»Die Sehnsüchte nach Geborgenheit sind groß«

André Brie, Europa-Abgeordneter der Partei »Die Linke«

In der Partei »Die Linke« gibt es Streit. Der Europa-Abgeordnete André Brie, der im Jahr 2002 den Bundestagswahlkampf der PDS organisierte, hat kürzlich in einem Interview mit dem Spiegel heftige Kritik an der Entwicklung der Partei geübt. Er warnte davor, dass sie zur reinen Protestpartei verkommen könnte, und sah teilweise die Gefahr einer »Re-SEDisierung«. Gregor Gysi und Lothar Bisky hätten Oskar Lafontaine zu sehr die Außendarstellung der Partei überlassen. Interview: Stefan Wirner

Welche Reaktionen erhielten Sie auf Ihr Interview im Spiegel?

Sehr unterschiedliche. Aggressive Ablehnung und euphorische Zustimmung.

Uwe Hiksch, der Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Diether Dehm, kritisierte Sie in der Tageszeitung Junge Welt. Er unterstellte Ihnen »Halbwahrheiten« und meinte, Sie würden die Partei nach rechts verschieben wollen.

Das sehe ich nicht so. Hiksch stimmt mir ja darin zu, dass der Charakter der Partei derzeit noch ungeklärt ist. Für mich gibt es drei Möglichkeiten. Erstens: Die Partei wird zur reinen Protestpartei. Das kann durchaus links sein, aber die Gefahren sind sehr groß. Außerdem wäre es eine Sackgasse. Zweitens: Es gibt die Möglichkeit, mit orthodoxen sozialdemokratischen Antworten in die neuen Auseinandersetzungen zu gehen. Auch das könnte eine Zeit lang gut funktionieren, weil die Sehnsüchte nach Sicherheit und nach der scheinbaren Geborgenheit der Vergangenheit groß sind. Aber es stellt keine Zukunftsperspektive dar. Die dritte Möglichkeit wäre, eine wirklich zeitgemäße sozialistische Partei zu formen. Und das wäre alles andere als rechts.

Selbstverständlich wäre es eine Partei, die auch dem Realismus von Politik verpflichtet ist. Weder die sozialen Nöte von Menschen noch das, was global nötig ist in der Ökologie oder der Friedensfrage, dulden ein Warten auf ein anderes System in der fernen Zukunft. Hier müssen schon heute Ergebnisse erzielt werden.

Wenn man Hiksch so hört, bekommt man den Eindruck, dass in Ihrer Partei eine recht rüde Diskussionskultur herrscht.

Wir haben kein Monopol auf die Wahrheit, weder als Partei noch als Einzelne. Wir brauchen diese Auseinandersetzung. Wir müssen sie öffentlich und transparent führen und möglichst auch von unten.

Warum eröffnen Sie ausgerechnet jetzt die Debatte? Haben Sie die Befürchtung, dass Lafontaine ein Hindernis für Koalitionen mit der SPD wird?

Lafontaine ist für die Partei ganz entscheidend. Wir haben ohne ihn nicht im Ansatz die notwendige Außenwirkung, vor allem in den alten Bundesländern. Er ist der Stratege und bringt auf wirtschaftspolitischem Gebiet Kompetenzen mit, die etwa der PDS völlig gemangelt haben.

Aber es ist notwendig, um einen Mitte-Links-Block zu kämpfen: kulturell, intellektuell und auch politisch. Dafür sind die Voraussetzungen zurzeit auf keiner Seite gegeben. Wir selbst machen nicht die konkreten Angebote dafür, die SPD steht dafür zurzeit auch nicht zur Verfügung, und ebenso wenig finden wir eine Bereitschaft bei den Grünen.

Oskar Lafontaine ist nur in einer Hinsicht ein Problem: Ich lese aus seinen Büchern und seinem politischen Handeln heraus, dass die Wunden, die ihm die SPD zugefügt hat und die er umgekehrt der SPD zugefügt hat, nicht verarbeitet worden sind.

Ist das wirklich nur ein psychologisches Problem, kein inhaltliches?

Natürlich hat es auch eine inhaltliche Seite. Aber gerade, wenn ich seine Bücher lese, sehe ich auch ein großes psychologisches Problem. Das will ich nicht zu hoch bewerten, aber es ist da.

Ist »Die Linke« nicht ein gelähmter Riese? Man steht gut da in den Umfragen, kann aber wegen Lafontaine, zumindest behauptet das die SPD, auf Bundesebene keine Koalitionen daraus formen. Denken Ihre Parteigenossen da zu wenig strategisch, oder sind sie zu benebelt von den guten Umfrageergebnissen?

Wir sind sicherlich zurzeit etwas zu zufrieden. Wir arbeiten zu wenig konkret in der Politik. Das betrifft auch das Ringen um gesellschaftliche Bewegung, ohne die es gar keine Veränderung geben kann. Aber Lafontaine ist für uns keine Verhandlungsmasse.

Er bedient die Sehnsucht nach den einfachen Lösungen. Woher kommt diese Sehnsucht in Ihrer Partei? Etwa beim Beispiel Afghanistan. Man fordert: Deutsche Truppen raus aus Afghanistan. Man sagt aber nicht, was dann in dem Land passieren soll.

Diese Sehnsucht sitzt tief. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum Teil wurde vieles aus der SED und dem Marxismus-Leninismus, der ja einfache Lösungen parat hatte, nicht verarbeitet. Hinzu kommt der weitreichende Wandel in der Gesellschaft, der bei vielen Ängste hervorruft. Aus Ängsten entsteht die Sehnsucht nach der einfachen Antwort.

Etwa das Problem Afghanistan. Solange diese Partei, die ja quantitativ zu beträchtlichen Teilen aus der SED oder der DKP stammt, Parteien also, die den Krieg der UdSSR in Afghanistan befürwortet haben, sich mit der sowjetischen Politik von damals nicht auseinandersetzt, solange ist die eigentlich legitime Forderung nach einem Truppenabzug nicht ausreichend. In dem Land ist in den letzten fünf, sechs Jahren alles schief gelaufen. Dafür gibt es eine internationale Verantwortung.

Es gibt gesellschaftliche Gruppen in Afghanistan, die mehr internationale Truppen für das Land fordern. Warum spielt das für Ihre Partei keine Rolle?

Weil auch eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung den Abzug fordert. Ich war immer gegen den Einmarsch. Im Jahr 2002 war ich dort. Damals hätte es die Möglichkeit gegeben, stärkere zentralstaatliche Strukturen aufzubauen. Das ist missachtet worden. Ob es heute noch möglich ist, weiß ich nicht. Ich bin da sehr skeptisch. Vieles ist unumkehrbar zerstört worden. Trotzdem hat die internationale Gemeinschaft die Verantwortung, dem afghanischen Volk beizustehen, das seit 30 Jahren im Krieg lebt, einen großen Teil davon wegen internationaler Interventionen.

Die Antworten müssten viel mehr auf nicht-militärischem Gebiet liegen. Man braucht dort z.B. eine Landwirtschaft, die auf lange Zeit gegen den liberalisierten Weltmarkt abgeschottet ist, damit sie eine Alternative zur Drogenwirtschaft entwickeln kann. Nötig wäre auch eine Entwaffnung der Warlords. Viele gehören der Nordallianz an, das sind die Verbündeten der USA. Heute beherrschen sie große Teile der Regierung und der Armee. Solche Fragen müssen beantwortet werden.

Wann haben Sie zuletzt in die National-Zeitung reingeguckt?

In den achtziger Jahren.

In der vorigen Woche wartete sie mit vielen Themen auf, die auch die »Linke« beschäftigen. Es ging um die USA, um Israel, um Afghanistan, es wurde etwa auch der Rückzug der deutschen Truppen gefordert. Man konnte einen wohlwollenden Nachruf auf Heinrich Graf von Einsiedel lesen, der in den neunziger Jahren für die PDS im Bundestag saß. Es fällt einem auf den ersten Blick schwer, den Unterschied zur »Linken« zu erkennen.

Das ist ein wichtiges Problem. Die Rechte hat solche Themen immer in populistischer Weise genutzt. Die Antwort für die »Linke« liegt darin, dass sie nicht nur solche Themen ansprechen darf, sondern Alternativen vorlegen muss. Dann wird sie sich eindeutig von den Rechten unterscheiden.

Lafontaine bedient oftmals diese rechten Ressentiments.

Seine Äußerungen zu den »Fremdarbeitern« im Jahr 2005 waren außerordentlich unglücklich, aber ich denke, dass er daraus gelernt hat.

Warum überlassen Lothar Bisky und Gregor Gysi Lafontaine die Außendarstellung der Partei?

Das kann ich nicht beantworten. Ich halte es für falsch. In dieser Partei steckt sehr viel mehr Potenzial, und sehr viele Menschen tragen in der Partei Verantwortung.

Glauben Sie, dass die nächste Diskussion ins Haus steht, wenn Lafontaine, wie angekündigt, nach Kuba reist?

Nein. Es hätte eine heftige Diskussion gegeben, wenn er in den Iran gereist wäre.

Hat er einen Hang zu autoritären Regimen? Auch seine Verteidigung von Hugo Chávez deutet in diese Richtung.

Ich würde Chávez in vieler Hinsicht auch verteidigen. Ich würde aber auch differenzieren und gleichzeitig das Kritikwürdige benennen.