Mad as hell

Der Autorenstreik in Hollywood wirkt sich auf den TV-Konsum aller Amerikaner aus. Unser Reporter David Reed hat sich zum ersten Mal nicht an den Ort des Geschehens begeben, sondern ist zu Hause geblieben, um von dort zu berichten. von david reed, New Hampshire

11. November

Ich sitze gemütlich in meiner Küche vor dem Rechner und bin dank meines Internetanschlusses mit der Welt verbunden. (Habe ich erwähnt, dass wir nach New Hampshire gezogen sind und eine sehr schöne Küche haben, ganz zu schweigen von einer superschnellen Internetverbindung?) Klicke mich durch die »Fashion und Style«-Seiten meiner Lieblings-Großstadtzeitung und stoße auf einen Artikel über den Streik der Drehbuchautoren. Normalerweise schenke ich weder Streik- noch Modenachrichten viel Aufmerksamkeit, aber die Verbindung von beidem erweist sich als unwiderstehliche Geschichte über die Herausforderungen und Kümmernisse eines, der auszog, das jahrhundertealte Ritual des Streikpostenstehens zu erleben.

Während ich lese, kommt mir der Gedanke, dass es – bei aller Veränderung, die es unseren frühmodernen Vorgängern unmöglich machen würde, das Leben von heute wieder zu erkennen – tröstlich ist, dass ein Streik, zumindest auf eine grundsätzliche Art, immer noch ein Streik ist.

14. November

Der Streik einer Tischlergewerkschaft ist eigentlich keine große Nachricht, aber durch die Magie spätmoderner Technik ist gerade etwas Interessantes auf meinem küchenbasierten Laptop gelandet. Investigative Köpfe im öffentlichen Radio haben entdeckt, dass Gewerkschafter Obdachlose bezahlt haben, um für sie als Streikposten zu arbeiten. Ha! Ich bin nicht sicher, ob wir Zuhörer eine Verbindung zum Autorenstreik herstellen sollten, aber die Saat ist gesät, und es ist schwer, sich keine Gedanken darüber zu machen, ob die Drehbuchautoren das auch tun. Kann es sein, dass ein Streik kein Streik mehr ist, auch wenn er danach aussieht?

20. November

Die Jungle World will einen Artikel über den Autorenstreik von mir. Obwohl ich dank eines informativen Modeartikels weiß, wie viele Pullis es braucht, um einen streikenden Autor an einem kalten Novembertag warm zu halten, denke ich, dass ich nicht über die Voraussetzungen verfüge, diesen Artikel zu schreiben.

21. November

Nach einigem Hin und Her im Internet, habe ich entschieden, es doch zu versuchen. Seit Jahren galt für mich immer »vor Ort« oder gar nicht. Aber okay. Was soll’s? Ich bin nervös, aber es ist einen Versuch wert.

Ich sage meinen Studenten ständig, dass sie immer vernünftig recherchieren sollen, also erzählen Sie bitte nicht, dass ich meine Forschung mit den Worten »Writers’ Strike« bei Google angefangen habe und dann direkt zur Wikipedia-Seite gegangen bin. (Auch wenn die Studis dies lesen sollten, sie müssen wissen, dass ich nur da war, weil ich in Erfahrung bringen wollte, was so geredet wird, und nicht etwa, weil ich alles glaube, was ich da gelesen habe.)

22. November

Nehme eine Pause vom Nachdenken über den Streik und dessen Simulationen.

Es ist Thanksgiving, und solange ich kein Football im Fernsehen sehen kann, widme ich mich der zweitbesten Sache, um das Andenken an eine lange zurückliegende Begegnung zwischen guten, heißblütigen Amerikanern und einem Haufen zerlumpter illegaler Einwanderer zu ehren: Ich esse und trinke zu viel. Sage Dank; finde meinen Weg ins Bett.

26. November

Zurück zu den anliegenden Problemen: In der renommierten Zeitung erscheint ein weiterer Artikel über den Streik, und es gibt weitere Hinweise darauf, dass ein Streik kein Streik mehr ist. Auch wenn die Streikenden echte Autoren sind und keine Tischler oder Obdachlose, fällt eine Sache auf: Das Aufstellen von Streikposten scheint den Streikenden Spaß zu machen, zumindest zeigen sie sich eher belustigt als verärgert. Aber sollten Streikende nicht wütend sein? Was ist passiert mit dem bekannten Spruch: »mad as hell, and not going to take it anymore« [Notiz: Noch eine Google-Suche. Wenn ich mehr Filme und Fernsehen gucken würde, hätte ich es gewusst, aber ich stelle fest, dass »mad as hell … » eine Zeile aus einem Hollywood-Film ist, also lustigerweise von einem Drehbuchschreiber stammt.] (Notiz an mich: Versuche, diesen Schreiber zu finden und ihn zu fragen, was er von der neuen Art zu streiken hält.)

Das erinnert mich – bitte entschuldigen Sie die Abschweifung – an das republikanische Fundraising-Maschinengewehrschießen in Pelham, das ich im August besucht habe. So sehr die Leute sich für ihr fundamentales, verfassungsmäßiges Recht, ein Maschinengewehr zu besitzen, engagierten, die brennende Frage war (zumindest in Hörweite eines Journalisten), ob sich die Leute amüsierten oder nicht. (Notiz: Da ich gerade in Bekennerstimmung bin, möchte ich der Ordnung halber festhalten, dass ich damals log: Es war ein interessantes Erlebnis, aber ich habe mich nicht gar so sehr amüsiert.)

Aber wo war ich? Ach ja. Vielleicht liegt es an mir, aber so beeindruckt sich der Autor der ­Times von den gut gelaunten Streikenden auch gibt, wenn ich die Aussagen zwischen den Zeilen richtig verstehe, bin ich nicht der Einzige, der bei all dem Spaß traurig wird. Und das macht mich wiederum froh.

29. November

Ich kann später versuchen, streikende Schreiber zu finden. Heute bin ich auf interessante Informationen über die möglichen Auswirkungen des Streiks gestoßen: Die BBC sagt voraus, dass wir Amerikaner dieses Jahr im Schnitt 1 555 Stunden fernsehen werden, was, soweit ich sagen kann (leider ist mein Browser abgestürzt, bevor ich die Details aufschreiben konnte), mehr ist, als der Durchschnittsdeutsche arbeitet. Kein Wunder, dass vorige Woche ein Artikel auf MSNBC die Aussicht auf eine mögliche Fortdauer des Streiks »erschreckend« nannte.

Ich mache mich auf, um ein paar hart arbeitende Amerikaner zu finden, aber es stellt sich heraus, dass meine Voraussetzungen, diesen Artikel zu schreiben, noch schlechter sind, als ich dachte. Nachdem ich sechs Leute befragt habe, sieht das Ergebnis folgendermaßen aus: Meine Mutter und meine Kollegin Olivia hatten bis vor kurzem beide einen Fernseher, haben sie jedoch verschenkt. Craig hat keinen (ich habe nicht gefragt, seit wann), und während mein Bruder tatsächlich einen Apparat besitzt, konnte er sich nicht erinnern, wann er ihn zuletzt eingeschaltet hat. Meine Nachbarin Sandra guckt keine Privatsender, meine Freundin Nina ist erst vor kurzem aus Ägypten zurückgekommen und weiß nichts von dem Streik und interessiert sich auch nicht dafür.

Doch schließlich: ein Durchbruch. Manchmal wundere ich mich über all die Besprechungen, an denen wir auf der Arbeit teilnehmen müssen, aber die heutige war es wirklich wert. Kayt macht sich Sorgen, was aus Tony wird, sollte die Fernsehserie »24« verschoben werden, und Janet weist darauf hin, dass es – wegen der bevorstehenden Vorwahlkämpfe zur Präsidentenwahl (ganz zu schweigen von allem, was Britney Spears vorhaben könnte) – eine ganze Menge Dinge gibt, über die sich die Autoren von Late-Night-Shows lustig machen könnten, wenn sie nicht damit beschäftigt wären zu streiken. Leider werden Neuigkeiten von Tony ebenso warten müssen wie der Late-Night-Spaß rund um den Wahlkampf von Hillary.

Fahre nach Hause, starte meinen Webbrowser. Es scheint, als ob wir möglicherweise nicht lange warten müssen. Der Produzentenverband hat ein Angebot gemacht, das NEP genannt wird, und anscheinend ist dies der Deal, auf den alle gewartet haben. NEP? Es ist schon komisch genug, dass seit Ende des Kalten Kriegs die Republikaner sich als »rot« bezeichnen. Aber wollen die Produzenten sich jetzt mit Lenin verbinden?

30. November

Es stellt sich heraus, dass dies doch nicht der Deal war, auf den alle gewartet haben. Und da also alles weiter geht, stoße ich immer wieder auf spaßige Dinge. Es mag da draußen verärgerte Streikende geben, aber als ich durchs Web surfe, finde ich hauptsächlich lustige Videos und ironische Kommentare. In einem ernsteren Moment erscheint die (bei Fernsehzuschauern) berühmte Julia Louis-Dreyfus zur Unterstützung der Streikenden. Es sieht so aus, als ob sie sich dort draußen amüsiert, aber dann sagt sie den Leuten, was sie davon hält, wenn der Streik weitere neun Monate andauern würde: »Es wäre eine dicke, fette Dumm­heit.«

Inzwischen gibt es Neuigkeiten, die weniger dumm sind. Wegen des Streiks wurde das bevorstehende Fernsehduell der demokratischen Präsidentschaftskandidaten abgesagt. Was bedeutet, dass es eine landesweit ausgestrahlte Gelegenheit weniger geben wird, Hillary Clinton beteuern zu sehen, dass sie überhaupt nicht sauer ist und sogar jede Menge Spaß dabei hat, auf ihre Kritiker zu antworten.

4. Dezember

Inzwischen habe ich versucht, wirkliche Streikende zu finden, die mir dabei helfen könnten, all dem einen Sinn zu geben (oder mich wenigstens mit ein paar Bildern zu versorgen, die ich für diesen Artikel benutzen könnte). Ich habe einige E-Mails an verschiedene Webseiten der streikenden Autoren versendet, aber irgendwie hat keiner angeboten, mir zu helfen. (Vielleicht hätte ich erst in einem zweiten Brief darum bitten sollen, Schuhe und Kaffeetassen für mich zu scannen.)

»Was tun?« Ich will nicht angeben, aber meine Frau hat mir gerade ein Paar schicke Pantoffeln gekauft (#1). Dazu habe ich ein paar sehr schöne Fernsehbilder (oder genauer: ein Fernsehbild (#2) und eine Gebetskartenillustration (#3), die Bob Forth damals, als ich aus Tibet zurückkam, »Das Fernsehbild« nannte).

Aber irgendwie fehlt was, und nicht nur weil ich die spätmoderne Entwicklung der Streikposten immer noch nicht verstehe. Beim nächsten Mal möchte ich live bei den Schreibern sein, auch wenn ich vier Pullover tragen muss. (Notiz an mich: Flüge ­buchen, Pullover kaufen.)

Aus dem ­Amerikanischen von Martin Schuster