Know your enemy!

Im Zweiten Weltkrieg stellte Herbert Marcuse für den US-Geheimdienst Studien zur Mentalität der Deutschen an. Diese »Feindanalysen« sind wieder veröffentlicht worden. von uli krug
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Der Kalte Krieg veränderte innerhalb weniger Jahre die Welt. Die Fronten verkehrten sich nach dem Mai 1945 äußerst schnell und häufig in geradezu bizarrer Weise. Die stalinistische Schreckensherrschaft der Sowjetunion übernahm – wider ihre eigene gesellschaftliche Verfasstheit und solange es ihrer Strategie entsprach – das Patronat für manche fortschrittliche Bestrebung in den westlichen Metropolen. Die liberale Demokratie der Vereinigten Staaten protegierte – ebenfalls wider ihre eigene gesellschaftliche Verfasstheit und oft aus einem nur eingebildeten Notstand heraus – unzählige schmutzige Verbündete in der nachkolonialen Peripherie.

Diese Entwicklung besiegelte auch das Ende des Office of Strategic Services (OSS), eines US-Geheimdienstes, den Präsident Franklin D. Roosevelt erst 1941 ins Leben gerufen hatte. Zu den Aufgaben des OSS zählte neben Sabotage, Spionageabwehr, der Unterstützung von Partisanen, Informationsbeschaffung und Desinformation des Gegners auch die so genannte psychologische Kriegführung.

Im Juli 1947 wurde das OSS durch die CIA ersetzt. Der neue Geheimdienst folgte auch einer neuen Priorität: nämlich weltweit den sowjetischen Einfluss zu begrenzen und zurückzudrängen. Dieses Ziels wegen fiel auch die ursprünglich angestrebte, radikale Entnazifizierung in den drei Westzonen deutlich zurückhaltender aus, als sie insbesondere die deutschen und österreichischen Exilanten in den Studienabteilungen des OSS konzipiert hatten. Die verbreitete Restaurationsthese allerdings, die besagt, dass die USA vollständig davon abgerückt seien, die politische Kultur, die Medien und das Bildungswesen umzuwandeln, gehört in den Bereich bösartiger Mythen. Eher war und ist die deutsche Ideologie einfach zu zählebig und hat deshalb die tiefgreifenden Veränderungen durch die »re-education«, wie etwa das Einrichten des freien Rundfunks und die Herausgabe neuer Schulbücher, weitgehend schadlos überstanden. Schließlich fungierte ab Mitte der Sechziger sogar ausgerechnet Auschwitz als Beweis einer deutschen Überlegenheit in der Fähigkeit zur Läuterung. Mit Winnetou und Vietnam wurde dem amerikanischen Befreier endgültig der braune Peter zugeschoben.

Ausgerechnet der OSS-Mitarbeiter Herbert Marcuse, der zeitweilig sogar der Leiter der Europa-Sektion des Dienstes war, hatte theoretischen Vorschub geleistet. Schon 1947 verfasste Marcuse, wegen der Entwicklungen des Kalten Kriegs völlig frustriert, 33 Thesen, die den Westen als unabwendbar »faschisiert« darstellten. Diese Thesen findet man nun im kürzlich wieder veröffentlichten, fünften Band der nachgelassenen Schriften Marcuses mit dem Titel »Feindanalysen. Über die Deutschen«. Max Horkheimer, an den diese Thesen adressiert waren, ignorierte sie seinerzeit höflich.

Kein Wunder übrigens, heißt es doch gleich in der ersten These: »Nach der militärischen Niederlage des Hitler-Faschismus teilt sich die Welt in ein neo-faschistisches und ein sowjetisches Lager auf. Die Staaten, in denen die alte herrschende Klasse den Krieg ökonomisch und politisch überlebt hat, werden in absehbarer Zeit faschisiert werden.« Auch die USA seien auf dem Weg in den Faschismus – mit derlei Polemik kokettierte Marcuse auch in den folgenden Jahrzehnten. Erst nach 1968, als er merkte, welch großen, ihm aber absolut unerwünschten Widerhall solche Sentenzen erzeugt hatten, erinnerte er wieder an den fundamentalen Unterschied zwischen dem Nationalsozialismus und den bürgerlichen USA. »Die bürgerliche Demokratie, wenn sie nach dem Faschismus überhaupt möglich ist, ist erstrebenswert gegenüber der Gefahr des Faschismus … Z.B. haben wir in den Vereinigten Staaten Monopolkapitalismus, keinen Faschismus«, betonte er im Juli 1977 im Rahmen der Starnberger Gespräche.

Die besagten 33 Thesen von 1947 beschließen indes einen Band, dessen weitere Texte sich radikal von ihnen unterscheiden. Sie resultierten aus Marcuses Tätigkeit für die Studienabteilung des OSS. Dort engagierten sich unter anderem Otto Kirchheimer, Friedrich Pollock, Leo Löwenthal und vor allem Franz Neumann, mit dem Marcuse schon vor der gemeinsamen Zeit in Washington eng zusammenarbeitete. Auch Marcuse war überzeugt, mit seinen Studien nicht nur einen persönlichen war effort zu leisten, sondern darüber hinaus Einfluss nehmen zu können auf eine durchaus antifaschistisch gestimmte politische Öffentlichkeit in den USA. Daher rührt auch der eminent deutliche und praktische Charakter der OSS-Studien, denen an der möglichst wirkungsvollen Gestaltung der amerikanischen Gegenpropaganda und der künftigen, kulturellen und politischen Neuerziehung der Deutschen gelegen war. Neben diesen Texten, die sich generell mit der »New German Mentality« befassen, bieten die »Feindanalysen« auch noch einen bisher in deutscher Sprache unveröffentlichten Text: »Staat und Individuum im Nationalsozialismus«, der auf ein Manuskript aus dem Jahr 1942 zurückgeht. Im Gegensatz zu den 33 Thesen ist er von bestechender Hellsichtigkeit, wenn er den zunächst paradox scheinenden Zusammenhang von Atomisierung und Vermassung oder von der Aufhebung des Privaten und der gleichzeitigen Lockerung zivilisatorischer Tabus im Alltag des Nationalsozialismus darlegt.

Marcuses Zorn über die Nachkriegsentwicklung war zwar maßlos übertrieben, aber keineswegs grundlos. Denn die Akzente der politischen Debatte in den USA hatten sich in den zwei Jahren nach Kriegsende deutlich verschoben. Dabei war die antisowjetische Mission der CIA und der politischen Klasse insgesamt gar nicht Marcuses Hauptproblem. Er selbst erwies sich nicht zuletzt in seiner 1958 veröffentlichten Schrift »Soviet-Marxism. A Critical Analysis«, im deutschen Titel »Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus«, als erklärter Feind dieser Ordnung.

Zuwider war Marcuse allerdings die verbreitete antiliberale Attitüde eines antikommunistischen Aktivismus by any means necessary, nach außen wie nach innen: Der praktizierte rollback richtete sich nämlich auch gegen die Roosevelt-Ära, ihre Sozialreformen und ihre kulturelle Libertinage – womit dem verhassten Stalinismus ein Mittel in die Hand fiel, von seinen ungleich monströseren Schauprozessen und Hetzkampagnen abzulenken. Das funktionierte so gut, dass McCarthy manchmal noch heutzutage auf einer Ebene mit Stalin verhandelt wird.

Diese Gleichsetzung wiederum machte es leicht, dem braunen Vorurteil gegen die Vereinigten Staaten, einem Kernpunkt des Nazi-Antikapitalismus, so weit Scheinplausibilität zu verleihen, dass dieser Teil der Propaganda ausgerechnet im links-deutschen Antifaschismus fortleben konnte. Im Ruch der autoritären Gesinnungshetze überdeckte dieses Bild von den Vereinigten Staaten nämlich nicht nur das schlechte, das die Sowjetunion abgab, sondern die USA ähnelten in der linken Fantasie zugleich dem nationalsozialistischen Deutschland – und im Umkehrschluss gelang es damit dem Antiamerikanismus, sich gar als antifaschistisch zu drapieren. Dass auch und gerade dieser Antiamerikanismus nur das eigentlich autoritär-rechtsextreme Vorurteil leicht variiert und keineswegs als Frucht kritischer Einsichten in Politik und Gesellschaft der USA gelten kann, haben gerade die vergangenen Jahre klar erwiesen. Die verkehrte Welt des Kalten Kriegs gehört längst der Vergangenheit an, die USA stürzten nach dem 11. September 2001 antisemitische Regimes, was aus einer politisch progressiven Sicht wünschenswert war. Dennoch schlägt den Vereinigten Staaten unverändert, ja in steigendem Maße Feindseligkeit entgegen.

Marcuse hatte aber schon 1942 ein vergleichbares Phänomen als Teil der damals »neuen deutschen Mentalität« so beschrieben, dass die Diagnose 2007 aktueller denn je wirkt. Die Freiheit, die in den Vereinigten Staaten herrschte, konnte von der Anti-Nazi-Propaganda nicht als Vorbild dargestellt werden, weil »der deutschen Bevölkerung die totalitäre Sicherheit näher als die demokratischen Freiheiten stand. Es gehört zu den Grundprinzipien der Nazipropaganda, die Unvereinbarkeit von Freiheit und Sicherheit, von Menschenrechten und Vollbeschäftigung zu predigen. Demokratie, Freiheit, Arbeitslosigkeit und Armut sind von ihr zu einem grauenerregenden Einheitsbrei zusammengerührt worden.« Und: »Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung wird immer noch von offenkundig ›antikapitalistischen‹ Gefühlen beherrscht. Das Schlagwort von den ›proletarischen Nationen‹ und ihrem Krieg gegen die ›Plutokraten‹ ist die wahrscheinlich populärste Parole der Nazis geblieben.« Und das offensichtlich bis in die Gegenwart.

Auch ansonsten ist die »Haltung«, die Marcuse vor 65 Jahren skizzierte, geradezu unheimlich vertraut: »Ähnliches lässt sich für den Bereich der ›Natur‹ zeigen, die im Denken und Fühlen der Deutschen eine besondere Rolle spielt, gilt sie ihnen doch nicht als einfache materielle Gegebenheit, die vom Menschen gemeistert und nutzbar gemacht werden soll, sondern als eigenständige Quelle elementarster Impulse, Triebe und Wünsche des Menschen. Dieser vorchristlichen, heidnischen Naturvorstellung liegt ein starker antizivilisatorischer Impuls zugrunde: Die Natur liefert Maßstäbe und Werte, die denen der Zivilisation überlegen scheinen und somit einen Bereich schaffen, in dem der Mensch ›jenseits von Gut und Böse‹ lebt … seine ›Seele‹ ist das Zeichen seines natürlichen, sub-gesellschaftlichen Wesens, dem gegenüber das ganze Netzwerk gesellschaftlicher Verhältnisse zu einer sekundären und fremden Sphäre wird.«

Dieser mobilisierende Rückgriff auf die »seelische Unterwelt«, die zum »Ferment einer Bewegung« wird, ist das Betriebsgeheimnis des Nationalsozialismus. Erschreckenderweise waren es die so genannten neuen sozialen Bewegungen des Ökopax-Zeitalters, die sich genau desselben Ferments bedienten und die so die Rückkehr des ohnehin nicht Vergangenen mit Macht betrieben: die Rehabilitierung des Irrationalen und des Mythologischen in einem großen, gesellschaftlichen Ausmaß. Daraus resultiert jedoch keineswegs das Unvermögen, pragmatisch-rational zu denken und zu handeln. Doch ein solches Denken ist nur im durch die Regression gesteckten Rahmen möglich. Man kann also beispielsweise Hochrechnungen darüber anstellen, wie viel Zeit noch bis zum globalen, durch die Erderwärmung bedingten Weltuntergang bleiben wird. Oder man organisiert riesige Konzerte mit Al Gore und Yussuf Islam, um das Klima zu retten.

Diese eigenartige Fähigkeit zur »Rationalisierung des Irrationalen«, zur Koexistenz von Vernunftfeindlichkeit und Effizienz hatte wiederum auch schon die Nazi-Mentalität aufgewiesen: »Wir können innerhalb dieser neuen Mentalität zwei Schichten unterscheiden: 1. die pragmatische Schicht (Sachlichkeit des Denkens in den Kategorien von Effizienz und Erfolg, von Mechanisierung und Rationalisierung), 2. die mythologische Schicht (Heidentum, Rassismus, Sozialdarwinismus).« Beide Schichten bleiben aber »Ausprägungen desselben Phänomens«: Gerade »durch die Aktivierung der mythologischen Schicht« werden nämlich jene Energien erst freigesetzt, die dann »der pragmatischen Rationalität des Totalitarismus« hemmungslos dienen. Im Resultat nämlich durch völlige moralische Indifferenz: »Die völkische Religion verschafft dem Menschen ein gutes Gewissen, wenn er die moralischen Beschränkungen, die dem Kampf um Leben und Macht auferlegt wurden, abwirft, um die Schwachen und Hilflosen auszulöschen, seine Mitmenschen auszubeuten und seinen Lebensraum erbarmungslos zu erweitern«, schreibt Marcuse. Diese Indifferenz und die Koexistenz des sich vormals mehr oder weniger Ausschließenden machte die moderne, deutsche Mentalität im Nationalsozialismus aus: die Koexistenz von praktischem Verstand und durchsichtiger Mythologie, von Pragmatismus und Wahnsinn.

Die hier beschriebene Haltung gehört zur »Urgeschichte der postfaschistischen Gesellschaft« (Clemens Nachtmann). Marcuse analysiert nämlich einen Mentalitätswandel, in dem sich sowohl die Liquidation des bürgerlichen Zeitalters als auch der Aufstieg des autoritären Staats widerspiegeln. Eine Entwicklung, die alles andere als zufällig eintrat, wie die Kritische Theorie genau reflektierte: Mit dem ökonomischen Konzentrationsprozess, der durch die Liquidation der Zirkulationssphäre hergebrachten Typs den klassischen Bürger deklassierte, vollzog sich der politische Konzentrationsprozess weg von der Klassenherrschaft der Eigentumsbürger zum autoritären Staat der Sozialverwaltungen. Er setzte aufgrund der Etatisierung industrieller Produktion und sozialer Reproduktion ein neues Primat des Politischen; doch tatsächlich verbarg sich hinter diesem Primat der zunehmende Sachzwang eines Kapitals, das technisch so hochgerüstet war, dass es sich die unregulierte Krise herkömmlichen Typs nicht mehr leisten wollte.

Die Radikalisierung des autoritären Staats zum SS-Staat allerdings konnte erst durch die Indienstnahme eines antibürgerlichen und antizivilisatorischen Massenimpulses und deshalb in Deutschland erfolgen. Er war zwar atavistisch, aber eben alles andere als rückständig, wie man im und erst recht nach dem Krieg glauben wollte: Der Impuls war modern, weil er half, die bürgerliche Individualität in weit vorauseilendem Gehorsam gegenüber der zunächst nur ökonomischen Tendenz im alltäglichen und politischen Bereich abzuschaffen. Die Mischung aus Willkür und Sachzwang im Handeln des autoritären Staats wurde zu einer Lebenshaltung, in der rationaler Pragmatismus und irrationale Verfolgungswut nicht mehr zu trennen waren.

Die Verstetigung des nazistischen Handstreichs der Jahre 1933/34, der aus einer bürgerlichen Demokratie innerhalb weniger Jahre und ohne nennenswerten Widerstand einen maschinengleich mordenden Behemoth machte, verdankte sich nicht der Tatsache, dass die Mehrheit der Deutschen überzeugte und bekennende Antisemiten gewesen wären. Sie verdankte sich vielmehr der intellektuellen und moralischen Indifferenz, der Weigerung, Irrsinn als solchen überhaupt zu benennen, geschweige denn, sich ihm zu verweigern – solange er versprach, mit den Siegern zu sein und der Mordlust Abfuhr zu verschaffen: eine Indifferenz, die nach einem Wort Ian Kershaws die »Autonomie« ermöglicht, in der die Antisemiten freie Hand besitzen. Sie haben sie noch stets genutzt: wie Hitler zu Auschwitz. Und sie könnten sie in der Zukunft nutzen: wie Mahmoud Ahmadinejad, der sich anschickt, Atomwaffen zu bauen.

Herbert Marcuse: Schriften aus dem Nachlass, Band 5. Feindanalysen. Über die Deutschen. Zu Klampen Verlag, Springe 2007, 170 S., 24 Euro