Wo der Jude ist, ist der Partisan
Während des Zweiten Weltkriegs ist in fast allen von Deutschland und seinen Verbündeten überfallenen und besetzten europäischen Ländern ein Partisanenkampf geführt worden, der nach Kriegsende in fast allen europäischen Ländern gefeiert wurde. Lange galten die Partisanen als Helden. In den vergangenen zwei Jahrzehnten begann sich diese Einschätzung zu ändern. Das Ende des Kalten Krieges markierte in einigen europäischen Ländern den Anfang eines neuen, nicht nur historiographischen, sondern auch gesellschaftlichen und politischen Diskurses über »Opfer« und »Täter«. Die neue Geschichtsschreibung ist noch nicht abgeschlossen, jedoch zeigen die Debatten in einigen europäischen Ländern wie die Umkehrung dieser Begriffe funktioniert: Aus Helden wurden Terroristen und aus deutschen Tätern Opfer der Vertreibung gemacht. Hier einige Beispiele.
In Lettland wurde in diesem Jahr ein ehemaliger Partisan wegen »Kriegsverbrechen« verurteilt. Dass dieses Urteil vom Europäischen Gerichtshof aufgehoben wurde, hinderte die Staatsanwaltschaft im benachbarten Litauen nicht daran, ein Ermittlungsverfahren gegen litauische und jüdische Partisanen einzuleiten, denen »Mord« und »Terrorismus« vorgeworfen wird. In Italien werden die von Tito angeführten jugoslawischen Partisanen seit Jahren beschuldigt, »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« an den italienischen Invasoren begangen zu haben. Die Präsidentin des deutschen Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, schloss sich diesen Vorwürfen an und ergänzte sie durch die Behauptung, dass die Tito-Partisanen »Völkermord« an den Angehörigen der deutschen Minderheit verübt hätten. Welche Bedeutung hat dieser neue »Partisanenkampf« für die deutsche und internationale Erinnerungs- und Geschichtspolitik?
Der ehemalige Leiter der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, Yitzak Arad, hat die litauische Kampagne gegen die jüdischen Partisanen, zu denen er selbst gehörte, mit dem Satz kommentiert: »Sie wollen die Geschichte umschreiben.« Welche Geschichte? Einmal die des jüdischen Widerstands gegen den europäischen Faschismus wie er vom Frankfurter Historiker Arno Lustiger erforscht wurde. In seinem 1994 erschienenen Buch »Zum Kampf auf Leben und Tod. Das Buch vom Widerstand der Juden 1933–1945« geht Lustiger auf ein zentrales Element der israelischen Erinnerungs- und Geschichtspolitik ein. Deren Ziel war und ist es, den unter anderem von Hannah Arendt erhobenen Vorwurf zu widerlegen, wonach die Juden »wie die Lämmer zur Schlachtbank« gegangen seien. Sein Buch ist die erste umfassende Gesamtdarstellung des von Juden in ganz Europa geleisteten bewaffneten Widerstands, die ein nach wie vor weit verbreitetes Bild der Juden als Opfer revidiert. Damit wurde und wird auch die unnachgiebige Haltung Israels im Nahostkonflikt begründet. Weder damals noch heute will man hilf- und wehrloses Opfer sein. Aus diesem israelischen bzw. zionistischen Selbstbild haben Antizionisten und andere Antisemiten das Fremdbild vom jüdischen bzw. zionistischen Täter gemacht.
Diese Opfer-Täter-Umkehrung ist zum zentralen Element des neuen »sekundären Antisemitismus« geworden. Mit dem »sekundären« Antisemitismus kann man den primären legitimieren. Waren die Juden nicht »selbst schuld«, weil sie oder ihre Repräsentanten (wie Chaim Weizmann) »Deutschland den Krieg« erklärt und in den Reihen der europäischen, vor allem kommunistischen Partisanenverbände, gekämpft haben? So lautet die wirklich gemeine Frage, die heute keineswegs mehr nur von Revisionisten gestellt wird und keineswegs mehr hinter vorgehaltener Hand.
Mit der Formel »wo der Jude ist, ist der Partisan« begründete die Wehrmacht den Vernichtungskampf gegen die Juden »im Osten«. Dieses lange und geradezu verbissen geleugnete Faktum ist der deutschen Öffentlichkeit erst 1995 durch die erste Wehrmachtsausstellung sehr eindrücklich und unwiderlegbar bekannt gemacht worden. Durch viele Dokumente und Bilder wurde der Mythos von der »sauberen Wehrmacht« zerstört. Sie war an dem beteiligt, was man so verschwommen und ungenau als »Holocaust« bezeichnet. Der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion war auch ein »Krieg gegen die Juden«. Und die Judenmörder in Feldgrau handelten aus eindeutig antisemitischen Motiven, wie zahllose Feldpostbriefe und Fotos beweisen, die deutsche Soldaten grinsend vor ihren jüdischen Opfern zeigen. Daniel Goldhagen hatte Recht, wenn er kurz und bündig verkündete: »No Germans, no holocaust!«
Selbst die verbissensten Gegner Goldhagens und der ersten Wehrmachtsausstellung haben inzwischen akzeptieren müssen, dass sich die Wehrmacht an dem Mord an den Juden beteiligte. An dieser Front, um es einmal militärisch auszudrücken, werden nur noch einige Rückzugsgefechte geführt. So wurde an der Echtheit der in der Wehrmachtsausstellung gezeigten Bilder gezweifelt (sie enthielt insgesamt vier falsche oder gefälschte Fotos, wie sich herausstellte). Außerdem wurde die Behauptung einiger jüngerer Historiker wie Christian Gerlach zurückgewiesen, dass auch einige Helden des Hitler-Attentats wie Boeselager, Gersdorff und Tresckow vom Judenmord der Wehrmacht gewusst, ihn geduldet hätten und, zumindest indirekt, daran beteiligt gewesen seien. Doch auch diese Tatsache wird über kurz oder lang akzeptiert werden müssen. Anders verhält es sich mit einem anderen Argument, mit dem sich diese »guten«, weil »widerständigen« Offiziere in völliger Übereinstimmung mit ihren sonstigen Kameraden befanden. Das ist die Tatsache, dass es im Osten wirklich Partisanen gab, unter denen sich auch viele Juden befanden. Ihre Bekämpfung ist von der Staats- und Wehrmachtsführung mit zwei Ideologien begründet worden, die auch heute noch nicht als solche erkannt worden sind, sondern als »wahr« und »berechtigt« angesehen werden.
Die eine ist die immer wieder kolportierte Behauptung, dass viele Juden Bolschewiken gewesen seien, weshalb der Bolschewismus insgesamt einen »jüdischen« Charakter gehabt habe. Das ideologische Konstrukt vom »jüdischen Bolschewismus« wird auch heute von vielen deutschen und ausländischen Historikern nicht als solches erkannt, sondern als Fakt angesehen. Als weitere Bestätigung der Ideologie vom »jüdischen Bolschewismus« gilt für deren Erfinder die Existenz von jüdischen Partisanen. Dabei waren viele jüdische Partisanen keine Bolschewisten, sind von letzteren gar nicht in die kommunistischen Partisanenverbände aufgenommen worden und wurden nicht selten von ihnen bekämpft und ermordet.
Die zweite Ideologie betrifft die »Illegalität« der Partisanen, weshalb ihre Bekämpfung durchaus legal gewesen sei. Beides ist falsch und keinesfalls eine Rechtfertigung für die so genannte »Bandenbekämpfung«. Denn nach dem Kriegsvölkerrecht verfügen Partisanen unter bestimmten Bedingungen über einen rechtlichen Status, weshalb sie als Kombattanten anzusehen sind. Doch diese Bestimmungen des Kriegsvölkerrechts sind von Deutschland nie anerkannt worden. Dies keineswegs erst im Zweiten, sondern bereits im Ersten Weltkrieg, als die belgischen Partisanen, die sich nach dem französischen Vorbild franc-tireurs nannten, grausamen Repressalien ausgesetzt waren, die auch auf die völlig unbeteiligte Zivilbevölkerung ausgedehnt wurden. Dies wurde wiederum mit dem Hinweis auf die angeblichen »belgischen Gräueltaten« begründet.
In Deutschland gab es also schon lange vor der NS-Zeit einen negativen Partisanenmythos, der tief in der Mentalität der deutschen Bevölkerung und des deutschen Militärs verankert war. Im Zweiten Weltkrieg wurde er von der Wehrmacht ausgenutzt und radikalisiert, auch heute scheint er nicht überwunden zu sein.
Dieses negativ konnotierte Partisanenbild erklärt jedoch nicht, dass auch einige unserer europäischen Nachbarn am »deutschen Wesen genesen« wollen, indem sie die Partisanen zu jüdischen und kommunistischen Terroristen erklären.
Bei der »Bandenbekämpfung« bedienten sich Wehrmacht und SS auch der Hilfe von einheimischen Kollaborateuren, die sowohl aus antikommunistischen wie antisemitischen Motiven in so genannten »Bandenbekämpfungstruppen« gegen ihre Landsleute kämpften und sie ermordeten. Dabei haben sie ihre deutschen Lehrmeister an Brutalität und antisemitischem sowie antikommunistischem Fanatismus teilweise übertroffen. Diese »Ostlegionäre«, wie sie auch genannt wurden, rekrutierten sich überwiegend aus Bürgern der Sowjetunion, die wie die Esten, Letten, Litauer, Ukrainer nach dem Zusammenbruch der UdSSR ihre nationale Unabhängigkeit wieder erhalten haben und daran gegangen sind, ihre Geschichte umzuschreiben.
Das galt und gilt auch für die Bewertung des Partisanenkampfes. Aus den Kämpfern, die sich im Rahmen der deutschen »Bandenbekämpfung« am Vernichtungskrieg gegen den »jüdischen Bolschewismus« beteiligt haben, wurden Helden, aus den bolschewistischen und jüdischen Partisanen, die sich selbst und ihr Land verteidigt haben, »Kriminelle«, »Terroristen« und »Völkermörder«. Dies können eigentlich nur Antikommunisten und Antisemiten gut finden. Der neue »Partisanenkampf« ist ein Beweis dafür, dass die Ideologien des Antikommunismus und des damit häufig verbundenen Antisemitismus im Ansteigen begriffen sind. Nicht nur in Deutschland, sondern international.