Übermorgen ist für dich Feierabend

Die Zeitarbeit boomt, aber viele Unternehmen behandeln das Thema wie Werksgeheimnisse. Wie sehen die Arbeitsbedingungen von Zeitarbeitern in der Praxis aus, wie gehen Unternehmer mit ihnen um? Eine Reportage aus München von steffen dobbert

Seine ehemaligen Kollegen sagen, er sei immer pünktlich, zuverlässig und so gut wie nie krank gewesen. Bis vor wenigen Monaten. Da stand er eines Tages vor der Maschine, von seinen kurzen dunklen Locken tropfte Schweiß auf den Fabrikboden, sein Körper wankte hin und her, und seine breiten Hände rutschten von den Armaturen. Er sackte zusammen. Der Krankenwagen fuhr ihn mit Blaulicht vom Werksgelände. Als er nach 17 Tagen die Klinik verließ, wusste er, dass er an Bluthochdruck leidet, und er durfte sich bei seiner Zeitarbeitsfirma die Kündigung abholen. Mit der Begründung, es gebe keine Arbeit mehr, entließen sie ihn in die Arbeitslosigkeit.

Mehr als sechs Jahre hat Marco* in München gearbeitet. Als Beschäftigter verschiedener Zeitarbeitsfirmen stand er lange bei den Bayerischen Motorenwerken, BMW, am Band und zum Schluss für ein paar Wochen bei Epcos, einem Hersteller von Bauteilen. Marco ist ein großer Kerl. Der Gewerkschaft trat er vor vier Jahren bei. Jetzt ist der Dunkelhaarige nicht einmal mehr ein Arbeiter zweiter Klasse, so nennen viele bei BMW die Zeit- oder Leiharbeiter. In der Logistik­abteilung seien sie schon 50 Prozent, sagt einer der Zeitarbeiter. Der Konzern wolle die Abteilung langfristig »trocken legen«, das bedeute so viel wie out­sourcen oder auslagern.

Marcos ehemalige Kollegen von BMW sitzen im »Lustigen Bauern«. Die traditionelle Arbeiterkneipe schräg gegenüber den Werktoren ist nach der Schicht ein beliebtes Ziel. Es kommen immer weniger Bandarbeiter, sonst hat sich hier in den vergangenen Jahren nicht viel verändert. Die Getränke kosten für Münchner Verhältnisse wenig, das Ambiente ist schlicht, die Karte übersichtlich. Die »echten« Beschäftigten trinken zusammen mit den Zeitarbeitern ihr Feierabendbier.

Ludwig* und Bernd* sitzen nebeneinander. Ludwig lebt allein, Bernd ist zweifacher Familienvater. Während der Schicht steuert jeder der beiden einen Gabelstapler. Sie verrichten exakt die gleiche Arbeit. Ludwig legt seinen aktuellen Gehaltszettel auf den Tisch, 2 480,58 Euro netto im Monat für 40 Stunden in der Woche steht dort unter dem schwarzen Strich. Dann packt Bernd seine Abrechnung daneben: 1 237,86 Euro, netto. »Im Fernsehen höre ich die Politiker oft von Gerechtigkeit und menschenwürdiger Bezahlung reden«, sagt Bernd und trinkt einen Schluck Wasser. Aber wenn seine Frau keinen Job hätte, würde er mehr Geld bekommen, wenn er Hartz-IV beziehen würde. Seiner Arbeitskollegin, sie ist auch Leiharbeiterin, zahlt die Leiharbeitsfirma weniger als 1 000 Euro aus, berichtet Bernd. Wenn er während der Arbeit anfange, von der Ungerechtigkeit zu sprechen, sitze sie auf dem Stapler und weine.

»Im München arbeiten ungefähr 34 000 Menschen für BMW, davon sind etwa 4 000 Zeitarbeiter«, sagt Hans Haumer. Der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende des Münchner Werks von BMW ist sich nicht ganz sicher, denn es sei schwierig, das genau zu sagen. Jedenfalls gebe es bei BMW eine Art Gentlemen’s Agreement, sagt er, eine Absichtserklärung des Unternehmens, die auf keinem Blatt Papier geschrieben stehe. Sie besage, dass BMW »auf keinen Fall mehr als zehn Prozent Leiharbeiter einstellt«. 4 000 von 34 000 sind aber fast zwölf Prozent. Der Betriebsrat sagt auch, er habe Verständnis für das Unternehmen. BMW müsse schließlich wettbewerbsfähig bleiben. Der Anteil der Leiharbeiter habe sich im Hause stabil entwickelt. Und Zeitarbeit werde sowieso überall geleistet: »Wenn da ein Unternehmen nicht mitmacht, lachen alle anderen.«

Mehr als eine halbe Million Menschen war im vergangenen Jahr der Bundesagentur für Arbeit zufolge in Deutschland bei Zeitarbeitsfirmen beschäftigt. Das sind 34 Prozent mehr als im Jahr 2005, 41 Prozent mehr als 2004 und 274 Prozent mehr als vor 15 Jahren. Im Juni zählte die Arbeits­agentur die niedrigste Arbeitslosenzahl seit dem Jahr 2002 – jeder dritte der neuen Jobs entstand in der Leiharbeit. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: »Der jetzige allgemeine wirtschaftliche Aufschwung beruht wesentlich auf der Zeitarbeit.« Im Dienstleistungsreport der Deutschen Industrie- und Handelskammer heißt es dazu: »Im Vergleich der Branchen weist die Zeitarbeit die mit Abstand höchsten Beschäftigungspläne auf.« Und das Institut für Wirtschaftsforschung Halle rechnet damit, dass »wir in zehn Jahren vier bis fünf Millionen Leiharbeiter haben«.

Bei BMW möchte außer Hans Haumer keiner über die Zahlen sprechen. Ein anderer Betriebsratsangehöriger, der anonym bleiben möchte, sagt, das Thema sei zu heiß. Öffentliche Auskünfte dürfe nur die Presseabteilung geben. Dann fügt er noch an, dass er die Entwicklung persönlich nicht gut finde. Das Ganze werde »irgendwann aus dem Ruder laufen«, vermutet er. Die Leiharbeiter seien für ihn so etwas wie »moderne Sklaven des 21. Jahrhunderts«. Aber als Angehöriger des BMW-Betriebsrats könne er nichts für sie tun. »Denn die Herren schauen einem genau auf die Finger.« »Die Herren«, das seien die Manager in der Unternehmensleitung. Sie könnten genaue Angaben machen: Von wie vielen Zeitarbeitsfirmen leiht sich das Unternehmen Arbeitskräfte? Wie viele Leiharbeiter schuften wirklich für BMW, den der Wirtschaftswoche zufolge seit Jahren beliebtesten Arbeitgeber Deutschlands?

»Wir rufen Sie zurück«, sagt eine Pressesprecherin. »Da wir Zeitarbeitskräfte einsetzen, um flexibel zu sein, schwankt die Zahl. Bisher haben wir die Zahlen nicht nach außen kommuniziert. Wir diskutieren das Thema nun intern«, heißt es in einer E-Mail von BMW am Tag darauf. Trotz Nachfrage dauert die interne Diskussion mehrere Wochen. Bis heute gibt es keine weitere Aussage.

Während der Staat jede Aktiengesellschaft in Deutschland per Gesetz zwingt, ihre Mitarbeiterzahl im Geschäftsbericht zu veröffentlichen, geht die Zahl der »modernen Sklaven« anscheinend niemanden etwas an. »Sie wollen wissen, wie viele Zeitarbeiter in einem Unternehmen arbeiten«, fasst ein Sprecher des Bundesverbands Zeitarbeit das Problem zusammen: »Da haben Sie keine Chance!«

Vor einigen Jahren debattierten SPD und CDU noch öffentlich über eine Einschränkung des Kündigungsschutzes. Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck verkündete nun vor wenigen Wochen, dass seine Partei verhindern möchte, dass die Kündigungsschutz- und Mitbestimmungsrechte eingeschränkt würden. Auch im Koalitionsvertrag gibt es den fett gedruckten Punkt 7.1, der lautet: »Kündigungsschutz weiterentwickeln«. In den mehr als eineinhalb Jahren Große Koalition wurde über das Thema aber bisher nicht diskutiert. Wieso auch? Die Unternehmer dürften das Interesse daran verloren haben. Wer Leiharbeiter ordert, braucht sich um Kündigungsfristen keine Gedanken zu machen. »Deshalb integrieren die Unternehmen Leiharbeit immer mehr als einen zentralen Baustein in ihre Personalpolitik«, sagt Claudia Weinkopf vom Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Seit die rot-grüne Regierung vor dreieinhalb Jahren die Verordnung aus dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz gestrichen hat, wonach ein Leiharbeiter maximal zwölf Monate am Stück bei einem Unternehmen arbeiten darf, »haben sich in Deutschland die Schleusen geöffnet«, sagt Weinkopf. Anders als etwa in Frankreich gebe es auf dem Arbeitsmarkt keinen Grundsatz der Gleichbehandlung mehr: »Das Prinzip der gleichen Bezahlung ist ausgehöhlt.«

Befürworter der Zeitarbeit behaupten, knapp ein Drittel aller Leiharbeiter werde nach einigen Monaten übernommen. Weinkopf hält die Zahl für zweifelhaft und verweist auf eine Studie der Fachhochschule Gelsenkirchen. Die Ergebnisse der anonymen Befragung sagen, dass 86 Prozent der Unternehmen in der Automobilindustrie Zeitarbeiter einsetzen. Bei etwa einem Viertel der befragten Firmen sind mehr als die Hälfte aller Hilfskräfte Leiharbeiter.

Marco hat in seinen sechs Jahren als Zeitarbeiter kein einziges Übernahmeangebot bekommen. Er sitzt auch im »Lustigen Bauern« und zitiert im Laufe des Gesprächs einen Mitarbeiter der Zeitarbeitsfirma: »Good bye, Marco.« Das habe der vor einem Jahr einfach zu ihm gesagt. Das sei fast das Ende seiner Arbeit als Leiharbeiter gewesen. Und wo war der Anfang? Er legt seine Hände ineinander und erzählt von seiner Laufbahn: »Mit 24 habe ich mein Physikstudium in Italien abgebrochen und bin nach Deutschland gegangen. In Berlin haben wir uns durchgeschlagen. Das Studium konnte ich nicht beenden, um weiterzustudieren fehlte das Geld. Also habe ich als Helfer auf dem Bau gearbeitet, als Zimmerer, Fassadenputzer, Maurer und was es so gab. Im Jahr 2000 wurden in Berlin die Jobs immer weniger. In München suchte eine Zeitarbeitsfirma Leute für BMW. Ein großes Unternehmen und dann noch BMW – ich hoffte auf einen festen Job.«

Daher ist er umgezogen nach München. Für die ersten Wochen stellte die Zeitarbeitsfirma eine Unterkunft. Die Dusche war im Keller, sein Bett und die Kakerlaken im fünften Stock. Aber dann durfte er ins BMW-Wohnheim ziehen. Immer zwei Arbeiter auf ein Zimmer, 18 Quadratmeter, mit Dusche und Kochnische. Während der Schicht stand er am Band. »In neue Autotüren habe ich Gummidichtungen montiert. Mein erster Monatslohn betrug damals 2 600 DM, netto. Das war richtig gut, denn die Miete wurde bezahlt.« In den ersten vier Jahren bei BMW musste er nach neun Monaten Arbeit drei Monate Pause machen. Da war er arbeitslos, so waren die Gesetze damals. Aber ab 2004 durfte er wie seine Kollegen das ganze Jahr lang am Band stehen. »Mehrere tausend Autos haben wir produziert, die Gummidichtungen haben mein Kollege Peter* und ich montiert.«

Aber die ganzen Jahre waren sie weiterhin Leiharbeiter? Marco nickt. Mit einer kurzen Handbewegung bestellt er sich eine Apfelschorle. »Bis zum August«, sagt er etwas leiser. »Im August des vergangenen Jahres, nachdem ich mehr als sechs Jahre am Band bei BMW gearbeitet hatte, kam der Chef zu mir. ›Es gibt weniger Aufträge‹, hat er gesagt. Und: ›Übermorgen ist für dich Feierabend.‹ Einfach so.« Die Kündigung sollte Marco bei seiner Zeitarbeitsfirma unterschreiben. Nach der Arbeit stand er dort im Büro. Das Datum auf dem Kündigungsschreiben hatten Mitarbeiter der Zeitarbeitsfirma einen Monat zurückdatiert, so endete seine Kündigungsfrist am nächsten Tag. Ein Mitarbeiter sagte zu ihm, wenn er das so unterschreibe, werde er ihn wieder anrufen, sobald es Arbeit gebe. »Ich dachte, das meint er ernst. Also habe ich unterschrieben. Er hat gesagt: ›Good bye, Marco‹, einfach so.« Marco ballt seine Hände zu Fäusten. Er fügt hinzu: »Aber das war nicht das Ende.«

Nachdem er die vordatierte Kündigung unterschrieben hatte, ging er am nächsten Tag zur Arbeit und erzählte seinem Kollegen Peter, was passiert war. »Peter ist ein richtiger BMW-Angestellter, und er engagiert sich beim Betriebsrat. Ich habe mich mit so was nie befasst.« Peter ist dann mit ihm zusammen zum Chef der Zeitarbeitsfirma gegangen. »Er sagte, er könne das alles auf der Betriebsversammlung von BMW vortragen. Da haben die die Kündigung zurückgenommen. Tja, zwei Tage später hatte ich einen neuen Job bei Epcos. Die stellen Bauteile her, ich musste eine Maschine für die Halbleiterfertigung bedienen. Es war gute Arbeit – bis zu dem Tag, an dem plötzlich vor meinen Augen die Maschine schwebte, die ganze Halle hin und her wankte und ich umgefallen bin. Das war’s dann, das ist meine Geschichte.« Er sitzt am Tisch und leert sein Glas. Ob er sauer ist auf das Unternehmen? Nein, böse sei er nicht, antwortet er kurz – vielleicht ruft der Disponent ja doch noch mal an, weil er Arbeit hat: »Wissen Sie, schuld ist nicht die Zeitarbeitsfirma, schuld ist das System.«

»Solange die Gesetze es erlauben, nutzen Unternehmen die Leihkräfte«, sagt Hans Haumer. Der Betriebsratsangehörige bei BMW ist der Meinung, dass die Zeitarbeiter bei ihm wenigstens einigermaßen verdienten. Auf seinem Schreibtisch liege ein Arbeitsvertrag eines anderen Verleihunternehmens: »Die bezahlen 4,80 Euro die Stunde!« Im Internet wirbt die Firma Discount-Zeitarbeit mit dem Slogan »Geile Preise! Geile Leute!« Wie in einem Media-Markt-Prospekt bietet die Verleihfirma den Unternehmen »Facharbeiter ab 16,59 Euro«, »Kaufleute ab 16,49 Euro« und »Helfer ab 11,59 Euro«.

Haumer schimpft über die Entwicklung: »Als ich vor 36 Jahren anfing, kannte ich das Wort »Leiharbeiter« gar nicht, und für einen neuen Schlosser gab es damals Werbeprämien. Heute gleichen die Zeitarbeitsfirmen Sklaventreibern: Die Chefs der Verleihfirmen schwimmen wie Maden im Speck, während die Arbeiter ausgequetscht werden wie Zitronen.« Andererseits gibt der Betriebsrat zu bedenken: »Wenn es die Zeitarbeit nicht gäbe, würde das jüngste BMW-Werk in Leipzig mit 5 500 Arbeitsplätzen heute in Polen stehen.«

*Name von der Redaktion geändert