Von Balls, Dicks und Tits

Zum dritten Mal hat das Berlin Festival stattgefunden. Diesmal sogar in Berlin. von thomas blum

Shake your dicks! Shake your tits!« Hierbei handelt es sich zweifelsohne um unmissverständliche Aufforderungen. Den von der Bühne herab gestellten Fragen ist nicht so einfach zu folgen: »Are the fatherfuckers ready for the motherfuckers? Are the motherfuckers ready for the fatherfuckers?« Die Vortragskünstlerin Peaches ist, wie man weiß, nicht gerade das, was man gemeinhin zurückhaltend bzw. schamhaft nennen könnte. Eher müsste man wohl sagen, sie tobt die meiste Zeit entfesselt in Unterwäsche über die Bühne, begleitet von zackigen, martialischen Elektrobeats, und röhrt am laufenden Band Obszönitäten ins Publikum. Man bekam beim Zuschauen und Zuhören rasch den leisen Verdacht, dass die Leute, die dazu neigen, den Begriff »­Sexismus« immerzu falsch zu verstehen, indem sie – darin der katholischen Kirche nicht unähnlich – annehmen, das freimütige Herzeigen von Körperteilen, die Verwendung als anstößig geltenden Vokabulars und die Andeutung diverser sexueller Praktiken seien Anzeichen der Allgegenwart des Bösen, mittlerweile Schaum vorm Mund haben müssen.

Fortwährend geht es ja im Gesamtwerk von Frau Peaches darum, sich rasch seiner Kleidung zu entledigen, und des Weiteren um solche Sachen wie balls, dicks, tits, cocksucking, pussy­eating und ähnliches. Sex zum Vergnügen, gerne auch in seiner etwas robusteren Variante, ist eine Art Leitmotiv in ihrem Schaffen. Da kann man nichts machen. Da muss man durch.

Ja, ganz fabelhaft waren Peaches’ possierliche Darbietungen auf dem zweitägigen Berlin Festival, das sich am vergangenen Wochenende zum dritten Mal ereignete und das sich in den letzten beiden Jahren dadurch auszeichnete, dass es trotz seines Namens irritierenderweise irgendwo hinter Spandau in der Brandenburger Einöde zwischen Hühner- und Ziegenställen stattfand. Dieses Mal hingegen hatte man sich dazu entschieden, für das Festival einen geeigneteren Ort in der Innenstadt zu wählen: die Berliner Einöde um den Hauptbahnhof. In dessen Nähe existiert sowohl ein überschaubares Freigelände als auch seit dem vergan­genen Jahr ein Campingplatz, der auf dem Gelände eines stillgelegten Freibads betrieben wird.

Vor Peaches’ Konzert konnte man an zwei Fallbeispielen erkenntnisfördernde Studien darüber betreiben, was deutsche von britischen Popbands unterscheidet. Während am Nachmittag die Berliner Combo Tele (»Streng dich an und denk nicht dran, wer hier was wofür kann. Fang mit deiner Arbeit an. Und nehmen wir mal an, es geht alles schief, sing ein Lied«), deren unerträglicher Schlager »Mario« derzeit im Radio im Stundentakt rauf- und runter­gespielt wird, mit unfassbar faden Zwischen­ansagen und Strebermusik bleierne Langeweile verbreitete, die einem auf dem Gemüt lastete wie ein 16-Tonnen-Gewicht, durfte man nur zwei Stunden später Zeuge eines Geschehens werden, das als Lehrbeispiel dafür dienen kann, wie man ein träges Publikum aus seiner Lethargie reißt. Das britische Go!Team fegte nicht nur daseinsfreudig und gleichsam närrisch über die Bühne, sondern trug seinen an musikalischen Reminiszenzen reichen, scheppernden Resteverwertungs- und Krachpop-Hiphop derart enthusiasmiert vor, dass man sich plötzlich nicht mehr auf einer öden Wiese wähnte, sondern auf einem schreiend bunten Erwachsenenspielplatz.

Bereits am Abend zuvor gab die überaus sympathische und sehr munter und aufgeräumt wirkende Popgruppe Tocotronic ein kurzweiliges Potpourri alter und neuer Stücke zum Besten, das in einem mehrere Minuten andauernden, vergnüglichen Feedbackgewummer und -gefiepe mündete.

Ach ja, noch eine Beobachtung ist zu vermerken. Eine neuartige, kuriose und höchst fragwürdige Mode, wenigstens unter Besuchern von Open-Air-Festivals, scheint eine Kleidungszusammenstellung zu sein, die einem dankenswerterweise bislang nie unterkam: ein achtlos um Hals und Schulter drapiertes Palästinensertuch wird kombiniert mit diversen Kleidungsstücken (Hemd, Top, Regencape, Socken) in schreienden Neonfarben (rosa, gelb).

Oder man entscheidet sich gleich für eine Art Fortgeschrittenenvariante dieser Aufmachung, wie sie etwa am Gitarristen von Peaches zu bestaunen war, der neben seiner Unterhose und Schuhwerk ausschließlich ein Palästinensertuch trug. Nun gut, der Mann beherrscht sicherlich sein Instrument, aber in Fragen seiner Garderobe sollte er sich künftig besser beraten lassen. Würde man den Mann in dieser Aufmachung im Gaza-Streifen aussetzen, würde man ihm dort vermutlich ein paar Fragen stellen.