Das neue Stück von Christoph Schlingensief

Der Krebs muss Krebs bekommen

Christoph Schlingensief verarbeitet auch in seinem neuen Stück »Mea Culpa. Eine ReadyMadeOper« seine Krebserkrankung. Die Aussage ist simpel: Der Tod lässt sich nicht vermeiden.

Hinterher, nach dem Stück, wird getuschelt: »Und, habt ihr? Also, ein bisschen? Wasser in den Augen, ja? Richtig geweint?« Im Theater weinen? Ja, kann man. Soll man sogar. Alles ist so nah. »Ich will über Krankheit, Sterben und Tod sprechen. Gegen diese Ächtungskultur ansprechen, die den Kranken Redeverbot erteilt. Ich gieße eine soziale Plastik aus meiner Krankheit. (…) Und natürlich darf man in der Öffentlichkeit auch seine Tränen zeigen. Warum denn nicht? (…) Ob das dann noch richtiges Theater ist – wen interessiert’s?«
Das schreibt Christoph Schlingensief selbst im Programmheft zu »Mea Culpa. Eine ReadyMadeOper«, seiner neuesten Inszenierung am Burgtheater. Offensichtlich wollen viele Menschen in Wien ganz nah dran sein, wenn der Regisseur seine soziale Plastik aus seiner Krankheit gießt. Und wollen wissen, wie das ist mit der Schuldfrage, wenn man so lebensbedrohlich erkrankt ist wie Schlingensief – nicht umsonst wiesen viele Zeitungen darauf hin, dass der an Lungenkrebs erkrankte Mann sein Leben lang Nichtraucher gewesen sei, der Künst­ler selbst ließ verlautbaren, seine Inszenierung des »Parsifal« 2004 in Bayreuth sei vermutlich krebserregend gewesen, denn es sei »Giftzeugs, was Wagner da verspritzt hat«, »Todesmusik«.
Bei der fünften und vorerst letzten Aufführung vor der Reprise im Juni drängelt sich zwischen dem für das Theater üblichen Sakko-Publikum (»In der Frankfurter war eine hymnische Besprechung! Ich bin extra aus Berlin angereist!«) auch eine gehörige Zahl an Szenegängerinnen und Szenegängern, die – wie alle anderen auch – sehen wollen, wie Schlingensief das Leiden an seiner Krebserkrankung auf die Bühne dieses angeblich immer noch wichtigsten deutschsprachigen Theaters bringt. Und diese beiden Fraktionen, die sich im Saal angiften, weil die jungen Leute immer zu spät kommen und die alten so bräsig in ihren Sesseln sitzen, werden nicht nur dadurch geeint, dass alle sowieso dieselben Zeitungen lesen, sondern auch dadurch, dass sie hier tatsächlich richtiges Theater serviert bekommen und genießen.
Auch wenn die – vom Regisseur im Stück selbst angegriffene – Welt in ihrer Rezension von einer »multimedialen Assemblage« und die von Schlingensief angeblich wegen veröffentlichter Details aus seiner Krankheitsgeschich­te verklagte FAZ ironisch von »einer herrlichen, neuen Klamotte« schrieb, wird doch schnell klar: So viel formal »richtiges« Theater gab es bei Schlingensief noch nie. Das Stück ist ganz klassisch in drei Akte eingeteilt, es gibt keine der sonst so typischen »Fehler« bzw. kalkulierten Unterbrechungen, nichts platzt über den Bühnenrand hinaus, und es ist deutlich: »Mea Culpa« wird in genau dieser Form jeden Abend reproduziert, wie das im Theater so ist.
Nach einer Exposition in Form eines »Parsifal«-Ausschnitts – wirkliche Oper, wirklich gesungen – führt der erste Akt in eine teure Ayurveda-Klinik, in der Margit Carstensen als strenge Leiterin und Irm Hermann als esoterische Erbauerin – von Schlingensiefs Freundin, der Kostümausstatterin Aino Laberenz, in ein wallendes Gewand im Stil von Queen Elizabeth I. oder Isolde Pavarotti gesteckt – über eine Truppe von Gesundheitssuchenden wachen. Diese sollen gemeinsam mit der Bühnenfigur Schlingensief (Joachim Meyerhoff) eine therapeutische Ver­sion des »Parsifal« aufführen. Fritzi Haberlandt spielt Schlingensiefs Freundin und auch noch Oda Jaune, die äußerst junge Witwe Jörg Immendorffs – und damit irgendwie alle aufopfernden Freundinnen von monomanischen, schwer kranken Männern, die große Kunst produzieren. Nachdem Meyerhoff / Schlingensief sich in eine überdimensionale Krebszelle eingeschlossen hat, da man »zum Krebsgeschwür des Krebses werden muss« – was aber gleich wieder als »Quatsch« der Gesunden entlarvt wird –, und irgendwann nur noch Schluss machen will, weil trotz der »Quadrophonie der Heilung« alle in der Klink wegsterben, besinnt man sich auf die Kraft der Oper und Afrikas. Gemeinsam zieht man dem »rauschhaften Sichausleben« entgegen. Schlingensief verfolgt ja tatsächlich schon seit längerem den Plan, in Afrika ein Opernhaus nach dem Vorbild von Bayreuth zu bauen.
Im zweiten Akt laufen die Proben in Afrika nicht gerade glatt, Schlingensiefs Freundin stürzt sich aus dem Fenster, und es wird festgestellt: »Theaterarbeit ist keine Demokratie, Theaterarbeit ist Diktatur.« Am Ende des zweiten Aktes steht der Regisseur auf einmal selbst auf der in den Zuschauerraum ragenden Brücke und kommentiert die Videoprojektion zu seiner Aufführung von »Der Fliegende Holländer« in Manaus. Er sieht gut aus, jungenhaft, mit sorgfältig lausbübisch frisiertem, grauem Haar, und alle erleben den Thrill, den Untoten so leibhaftig vor sich zu haben, schämen sich aber wohl auch ein bisschen, eigentlich nur genau darauf gewartet zu haben.
Der dritte Akt beginnt, der Traum vom afrikanischen Opernhaus wurde verwirklicht, in dem sich Afrikaner und Europäer gegenseitig inspirieren und in das nicht mehr immer nur die Leute vom Goethe-Institut kommen und erklären, was Kultur ist. Die vier stummen, schwarzen Frauen, die zuvor noch adrette Krankenschwestern in der Ayurveda-Klinik waren, machen vor dem Opernhaus eine Modenschau in traditionellen Gewändern, und man fragt sich allmählich, ob mit diesen Figuren der Exotismus eines André Heller ironisiert oder vielleicht doch nur repliziert wird. Schlingensiefs verstorbener Vater tritt auf und will den Regisseur zu sich nehmen. Eine alte Opernsängerin, selbst näher am Tod als Schlingensief, singt Isoldes »Liebestod« – überhaupt gibt es keine jungen Menschen in diesem Stück –, dann entscheidet sich der Künstler für das Dableiben, und alles ist aus.
Selbstverständlich gibt es die anarchischen Elemente, die die Drehbühne prall mit Action füllen, so dass man sich dank der Versatzstücke von Wagner, Goethe, Slavoj Žižek, Elfriede Jelinek, Derek Jarman und Sheryl Crow und der flimmernden Filmprojektionen und bunten Kostüme nie langweilt. Aber die sind es nicht, die die Differenz zum gewöhnlichen Theater herstellen. Diese gibt es nämlich doch: Das Ausstellen des ganz persönlichen Leids, die ständige Nähe zum Tod lässt sich nicht mit normalen Kritikbegriffen fassen.
Wie be- oder verurteilt man, dass ein Mensch Angst vor dem Tod hat? Kann man das gut oder schlecht finden? Die Welt brachte einigermaßen herzlos den Begriff der »moralischen Erpressung« ins Spiel – um dann doch die eigenen Tränen zuzugeben. Schlingensief selbst bzw. sein vom Schauspieler Joachim Meyerhoff verkörpertes Alter Ego erinnert daran, dass er immer »alles ernst gemeint« habe, dass er nicht habe provozieren wollen – er will verstanden, ja, geliebt werden, und das Publikum und die Kritik verweigern sich ihm nicht.
Trotzdem ist »Mea Culpa«, das als dritter Teil der Krankheitsverarbeitung nach den düsteren Vorgängern »Der Zwischenstand der Dinge« und »Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir« viel weniger fatalistisch daherkommt, glücklicherweise nicht als eine Geschichte der Erlösung mit abschließender, kollektiver Katharsis zu verstehen. Die Essenz der »ReadyMadeOper« ist dabei so simpel und evident, wie sie zunächst barbarisch klingen mag: Der Tod ist ebenso unvermeidlich wie die Angst davor, und eine Lösung gibt es nicht. Linderung vielleicht nur, indem »man an der Arbeit dranbleibt«, wie Schlingensief im Interview mit der österreichischen Tageszeitung Die Presse sagte. Denn: »Die Kreativität ist ein Weg, sich der Krank­heit zu verweigern.« So endet das Stück schlicht damit, dass ein körperloses Gesicht hinter einem roten Vorhang hervorlugt und ausspricht, was man im Theater sonst nie zu hören bekommt: »Tschü-hüss!«