Der kleine Bruder sagt, wie’s ist

Mehr als ein Jahr nach dem unfreiwilligen Abgang Fidel Castros ist immer noch nicht klar, ob Kubas máximo líder noch einmal zurückkommt. Sein Bruder Raúl hat unterdessen seinen Einfluss vergrößert. von knut henkel

Schlecht stehe es um die Gesundheit Fidel Castros, berichtete die mexikanische Tageszeitung La Reforma Anfang voriger Woche anlässlich seines 81. Geburtstags. Andere Blätter und Beo­bachter außerhalb der Insel hatten mit Verweis auf die große Zahl seiner Artikel, der »reflexiones«, die in den vergangenen Monaten gedruckt wurden, das Gegenteil erwartet. Über einen fidelen Comandante, der Anweisungen und Befehle gibt, hinter den Kulissen die Fäden zieht und sich auf die Rückkehr an die Macht vorbereitet, war spekuliert worden.

Doch welche Einschätzung letztlich stimmt, weiß niemand, denn der Gesundheitszustand des 81jährigen, der in einem Krankenhaus im Osten der kubanischen Hauptstadt gepflegt wird, ist ein Staatsgeheimnis. Mit den Diskussionen über seine Rückkehr an die Macht kokettiert der bärtige Berufsrevolutionär nur zu gern, um die essenziellen Fragen dann in schöner Regelmäßigkeit unbeantwortet zu lassen.

Doch in dem Jahr seiner Abwesenheit haben sich die politischen Verhältnisse auf der Insel merklich verschoben. Spätestens seit der wegweisenden Rede Raúl Castros vom 26. Juli sei klar, wer die politischen Geschicke des Landes bestimme, ist in den Diplomatenkreisen von Havanna zu hören. Der 76jährige Bruder des Comandante kündigte eine Öffnung der Wirtschaft für ausländische Investoren an, allerdings nur für »seriöse Unternehmer« auf einer »klar definierten gesetzlichen Basis« und unter Beibehaltung der »Vorherrschaft des sozialistischen Eigentums«. Ausländische Firmen sind bereits in Kuba präsent, vor allem im Tourismussektor, doch Fidel Castro hatte sich einer weitergehenden Öffnung immer widersetzt. Raúls Rede wurde daher als Zeichen dafür gewertet, dass er seinen Einfluss augedehnt hat.

Seit seinem Amtsantritt hat Raúl Castro mehrfach Ineffizienz, fehlende Arbeitsmoral und geringe Produktivität kritisiert. Unvergessen ist sein deutlicher Appell vom Dezember vorigen Jahres, als er wegen der zahlreichen Verfehlungen der Planvorgaben entnervt von den Abgeordneten des Parlaments forderte: »Sagt es, wie es ist, sagt die Wahrheit ohne Rechtfertigungen, denn wir sind in dieser Revolution der Rechtfertigungen müde.«

Als besonders dringlich gelten in Kuba Reformen, um die ineffiziente und kostspielige Landwirtschaft zu modernisieren. Nicht von ungefähr erschien in den vergangenen zehn Monaten eine ganze Reihe von Artikeln in den offiziellen Medien des Landes, die die Missstände im Agrarsektor überaus deutlich kritisierten. Von der »unmöglichen Mission« und »dem Zerschlagen von gordischen Knoten« war die Rede. Auch dem maroden Dienstleistungssektor wurde in ganzseitigen Artikeln in der Granma, dem Blatt der kommunistischen Partei, und der Juventud Rebelde ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Gemeinhin wird die Bevölkerung in Kuba auf diesem Weg auf Veränderungen vorbereitet.

Doch statt der bereits im Dezember angekündigten Reformierung des Agrarsektors, in dem immerhin 20 Prozent der Bevölkerung arbeiten, kam es nur zu Änderungen wie der Anhebung des Milchpreises. Von einer Neuverteilung des Ackerbodens war in kubanischen Forschungszentren noch im Frühjahr die Rede gewesen, doch entsprechende Maßnahmen blieben aus.

Die Stimmung in Havanna ist mies, denn viele hatten sich von dem pragmatischen kleinen Bruder Fidels Lösungen für die drei zentralen Probleme erhofft, die fast alle Kubaner beschäftigen. Die Wohnungsnot, der desolate öffentliche Nahverkehr und die permanente Versorgungskrise halten die Kubaner nahezu rund um die Uhr auf Trab. Das ist dem Interimspräsidenten des Landes allem Anschein nach ebenso bewusst wie der latente Unmut in der Bevölkerung. Die kann mit der Parole »Vamos bien« (es geht voran) wenig anfangen, denn trotz einer offiziellen Wirtschaftswachstumsrate von mehr als zwölf Prozent im vergangenen Jahr hat sich an den Lebensbedingungen wenig geändert.

Ein Problem, das Raúl in seiner Rede zum Nationalfeiertag, dem 27. Juli, dem offiziellen Beginn der Revolution, offen ansprach. Es gebe ein Missverhältnis zwischen den Löhnen und den Lebenshaltungskosten, der Lohn sei nicht ausreichend, um die Bedürfnisse zu befriedigen, gab der Übergangsstaatschef zu und führte die geringe Arbeitsproduktivität und -moral auf diese Tatsache zurück.

Ungewöhnliche Töne, denn bisher wurde diese Tatsache verschwiegen, und Sprüche wie »Der Staat tut so, als ob er uns bezahlt, und wir tun so, als ob wir arbeiten« sind in Havanna weit verbreitet. An diesen Verhältnissen scheint Raúl etwas ändern zu wollen, auch wenn er mahnt, dass »man, um mehr zu haben, auch mehr produzieren muss«. Der Mann, der es geschafft hat, um die Armee des Landes eine weit verzweigte und einflussreiche Unternehmensholding aufzubauen, nährt die Hoffnungen auf Besserung. »Extreme Schwierigkeiten« hat er für die Insel­ökonomie angesichts von steigenden Importen, stark steigenden Preisen und niedriger Produktivität in vielen Wirtschaftssektoren ausgemacht. Zudem ist das Land wieder stark von einem einzigen Handelspartner, nämlich dem omnipräsenten Erdöllieferanten Venezuela und dessen Präsidenten Hugo Chávez, abhängig, was auch kubanische Experten nicht mehr bestreiten.

Doch bei weit reichenden Reformen benötigt er die Zustimmung des großen Bruders. Er werde, so hatte Fidel Castro erst am 31. Juli in einem Essay geschrieben, bei allen wichtigen Entscheidungen konsultiert. Die wirklich wichtigen stehen bevor, und Raúl persönlich erhöht den Reformdruck. Dahinter könnte System stecken, denn ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich Fidel immer erst dann reformbereit gezeigt hat, wenn er sein Lebenswerk, die Revolution, gefährdet sah.

Die legale und illegale Auswanderung nimmt seit Jahren zu, und auch die Nachkommen der Revolutionäre, so zum Beispiel die Tochter Raúls, Mariela Castro Espín, melden sich nun zu Wort. Für ökonomische und soziale Reformen plädiert die Psychologin, die sich im Gespräch mit der spanischen Tageszeitung El País auch deutlich mehr partizipative Strukturen in Kuba wünschte. Für ihren Onkel hat die 45jährige nur den guten Rat übrig, besser auf seine Gesundheit zu achten. An dessen Rückkehr an die Macht verschwendet sie offenbar keinen Gedanken mehr.