Serie über Serien: »Die Sesamstraße«

Anarchie im Kinderfernsehen

Serie über Serien. Ralf-Olaf Pfarr sieht sich immer noch gerne die Sesamstraße an. Aber nur die frühen Folgen.

Gerne schaue ich mir mit meinen Kindern DVDs an. Darunter befinden sich »Der kleine Bär«, »Der kleine Eisbär« und »Der kleine König«. Alles ausreichend infantile Fernsehkost für unseren Nachwuchs. Aber ich muss gestehen: Am allerallerliebsten gucke ich die »Sesamstraße«. Natürlich ebenfalls auf DVD, denn hier sind ausschließlich Auszüge aus den amerikanischen Folgen versammelt. Von Tiffy, Samson, Herrn von Bödefeld und anderen Deutschen bleibt man hier dankenswerterweise verschont. Auch in den USA werden die frühen »Sesamstraßen«-Werke in diesem Format vertrieben, allerdings findet sich dort auf den Covern ein warnender Hinweis: »These early ›Sesame Street‹ episodes are intended for grown-ups and may not suit the needs of today’s preschool child.« Das mag auf den ersten Blick irritieren, doch ist es durchaus folgerichtig. Denn so intelligent wie in den späten Sechzigern und frühen Siebzigern war Fern­sehen für Vorschulkinder nie wieder. Die grassierende geistige Regression darf eben auch vor unseren Jüngsten nicht Halt machen.
Das meine ich durchaus ernst: Die »Sesam­straße« war damals antiautoritär und aufklärerisch, zeichnete sich durch anarchische Komik aus und hatte den Anspruch, auch und gerade die Kinder unterprivilegierter Schichten anzusprechen. Kein Zufall also, dass sich die »Sesam­straße« in einem Slum zu befinden schien.
Der Bayerische Rundfunk erkannte die rote Gefahr sofort und weigerte sich, die Serie auszustrahlen. Stattdessen wurde »Das feuerrote Spielmobil« gezeigt – ein heute zu Recht vergessenes Kindersendungssurrogat. Wenige Jahre später ging man dazu über, weichgespülte Rahmenhandlungen für die deutsche Fassung zu drehen, die in einem hiesigen Dorf zu spielen schienen. »Sesamstraßen«-Mastermind Jim Henson schickte seine Spione auf Erkundungstour los und gab ihnen den Auftrag, Puppen zu ent­werfen, die dem deutschen Wesen entsprechen. Das Ergebnis waren die oben erwähnten Figuren – so sieht man mal, was die Amerikaner wirklich von uns denken! Da passt Dirk Bach, der viele Jahr später ebenfalls das »Sesam­straßen«-Fernsehbild mit sich ausfüllte, doch perfekt ins Programm.
Kommen wir aber noch mal auf das Original und seine wunderbaren Originale zurück. Da war Kermit der Frosch in seinen verschiedenen Rollen, da war das Krümelmonster (das heutzutage dazu verdammt ist, Obst, Gemüse und Vollkornkekse zu essen – kein Scherz!), Graf Zahl (der mich mit seiner Fixierung auf Zahlen an meine Tochter erinnert), Grobi, Bibo, Sherlock Humbug, die einem LSD-Trip entsprungenen Yip-Yips, Oscar aus der Mülltonne, der Hehler Schlemihl (»He, du!« – »Wer, ich?« – »Psssst!« – »Wer, ich?« – »Genaaaaau …«) und natürlich Ernie und Bert. Insbesondere die Szenen mit letzteren beiden sind immer noch überaus sehenswert. Nie wurden WG-Probleme überzeugender dargestellt: Ernie ist ein lebenslustiger und liebenswerter, manchmal gedankenloser, aber auch schlitzohriger Geselle, der seinen Freund Bert – einen Büroklammern sammelnden Spießer – immer wieder bewusst oder auch aus Versehen übers Ohr haut. Bert will vor allem seine Bücher übers Taubenzüchten lesen und seine Ruhe haben, die er jedoch nicht bekommen wird – zumindest nicht, so lange er mit Ernie zusammenlebt. Und da wären ja auch noch die wunderbaren Songs wie »Ich mag Müll«, »Máh-Ná-Máh-Ná« (ursprünglich geschrieben für einen Softporno) sowie die Reggae- und Disco-Parodien und, und, und …
Ich denke, die »Sesamstraße« ist ein guter ­Grund, weitere Kinder in die Welt zu setzen – oder sich einfach in die Kinderabteilung der Bücherei zu schleichen, um sich die DVDs auszuleihen und sie sich nachts in gemütlicher Runde anzuschauen.