Long John

Vergangene Woche starb mit John Woodruff, dem schwarzen Olympiasieger von 1936, einer, dessen Laufstil zeigte, dass Sport Freiheit bedeuten kann. von martin krauss

ohn Woodruff ist 92 Jahre alt geworden. Dabei hatte er erst neulich noch gesagt, dass er 100 werden wolle. Für einen wie ihn dürfte der, sagen wir: frühe Tod eine Niederlage sein. 1936 machte er den Lauf seines Lebens. Im Finale des 800-Meter-Laufs der Olympischen Spiele war er als Außenseiter angetreten. Ein gerade mal 21jähriger schwarzer Schlacks hatte, wie sich weiße Experten sicher waren, nur durch Zufall die Trials gewonnen, die US-amerikanischen Ausscheidungswettkämpfe. Nun, im Olympiafinale, lief er neben den Favoriten: Das waren der kana­dische Arzt Phil Edwards und Mario Lanzi, amtierender Europameister aus Italien. Nach 300 Metern gab es ein Gerangel, Woodruff bekam was zwischen die Rippen, und er machte, was alle für einen Anfängerfehler hielten: Er ließ sich zurückfallen. Nein, das sei kein Fehler gewesen, sagte Woodruff später. »Ich hatte mir ausgerechnet, dass es die einzige Möglichkeit war zu gewinnen.« Und, nein, er sei nicht etwa nur fast stehen geblieben, lacht er, »ich blieb ganz stehen, und jeder lief an mir vorbei«.

Dann erst hatte er den Platz zum Spurten. Noch auf den Fotos, die von diesem Lauf existie­ren, erkennt man die Dynamik, mit der Woodruff die Chance seines Lebens wahrnahm. »Mit langen Schritten lief der Neger Woodruff dem Ziele der 800 m entgegen«, heißt es im deutschen Olympiabuch der Reemtsma-Bilderdienste. Über seine »riesengroßen Schritte, die im ersten Augenblick sprachlos machen«, wird da gestaunt. Die Taktik, sich in einem so kurzen Rennen, wie es die 800 Meter sind, erst mal ganz nach hinten fallen zu lassen, »halte ich für die ungewöhnlichste Renneinteilung, die es je ge­geben hat«, sagt der amerikanische Olympiahistoriker David Wallechinsky. Der damalige Kor­res­pondent der New York Times, Arthur Daley, schrieb in seinem Bericht, er habe bei Woodruff mehr Schrittwechsel gesehen »als bei einer Wild­ziege in den Bergen«.

John Woodruff, wegen seiner langen Beine »Long John« gerufen, übersprintete alle und gewann in 1:52,9 Minuten. Es war seine einzige Goldmedaille und sollte auch bei künftigen Spie­len seine einzige bleiben, während Jesse Owens in Berlin 1936 vier Mal Gold gewann und zum Weltstar wurde.

Die Olympischen Spiele 1936, von den Nazis perfekt in Szene gesetzt, gelten als das erste große Medienereignis der jüngeren Geschichte. Hätte es über die wenigen Fernsehstuben, die die Wettkämpfe zeigten, hinaus eine live zugeschaltete Weltöffentlichkeit gegeben, der Lauf des John Woodruff gehörte zu den großen historischen Momenten des 20. Jahrhunderts. Weil es sensationell ist, einen Menschen so laufen zu sehen. Und auch, weil dieser Mensch in diesem Rennen unwiderlegbar den Anspruch eines schwarzen Amerikaners auf Respekt bewies.

John Youie Woodruff wurde am 5. Juli 1915 in Pennsylvania geboren. Seine Großeltern waren noch Sklaven in Virginia, seine Eltern arbeiteten als Tagelöhner in der Landwirtschaft und waren »überwiegend analphabetisch«, wie es Woodruffs Sohn, John jr., ausdrückt. John mit den langen Beinen war der erste seiner Familie, der je ein College besuchte. Er kam auf die Universität von Pittsburgh und schaffte als College-Sportler die Qualifikation für die Olympischen Spiele 1936. In Berlin machte er den Lauf seines Lebens.

Dass dies nicht das Ende der Diskriminierung bedeutete, merkte er ein Jahr später. Bei einem Wettkampf im texanischen Dallas gewann Wood­ruff und brach, was ihm bei dem eher langsamen und von Taktik bestimmten Rennen in Ber­lin nicht gelungen war, den Weltrekord. Zwei Sekunden blieb er unter der damaligen Bestmar­ke von Clenn Cunningham (1:49,7). Doch Woodruffs Rekord wurde später annulliert. Die Bahn in Dallas sei zu kurz gewesen, zwei Feet hätten zu den 800 Metern gefehlt. »Es gab keinen Zweifel unter Woodruffs Anhängern«, heißt es auf der sporthistorischen Seite blackathlete.net, »dass der Rekord deswegen annulliert wurde, weil er ein Afroamerikaner war, der in dem segre­gierten und bigotten Dallas der dreißiger Jahre, im tiefsten Jim-Crow-Süden, lief.« Jim Crow, das ist die Bezeichnung für tiefste und verächtlichste Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung. 70 Jahre später, wenige Monate vor Woodruffs Tod, hat eine Gruppe von Studenten die damalige Laufbahn in Dallas noch einmal vermessen. »Mit mathematischer Sicherheit«, heißt es bei blackathlete.net, »hat John Woodruff an einem Sommertag in Dallas 1937 den Weltrekord gebrochen.«

Woodruff hatte die Annullierung damals hingenommen. Er studierte weiter und schloss mit einem Master in Soziologie ab. Er wurde Offizier der US-Army und diente im Zweiten Weltkrieg und im Korea-Krieg. 1957 verließ er im Rang eines Oberstleutnants die Armee.

Als 42jähriger kehrte Woodruff in den Sport zurück und arbeitete als Jugendtrainer. Sein Nachbar und Freund wurde Marty Glickman, wie Woodruff 1936 Mitglied der Olympiamannschaft und inzwischen ein bekannter Radio­reporter. Glickman, ein weißer Jude, war ursprünglich für die 4-mal-100-Meter-Staffel eingeplant gewesen, zusammen mit seinem Freund Sam Stoller. Am Tag vor dem Finale, als sie gerade die Staffelwechsel trainierten, kam auf Geheiß der amerikanischen Teamleitung um den späteren IOC-Präsidenten Avery Brundage der Trainer zu Glickman und teilte ihm mit, dass er nicht laufen dürfe. Man wolle Hitler nicht brüskieren und in die Situation bringen, dass er Juden die Hand geben müsse – so gab Glickman die Geschichte wieder. Für ihn rutschte der nicht vorgesehene Jesse Owens in die Staffel, gewann so seine vierte Goldmedaille und wurde zum großen amerikanischen Triumphator über das Rassenbild, das die Nazis bei den Spielen dominieren sehen wollten. Owens selbst hatte gar nicht laufen wollen.

»Coach, ich hab’ doch schon drei Goldene«, ist als Zitat von ihm überliefert, »lass doch Marty und Sam laufen. Sie haben es verdient.« Aber das Klima in den USA der dreißiger Jahre war antisemitisch. Von Avery Brundage ist der Satz über­liefert, man solle sich nicht so haben, wenn die Nazis die Juden vom Sport ausschließen, »in meinen Sportclub in Chicago dürfen auch keine Juden hinein«.

Der Sporthistoriker David Wallechinsky erklärt das Phänomen, dass die führenden US-Sportfunktionäre, die doch gleichermaßen Rassisten wie Antisemiten waren, lieber Schwarze zu Olympia mitnahmen als Juden, damit, wie man dort Deutschland sah. »Die Schwarzen sahen anders aus. Sie stellten etwas dar, was man im deutschen Alltagsleben sonst nicht sah. Sie galten nicht als Bedrohung, sondern sie wurden tatsächlich eher bewundert.« Weiße Juden hingegen wären von amerikanischen wie deutschen Antisemiten eher als Bedrohung wahrgenommen worden.

Marty Glickman, der in den USA zur Radioreporterlegende wurde und 2001 starb, hat es nie verwunden, die fast sichere Goldmedaille aus anti­semitischen Gründen nicht erhalten zu haben.

John Woodruff hingegen machte es nichts aus, dass er trotz seines überragenden Goldlaufs immer hinter Jesse Owens zurückstehen musste. »Unsere Jungs spielten in dem gleichen Footballteam«, erklärte Glickman später einmal, als Woodruff und Glickman schon eng befreundet waren, den Unterschied zwischen seinem und Woodruffs Temperament. »Ich habe mich verrückt gebrüllt, und er stand nur schweigend da­neben.«