren würde. Der Laborleiter des Iner, Dr. Gustavo Reyes Terán, hatte bereits Ende vergangenen Jahres darauf hingewiesen, dass sei­ne chronisch unterfinanzierte Einrichtung der Zahl der Patienten nicht mehr gewachsen sei.

»Ein Staat, der wirtschaftlich und politisch versagt, hat nun auch im Gesundheitswesen seine Unfähigkeit bewiesen, seine letzte Daseinsberechtigung verspielt – ein gescheiterter Staat eben«, kommentiert der mexikanische Semiologe Ignacio Madrazo in der Dokumentation »Sieben Tage Quarantäne«, die seit Samstag im Internet kursiert. Madrazo hofft aber auch, dass die allgemeine Empörung der Bevölkerung den sozialen Bewegungen Zulauf verschaffen wird.
Die Front der Gemeinden zur Verteidigung der Erde (FPDT) aus dem nahe Mexiko-Stadt gelegenen San Salvador Atenco zumindest hat sich von Viruswarnungen nicht beeindrucken lassen. Ein bis heute ungeahndeter brutaler Polizeieinsatz in der Gemeinde hatte im Jahr 2006 für Schlagzeilen gesorgt. Nun versucht die FPDT mit einer inter­nationalen Kampagne, zwölf ihrer Mitglieder aus dem Gefängnis zu bekommen, die dort wegen angeblicher Entführung staatlicher Angestellter Haftstrafen zwischen 35 und 112 Jahren verbüßen sollen. »Vom 1. bis zum 3. Mai sind täglich über 300 Besucher zu Diskussionsrunden, Theateraufführungen und Konzerten nach Atenco gekommen«, berichtet Mary von der FPDT. »Da braucht es schon etwas mehr als eine Grippepanik, um uns bei unserem Kampf für Land, Freiheit und Gerechtigkeit aufzuhalten.«