Blue Card Blues

Die Debatte um die Einführung einer europäischen »Blue Card« offenbart die Konzeptionslosigkeit der europäischen Migrations- und Arbeitsmarktpolitik. von anton landgraf

Sie sind jung, gut ausgebildet und mobil, arbeiten ein paar Jahre in Europa und fahren anschließend gerne wieder in ihr Herkunftsland zurück. So ähnlich sieht das Idealbild moderner Arbeitsmigranten aus, das EU-Justizkommissar Franco Frattini kürzlich in Brüssel präsentierte. Dort schlug er zur Überraschung seiner Kollegen in den EU-Mitgliedsstaaten vor, eine »Blue Card« einzuführen. Die EU könnte damit gut ausgebildeten Migranten die Möglichkeit geben, relativ schnell und unkompliziert einige Zeit nach Europa zu kommen. Eine »Blue Card« würde einen Arbeitsaufenthalt von zwei oder drei Jahren in einem EU-Land ermöglichen, danach sollen die Inhaber wieder die Heimreise antreten. »Wir müssen die Arbeitskräfte nach Europa holen, die hier gebraucht werden«, begründete Frattini seinen Vorschlag. Vor allem Deutschland, Italien und Ungarn hätten wegen ihrer stark alternden Bevölkerung einen hohen Bedarf an Einwanderern.

Tatsächlich mangelt es in Deutschland schon jetzt an Fachkräften. Eine von Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) in Auftrag gegebene Studie sieht vor allem beim Maschinenbau und in der Elektroindustrie eine wachsende Nachfrage, die auf dem heimischen Arbeitsmarkt nicht mehr gedeckt werden kann. Europaweit geht Frattini von 20 Millionen fehlenden Arbeitskräften in den nächsten 20 Jahren aus, die er mit der »Blue Card« anlocken möchte. Eine scheinbar paradoxe Idee, schließlich versucht die EU bislang mit allen Mitteln, Migranten abzuweisen. Nach Meinung von Frattini machen sich jedoch einfach die falschen Leute auf den Weg nach Europa. Qualifizierte Arbeitskräfte haben in der Regel andere Ziele. Um diese mobilen und gut ausgebildeten Fachkräfte wird mittlerweile weltweit geworben. »Europa steht im Wettbewerb mit Australien, Kanada, den USA und den aufstrebenden Staaten Asiens«, sagte Frattini. Die EU-Staaten sollten daher »Immigration nicht als Bedrohung sehen«, sondern als »Bereicherung«. Zugleich möchte er die illegale Einwanderung härter bekämpfen. Ziel sei es vor allem, die Einreise von Afrikanern nach Europa zu stoppen – wie üblich mit Hubschraubern, Schnellbooten und Stacheldraht.

Sein Vorschlag erinnert sehr an das Konzept der »zirkulären Migration«, das der deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble und sein damaliger französischer Amtskollege Nicolas Sarkozy im November vergangenen Jahres vorgestellt hatten. Demnach sollten Migranten die Erlaubnis erhalten, einige Jahre in der EU zu arbeiten, anschließend aber umgehend in ihr Herkunftsland zurückkehren. Schäuble und Sarkozy präsentierten ihr Konzept zwar als zukunftsweisende Lösung für eine europäische Einwanderungspolitik, im Grunde orientierte es sich aber an dem Gastarbeitermodell der fünfziger Jahre – mit dem Unterschied, dass damals unqualifizierte Fabrikarbeiter gesucht wurden, während es heute Fachkräfte sind. Auch das Konzept der »zirkulären Migration« verband eine beschränkte Öffnung des europäischen Arbeitsmarktes mit einer rigorosen Abschottung der EU-Außengrenzen durch Einsätze der »Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen«, Frontex, und Rückführungsabkommen.

Ob Initiativen wie die »zirkuläre Migration« oder die »Blue Card« in absehbarer Zeit überhaupt realisiert werden können, ist allerdings mehr als zweifelhaft. In der EU ist die Zuwanderung aus Drittstaaten bisher nicht einheitlich geregelt. Voraussetzung dafür wäre ein gemeinsamer Verfassungsvertrag, der aber nicht in Sicht ist. Und selbst gemeinsame Absprachen sind unwahrscheinlich. Bislang hatte sich vor allem die Bundesregierung mit dem Verweis auf die schwierige Arbeitsmarktlage in Deutschland gegen eine EU-Regelung gewehrt.

Entsprechend heftig fielen in Berlin die Reaktionen auf die »Blue Card«-Initiative aus. »Ich weiß nicht, wie sehr Herr Frattini der Wirklichkeit entschwebt ist«, meinte Dieter Wiefelspütz, innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, der den Vorschlag als »sehr befremdlich« bezeichnete. Solange es mehrere Millionen Arbeitslose in Deutschland gebe, habe der deutsche Arbeitsmarkt Vorrang. Ähnlich argumentiert Wirtschaftsminister Michael Glos. Deutschland könne nicht »massenhaft ausländische Arbeitnehmer holen, nur weil wir sie im Moment gerade einmal brauchen«, sagte der CSU-Politiker. »Der Zugang zum Arbeitsmarkt muss Sache der nationalen Regierungen bleiben«, erklärte der CDU-Innenpolitiker Reinhard Grindel.

Mit ihrer rigiden Haltung befindet sich die Bundesregierung allerdings in einem Dilemma. Einerseits will sie aus Rücksicht auf ihr Wähler­klientel den Arbeitsmarkt weiterhin möglichst geschlossen halten. Andererseits drängen gerade die Wirtschaftsverbände vehement auf eine Öffnung, da unbesetzte Stellen bereits in diesem Jahr Verluste in Höhe von über 20 Milliarden Euro verursachen würden. Und auch der Hinweis von Wiefelspütz, man müsse zuerst die deutschen Arbeitslosen umschulen und weiterbilden, stößt bei der Industrie auf wenig Begeisterung. Schließlich könne man nicht kurzerhand beschäftigungslose Hauptschüler in IT-Experten und Ingenieure verwandeln.

Für Konservative wie Volker Kauder, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, sind hingegen selbst die bisherigen Regelungen noch zu liberal. Er schlug vergangene Woche vor, die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für die osteuropäischen EU-Staaten um zwei Jahre auf 2011 zu verschieben. Kauder scheint wie selbstverständlich davon auszugehen, dass sich potenzielle Zuwanderer nichts sehnlicher wünschen, als endlich in Berlin, Stuttgart oder Leipzig zu arbeiten. Für die begehrten Fachkräfte ist Deutschland jedoch alles andere als attraktiv. Neben der Sprache bereitet ihnen besonders das deutsche Zuwanderungsrecht, das den Nachzug von Ehepartnern und Kindern regelt, große Probleme. Zudem haben sich nicht erst seit den Übergriffen im sächsischen Mügeln die Besonderheiten der deutschen Gastfreundschaft bis nach Indien herumgesprochen.

Andere Länder sind selbst im europäischen Maßstab wesentlich anziehender. Großbritannien öffnete bereits im Mai 2004 seinen Arbeitsmarkt für Zuwanderer aus den osteuropäischen Beitrittsstaaten. Seitdem hat das britische Innenministerium alleine an Polen 360 000 Arbeitsgenehmigungen vergeben, ohne dass sich eine hysterische Einwanderungsdebatte entwickelt hätte. Nimmt man die Selbständigen wie etwa den viel zitierten polnischen Klempner hinzu, die keine Genehmigung benötigen, kommt man auf etwa 700 000 polnische Zuwanderer, die überwiegend zwischen 18 und 32 Jahre alt und oft sehr gut ausgebildet sind. Vor der EU-Erweiterung ging das britische Innenministerium von 13 000 Osteuropäern pro Jahr aus.

Eine ähnliche Entwicklung ist auch in den anderen Beitrittsländern zu beobachten. So haben sich in den vergangenen Jahren zwei Millionen Rumänen in Spanien, Frankreich und Italien niedergelassen, weil dort die Sprachbarriere niedrig ist. Der rumänische Präsident Traian Basescu will nun eine Initiative starten, um die Ausgewanderten wieder zurückzuholen, da bereits türkische und ukrainische Gastarbeiter angeworben werden müssen. In Polen sind die Auswanderer Thema des aktuellen Wahlkampfes, denn mitt­lerweile sucht man in Warschau und Krakau händeringend nach Fachkräften.

Und auch in Deutschland bekommt das Thema Arbeitsmigration langsam eine zusätzliche Bedeutung. So ist in den letzten drei Jahren fast eine halbe Million Deutsche ins Ausland gezogen – so viele wie noch nie in den vergangenen 30 Jahren. Und nur die wenigsten denken daran, nach zwei oder drei Jahren schon wieder zurückzukehren.