Das Prinzip Hoffnung

Die Bahn hat gestreikt – und das war gut so. von horst evers

Am Hauptbahnhof treffe ich Holger. Wie alle anderen starrt auch er auf die große Anzeigetafel mit den abfahrenden Zügen: Zug fährt nicht – fällt aus – fällt aus – fährt nicht. Es ist Streik.

Holger erzählt, er habe eine Praxis gegründet. Eine Praxis zum Warzenbesprechen. Sage Holger, ich hätte gar nicht gewusst, dass er von so was Ahnung hat. Holger sagt, er hat auch keine Ahnung, aber das sei nebensächlich. Wichtig bei sowas sei, dass man seriös ist.

Gut. Frage Holger, wie denn jemand, der vom Warzenbesprechen keine Ahnung hat, eine seriöse Warzenbesprechungspraxis aufmachen kann. Holger erklärt: Rund die Hälfte aller Warzen verschwindet von selbst wieder. Wenn nun Leute mit Warzen zu ihm kommen, er diese Warzen bespricht, und die Warze verschwindet nicht innerhalb von sechs Monaten, gibt er denen einfach das Geld zurück. Ohne Tricks oder Komplikationen. Geld zurück – fertig. Wenn jedoch die Warze verschwindet, kann er schön das Geld behalten. Da er seines Wissens der einzige Warzenbesprecher mit so einer Geld-zurück-Garantie ist, werden ihm die Leute die Bude einrennen. Das Arbeitsamt jedenfalls findet die Geschäftsidee gut, die wollen seine Praxis fördern.

Ein Mann kommt angerannt, er scheint besonders verzweifelt. Murmelt ununterbrochen: »Bitte, bitte, bitte!« vor sich hin. Hektisch rasen seine Augen über die Anzeigetafel. Plötzlich: »Ah, nach Elsterwerda – fällt aus.« Aufgeregt greift er sein Handy, tippt eine Nummer: »Ja, bin hier am Hauptbahnhof, der Zug fällt aus, ja, da kann man nichts machen, jaja, sehr ärgerlich, ich meld mich dann.« Dann legt er auf, reißt seine Arme hoch, jubelt und geht fröhlich pfeifend in Richtung Café.

Später am Abend wird sich ein Wirtschaftsexperte auf n-TV wundern, dass trotz mittlerweile mehrfachen Streiks und erheblicher Einschränkungen immer noch eine klare Mehrheit der Bevölkerung großes Verständnis und Sympathie für die Forderungen der Lokführer hat.

Ein Fernsehteam spricht uns an. Fragt, ob wir wütend auf die Bahn und den Streik sind. Ich sage: »Nö, eigentlich.« Das Fernsehteam geht weiter. Zehn Meter entfernt finden sie jemanden mit mehr Pöbelpotenzial. »30 Prozent«, brüllt er in die Kamera, »ich hätte auch gern 30 Prozent! 30 Prozent!!!« Das Fernsehteam lobt den Mann für seine Authentizität, gibt aber zu bedenken, dass es sogar 31 Prozent sind. In einem kurzen Gespräch entschließt man sich, das Ganze nochmal mit 31 Prozent zu machen. Diesmal wird es sogar noch authentischer.

Holger geht zum Fernsehteam und erklärt sich bereit, Bahnchef Mehdorn zu beschimpfen. Auch gerne ganz wüst und obszön. Der Interviewer winkt ab. Obszöne Mehdorn-Beschimpfungen haben sie schon genug. Die kriegt man ja an jeder Ecke. Aber wenn er was zu Gewerkschaftschef Schell und seiner Kur hätte. Für Holger kein Problem. Er hebt an: »Jaja, einfach während des Streiks in Kur gehen, so sind se, das können se, andere können sowas nicht, aber die, die können das! Unverschämtheit! Aber was jetzt jeder kann, ist, sich Warzen wegbesprechen lassen. Einfach www.warzeweg.de, mit voller Geld-zurück-Garantie.« Dabei hält er fröhlich irgendwelche Flyer in die Kamera.