In die Stille

Zu Unrecht vergessene Musik, Teil fünf: Das Spätwerk von Talk Talk rührt Thomas Blum zu Tränen

Betrachtet man die vier Männer in weißen Seidenanzügen, die Anfang der achtziger Jahre püppchenhaft zurechtgemacht für ein Reklamefoto ihrer Plattenfirma posieren, fällt es einem schwer zu glauben, dass das die Leute sein sollen, die nur wenige Jahre später das erfinden werden, was man heute übereingekommen ist, als »Post-Rock« zu bezeichnen. Aus der Band Talk Talk um den Sänger und Multiinstrumentalisten Mark Hollis, die ihre höchst absonderliche Karriere mit gefälligem New-Romantic-Pop nach der Machart von Duran Duran begann (»It’s my life«, »Such a shame«), sollte am Ende des Jahrzehnts ein improvisierendes, von Miles Davis ebenso wie von John Cage beeinflusstes Musikerkollektiv erwach­sen, das mit den Hitparaden etwa so viel zu schaffen hat wie ein Paradiesvogel mit einer ausgestopften Taube. Auf ihren beiden Spätwerken »Spirit of Eden« (1988) und »Laughing Stock« (1991) entdeckt die Gruppe die unermessliche Schönheit der Langsamkeit und des freien Spiels der Klangfarben, vermengt freimütig und offenbar von irgendwel­chen Drogen angetrieben Versatzstücke aus dem Blues, dem Folk, dem Jazz, der modernen Klassik und der improvisierten Musik, durchwirkt das Ganze ebenso mit Momenten erhabener Stille wie mit krachenden Feedbackpassagen, und erschafft dabei einen Sound, der den vernagelts­ten Atheisten zum religiösen Schwärmer machen kann, wenn auch nur für 40 Minuten.

Und wie ihre Musik sich vom Diktat der In­dus­trie und der unablässig wechselnden Moden be­freit und im Laufe weniger Jahre vom un­be­darf­ten Synthiepop zu minimalistischer Kam­mer­musik und Impro-Lärm mutiert, so schert sich auch die Band selbst irgendwann nicht mehr um die Gesetze des Marktes. Zuerst verärgert sie ihre Plattenfirma EMI, indem sie das Outfit ändert: Ihre Seidenanzüge ersetzt sie durch ausge­beulte Jeans. 1987, während der Arbeit an »Spirit of Eden«, überzieht die Gruppe das hohe Bud­get, das ihr von der Plattenfirma gewährt wurde. Als das Album erscheint, lehnt Mark Hollis es nicht nur ab, dass Singles ausgekoppelt werden, er weigert sich überdies, live aufzutreten. Die Platte verkauft sich äußerst schlecht, EMI versucht, die Band loszuwerden. Nach einem Rechtsstreit, der zugunsten der Musiker endet, erhält die Gruppe einen neuen Plattenvertrag beim Jazz-Label Verve.

Ist es für gewöhnlich bis heute in der Pop­industrie so, dass der kommerzielle Erfolg einer Band von Album zu Album wächst und im Verlauf dessen, meist unter dem Druck der Plat­tenfirma, die fabrizierte Musik immer gleichförmiger und belangloser wird, ist im Falle von Talk Talk das Gegenteil der Fall: Die Musik wird fortwährend aufregender, regelloser, blüht wild und ungestüm inmitten der mausetoten Popwüste, der Erfolg bleibt mehr und mehr aus. Je mehr sich die Band von den Anforderungen der Charts löst, dem stagnierenden Achtziger-Jahre-Pop-Bum-Bum eine Nase dreht, je offensichtlicher sie die Konvention verachtet, je improvisationsverliebter, abstrakter, verspielter, dynamischer ihre Hervorbringungen klingen, je anrührender und aufwühlender das ist, was da auf den letzten beiden Alben getrieben wird, diesen unfasslichen Klangwundern, desto weniger Menschen interessieren sich dafür. Nach der Veröffentlichung des Albums »Laughing Stock«, das ein gigantischer kommerzieller Misserfolg wird, löst sich die Band auf. Mark Hollis, der, wie ein Fan im Internet es treffend formuliert, »die Stille so zu verwenden scheint, als handle es sich bei ihr um ein Mu­sik­instrument«, hat vor zehn Jahren ein aus­schließ­lich akustisch eingespieltes Soloalbum veröffentlicht, »das ruhigste Album des Jahrzehnts« (Rock Rough Guide), das es wegen seiner Kargheit und überwältigenden Schönheit tatsächlich verdient, einzigartig genannt zu werden, woraufhin der Mann es, statt das Leben eines alternden Popstars zu führen, vorgezogen hat, unwiderruflich dorthin zu verschwinden, wo seine Musik schon lange ist: in die Stille.

Auf Youtube kommentiert jemand einen Song von Mark Hollis wie folgt: »I’m a 39 year old man, sitting at my desk at my office, crying. Bril­liant.« Jemand anderes antwortet ihm: »Well, we are two then.« Wir sind also schon drei. Talk Talk: Laughing Stock (Verve 1991)/Spirit of Eden (EMI 1988), Mark Hollis: Mark Hollis (Polydor 1998)