Der Hintergrund der ruandischen Anklagen gegen Frankreich

Jeder checkt den anderen

Die von der ruandischen Regierung gegen Frankreich erhobenen Anklagen dienen auch innenpolitischen Zielen. Die Repression gegen Dissidenten wird verschärft.

Die Aufregung hat sich schnell wieder gelegt. Dass Frankreich dem Anfang August veröffentlichten Bericht einer ruandischen Untersuchungskommission zufolge nicht nur die Planung eines Genozids unterstützte und schließlich den Rückzug der Mörder durch eine Militär­intervention ermöglichte, sondern französische Soldaten direkt an Erschießungen und Vergewaltigungen beteiligt waren, sorgte nur we­nige Tage lang international für Schlagzeilen. 33 Verantwortliche aus den Führungskreisen der französischen Armee und Politik benennt der Bericht. Doch die französische Regierung erklärte die Anschuldigungen für »inakzeptabel«, juristische Konsequenzen sind nicht zu erwarten.
Für die meisten rescapés, die Überlebenden des Völkermordes, waren die zusammengetragenen Aussagen hingegen nicht neu. »Wir waren natürlich nicht überrascht, da wir alles selbst erlebt haben«, erklärte Benoit Kaboyi, der Generalsekretär des rescapé-Dachverbandes Ibuka der Jungle World. In Ruanda wurde die Publikation des Reports eher beiläufig aufgenommen. Die Rolle Frankreichs ist den meisten Ruandern ­bekannt und wird jedes Jahr bei den Gedenkwochen intensiv von Regierungsvertretern betont.
Ibuka forderte Frankreich auf, die im Bericht genannten Personen strafrechtlich zu verfolgen. »Sollte es international wirklich Gerechtigkeit geben, dann müssten diese Leute angeklagt werden«, sagt Kaboyi, der allerdings erhebliche Zweifel hat, dass dies geschehen wird. »Obwohl die Inhalte des Reports schon durch andere Publikationen bekannt waren, ist die Zusammenstellung dieser Berichte ein Zeichen politischen Muts«, erklärte der Ibuka-Sprecher Theodore Simburudar Anfang August. Allerdings war die Veröffentlichung des Reports innenpolitisch nicht gewagt, sondern nützlich. Die Regierung des Front Patriotique Rwandais (FPR) unter dem Präsidenten Paul Kagame verschärfte den Ton gegenüber Frankreich in den vergangenen Jahren immer mehr, der Verweis auf den äußeren Feind soll der Schaffung einer neuen »nationalen Identität« dienen.

Die Gefängnisse des Landes sind nach wie vor überfüllt. Die Mehrheit der Hutu, die etwa 85 Prozent der Bevölkerung stellen, verhält sich seit dem militärischen Sieg der FPR im Juni 1994 zwar weitgehend ruhig. Doch überpropor­tional viele Schlüsselpositionen werden von Tutsi besetzt, Armut ist weit verbreitet und die Ideologie der Hutu Power ist immer noch virulent.
Bisher sorgt eine Kombination aus Obrigkeitshörigkeit, Überwachung und Repression für Stabilität und relative Ruhe. Angesichts mangelnder Möglichkeiten, Unmut zu äußern, bleibt das Ausmaß der Unzufriedenheit unter der Hutu-Bevölkerung unbekannt. Zumal es offiziell keine Hutu und Tutsi mehr gibt. Die ethnischen Kategorien wurden vom FPR abgeschafft und dürfen nur noch im Zusammenhang mit historischen Ereignissen erwähnt werden.
Doch »praktisch jeder Ruander fragt sich zuerst, welcher Gruppe der andere angehört, wenn man jemanden trifft«, sagt eine Mitarbeiterin von Ibuka, die anonym bleiben möchte. »Und wenn man es nicht sieht, stellt man einfach ein paar Fragen zur Familiengeschichte und weiß dann, mit wem man es zu tun hat«, berichtet die Soziologin, die während des Genozids ihre gesamte Familie verlor. »Die meisten rescapés sind von der Regierung enttäuscht, da sie die Mörder nach und nach in die Freiheit entlässt.«
Die ruandische Regierung scheint tatsächlich der Hutu-Mehrheit entgegenkommen zu wollen. Zumindest in Fragen alter Schuld. Im Laufe der Gacaca-Dorfgerichtsverhandlungen kamen Tausende Mörder durch einfache Geständnisse, kombiniert mit obligatorischen Entschuldigungsgesten, frei. Seit dem Beginn der Gacaca-Prozesse im Jahr 2005 häufen sich Übergriffe und Morde an Überlebenden. Nach Angaben von Ibuka sind seit April zwölf rescapés von ihren Nachbarn ermordet worden. Zuletzt wurde eine 91jährige Tutsi bei lebendigem Leibe verbrannt. Ihre Nachbarn wollten ihre erneute Aussage vor dem Dorfgericht verhindern.
Andererseits wird die Repression gegen die gesamte Bevölkerung verschärft. Kigali soll zur repräsentativen Hauptstadt werden. Straßenhändler und Straßenkinder wurden bereits vor Jahren vertrieben. Das Barfußlaufen ist in Kigalis Straßen ebenso verboten wie das Tragen einfacher Schlappen.

Auch die Presse wird staatlich kontrolliert, kritische Berichterstattung gibt es kaum. Im Fokus der Kritik stehen derzeit ruandische Journalisten, die für BBC und Voice of America arbeiten. Am Montag vergangener Woche erklärte die Informationsministerin Louise Mushikiwabo, dass diese Reporter die »soziale Kohäsion« im Land zerstören wollten. »Wir müssen nun noch genauer prüfen, was wir senden und schreiben. In den letzten Jahren wurden immer wieder Journalisten inhaftiert oder von Schlägertrupps zusammengeschlagen«, berichtet ein ruandischer Mitarbeiter einer internationalen Organisation, der in einem Friedensmedien-Projekt arbeitet und seinen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte.
Regierungskritische Äußerungen werden in Ruanda konsequent als »Divisionismus« und Verbreitung von Genozid-Ideologie bezeichnet. So werden Oppositionelle und Dissidenten diskreditiert, manchmal aber auch jene, die von gesellschaftlichen Normen abweichen. Die regierungstreue Tageszeitung New Times titelte nach dem Erlass eines Gesetzes gegen Homosexualität im Sommer 2007: »Homosexuality is Moral Genocide«.

Gegen derartige Formen der Instrumentalisierung des Genozids protestierte Ibuka immer wieder. Doch nach der Inhaftierung mehrerer Funktionäre der Organisation in den vergangenen Jahren und unter zunehmendem staatlichen Druck scheint nun auch diese kritische Stimme verstummt zu sein. Gegenüber der Jungle World bekräftigt Benoit Kaboyi die Vorwürfe gegen BBC und Voice of America: »In Deutschland dürfen auch keine ehemaligen Nazis die Shoah leugnen oder erneut zur Gewalt aufrufen. Solchen Leuten wird einfach kein Platz in den Medien gegeben. Im Falle des ruandischen Genozids ist es international aber völlig normal, dass Täter oder Leugner des Völkermordes interviewt werden und ihre Thesen verbreiten dürfen.« Klar spricht sich Kaboyi für Pressefreiheit aus. Diese müsse aber Grenzen haben: »Die besagten Journalisten haben Leute interviewt, gegen die Verfahren laufen. Und dass dies in der Landessprache stattfand, macht die Sache noch ernster.«
Angesichts stetig zunehmender Gewalt gegen rescapés in den Dörfern und einem nicht einschätzbaren Potenzial an Hutu-Extremisten ist die vollständige Gewährung bürgerlicher Freiheitsrechte in Ruanda derzeit kaum möglich. Doch die Regierung diskreditiert sich durch die ­Instrumentalisierung des Genozids zu Zwecken des Machterhalts. Langfristig dürfte die Strate­gie, durch den Verweis auf den externen Feind Frankreich die angestrebte »nationale Identität« zu schaffen, scheitern.