Unabhängige Kandidaten zwischen Teufel und Beelzebub

In den letzten Tagen vor der Parlamentswahl herrscht gespannte Unruhe bei den zwei großen Parteien der Türkei. Sie machen sich nicht nur darüber Sorgen, wer mehr Stimmen auf sich vereinigen kann. Auf den Wahlzetteln werden am Sonntag so viele unabhängige Kandidaten wie nie zuvor stehen. Anwälte, Popsänger, Transvestiten, Minenarbeiter, Kurden. Und etliche von ihnen haben gute Aussichten auf einen Platz im Parlament. Darunter auch Linke. von ömer erzeren, istanbul

Sulukule ist ein Elendsviertel mitten im Herzen Istanbuls. Hier leben Roma – diskriminiert, ausgegrenzt, verachtet. In die engen Gassen Sulukules trauen sich normalerweise keine Fremden. Anders an diesem Tag. Mehrere Dutzend Wahlkämpfer verteilen Flugblätter, ansprechend aufgemacht im Vierfarbdruck in bester Qualität, die unschwer die Handschrift einer guten Werbe­agentur erkennen lassen. Liest man dann auch noch den Text, wähnt man sich in einem anderen Land: »In der Türkei leben Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, die verschiedenen Religionen angehören und verschiedene Kulturen repräsentieren. Wahre Demokratien ermöglichen das Zusammenleben der Menschen. Wir lehnen die Gesinnung, die Bürger zu Feinden erklärt, ab. Wir fordern Rechte für die Ausgegrenzten und Unterdrückten.

Der Türke wird den Kurden, der Kurde den Armenier, der Armenier den Roma, der Roma den Tscherkessen, der Tscherkesse den Aleviten, der Alevit den Arbeitslosen, der Arbeitslose den Homosexuellen verteidigen. Das ist das Ziel!« Schon die Begegnung der Wahlkämpfer mit den Roma Sulukules ist außergewöhnlich in diesem Land. Auf der einen Seite die politisierte, intellektuelle Mittelschicht – die lesbische Ingenieurin, die berühmte Schriftstellerin, der Arzt, der Apotheker, Studenten der besten Universitäten, Umweltaktivisten – auf der anderen Seite die Roma Sulukules, die sich mit Gelegenheitsjobs und Straßenmusik über Wasser halten.

Doch die Türkei ist ein Land, das immer für Über­raschungen gut ist. Als der politische Teil beendet ist, übernehmen die Roma die Unterhaltung mit Zigeunermusik und Bauchtanz. Der Verein zur Verteidigung der Rechte der Anwohner – im Rahmen einer so genannten städtischen Sanierung versucht man, die Einwohner des Viertels zu vertreiben und Sulukule für Spekulanten attraktiv zu machen – hat den Empfang bestens organisiert. »Unsere Stimme im Parlament. Unsere Stimme für Baskin«, wird skandiert. Baskin Oran ist der parteilose, unabhängige linke Kandidat im Wahlbezirk 2, der nun auf einem verstaubten Gelände neben einem Teegarten das Mikrofon ergreift. Baskin Oran ist emeritierter Professor für Politikwissenschaften aus Ankara und entspricht voll und ganz dem Klischee des lebensfernen Hochschullehrers, dessen Welt aus Büchern, Wissenschaftskonferenzen und Seminarräumen besteht. Ein Anti-Held, dem alle Stärken von Politikern fehlen.

Politischer Populismus ist ihm zuwider. Wenn der bärtige Mann mit der kleinen Brille spricht, vermag er die Massen nicht zu begeistern. Er ist so scheu, dass er sich noch nicht einmal traut, die Menschen aufzurufen, ihm bei den Wahlen ihre Stimme zu geben. Er doziert trocken. Er analysiert die eklatanten Widersprüche im politischen System der Türkei. Vereinfachungen sind nicht seine Sache. »Als ich zu einer Wissenschaftskonferenz in Genf eingeladen war«, lautet der Halbsatz, mit welchem er seine Rede in Sulukule einleitet. Die Roma Sulukules wissen nicht, wo Genf liegt. Kaum jemand hört ihm zu. Es ist aber auch egal. Die Menschen spüren, dass einer gekommen ist, der ganz anders ist als die Karrieristen der großen Parteien. Einer, der integer ist. Einer, der es ernst meint, wenn er von »gleichen Rechten und dem Ende der Diskriminierung« redet. Deshalb ist der Empfang so herzlich. Deshalb tanzt man so ungezwungen mit dem kunterbunten Haufen der Wahlkämpfer Baskin Orans.

In der Türkei fehlt eine starke, organisierte, politische Linke. Nachdem die Wahlen zum Staatspräsidenten scheiterten und das türkische Parlament für den 22. Juli vorgezogene Neuwahlen festlegte, war klar, dass keine linke Partei ins Par­lament einziehen wird. Bei den Wahlen 2002 schafften nur zwei Parteien den Einzug ins Parlament: die regierende, islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) des Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan und die Republikanische Volkspartei (CHP) des Op­posi­tionsführers Deniz Baykal. Nach dem Putsch 1980 oktroyierten die Generäle dem Land eine Zehnprozenthürde auf. Über zwei Jahrzehnte schon gibt es eine öffentliche Diskussion über deren undemokratischen Charakter. Doch sowohl die Regierenden als auch die Opposi­tion profitierten von ihr und hatten dementsprechend keinerlei Interesse, sie abzuschaffen. Bei den vergangenen Wahlen wurden nur 55 Prozent der Wähler im Parlament repräsentiert. Die regierende AKP erreichte mit einem Drittel der Stimmen fast zwei Drittel der Abgeordnetenmandate. Hinzu kommt die Art und Weise, wie die Parteien die Kandidatenlisten erstellen. Die Parteibasis wird schlicht ignoriert, regionale Parteiverbände haben überhaupt nichts zu melden. Mit göttlicher Machtfülle ausgestattet, legt der Parteiführer die Kandida­ten landesweit fest.

Völlig anders kam die Kandidatur des unabhängigen, linken Kandidaten Baskin Oran zustande. Es wurden unzählige Treffen und Konferenzen organisiert, an denen eine große Anzahl von NGO und kleinerer, linker Parteien teilnahm. Schließlich einigte man sich darauf, in den drei Istanbuler Wahlbezirken jeweils einen unabhängigen Kandidaten aufzustellen. Für parteilose Kandidaten gibt es die Zehnprozenthürde nicht. Im Wahlbezirk 1 wurde der Vorsitzende der linkssozialistischen Partei für Demokratie und Solidarität, Ufuk Uras, aufgestellt, im Wahlbezirk 3 einigte man sich auf Sebahat Tuncel, eine Parteiaktivistin der kurdischen Partei der demokratischen Ge­sellschaft (DTP). Sie sitzt wegen »Unterstützung einer terroristischen Organisation« in Untersuchungshaft, so dass andere für sie den Wahlkampf führen müssen.

Doch nicht nur Linke kandidieren bei dieser Wahl als Unabhängige. Im ganzen Land finden sich sehr viele in der Bevölkerung, die die etablierten Parteien satt haben. 2002 gab es nur 190 parteilose Kandidaten, die zur Wahl antraten. Am kommenden Samstag werden es 764 sein.

»Ich würde mir lieber die Hand abhacken, als meine Stimme der AKP oder der CHP zu geben«, sagt eine Frau, die das Wahlbüro Baskin Orans betritt. »Was braucht ihr? Soll ich Flugblätter verteilen? Oder braucht ihr Geld?« Binnen weniger Tage haben sich hunderte Freiwilliger für die Kampagne Baskin Orans eingefunden. Die Wahlkampfbüros konnten sich vor lauter Spenden nicht retten. Ähnlich ging es Ufuk Uras im asiatischen Teil Istanbuls. Binnen kürzester Zeit richteten Freiwillige 100 Wahlkampfbüros für ihn ein. Ursache für das ungewöhnlich leidenschaftliche Engagement ist das angespannte politische Klima in der Türkei, das viele Menschen dazu bringt, sich für politische Alternativen einzusetzen.

Zum einen liegt es an der Regierungspartei, deren Führungskader aus der Schule des politischen Islam kommen und die vor allem wegen ihrer rücksichtslosen neoliberalen Wirtschaftspolitik in Erinnerung bleiben wird. Die AKP erfüllte immer brav die Forderungen des Kapitals. Sie war eine Meisterin der Privatisierung von öffentlichen Unternehmen und gewerkschaftsfeindlich auf der ganzen Linie. Trotz zaghaft angegangener Demokratisierungsgesetze, die im Zuge der Beitrittsverhandlungen mit der EU das Parlament passierten, arrangierte sich die AKP zunehmend mit dem repressiven politischen Regime, das eine Erblast der Militärs ist. Gleichzeitig leistete sie gesellschaftspolitisch der Verbreitung konservativer, islamistischer Ideologie Vorschub. Auf der vermeintlich anderen Seite steht die CHP als Oppositionspartei, die sich selbst von rechten sozialdemokratischen Positionen verabschiedet hat. Sie ist eine Staatspartei, die Seite an Seite mit den Militärs steht und mit aggressiver na­tionalistischer Rhetorik auf Stimmenfang geht.

Die Anschläge der PKK und die Beerdigung gefallener Soldaten liefern das Material für ihre dreckige Propagandaschlacht. Der Führer der faschistischen »Nationalistischen Aktionspartei«, Devlet Bahceli, dessen Partei bei diesen Wahlen Chancen hat, über die Zehn-Prozent-Hürde zu kommen, wedelt auf Kundgebungen mit einem kleinen Galgen. Er will die Todesstrafe wieder einführen. »Hängt ihn doch auf«, ruft er. Er meint den zu lebenslanger Haft verurteilten PKK-Führer Abdullah Öcalan.

Die Türkei ist ein gespaltenes Land. Die Fronten verlaufen zwischen neoliberalen Islamisten und Nationalisten. Eine Entscheidung zwischen Teufel und Beelzebub.

Doch die Zahl derer, die wissen, dass sie bei der Konfrontation dieser Blöcke zerrieben werden, ist nicht zu unterschätzen. »Früher habe ich meinem Sohn geraten, sich von politischen Aktivitäten fernzuhalten«, erzählt eine 50jährige. »Heu­te glaube ich, dass ich für die Zukunft meiner Kinder politisch aktiv werden muss.« Die Kampagne der unabhängigen, linken Kandidaten basiert auf einer zutiefst moralischen Grundlage. Und mit ihrer radikaldemokratischen Programmatik sind die unabhängigen Kandidaten auch für die Mittelschicht attraktiv.

Als Baskin Oran, begleitet von rund 500 freiwilligen Wahlkampfhelfern, durch den Bezirk Sisli zieht, kommt die Gruppe auch an der Redak­tion der armenischen Zeitung Agos vorbei. Genau hier vor der Tür des Gebäudes, in dem sich die Redaktion befindet, wurde der armenische Journalist Hrant Dink ermordet. Die Redakteure winken den Wahlkämpfern aus dem Fenster zu. Auf der Straße werden Parolen gegen Rassismus und politische Morde gerufen. Hrant Dink war nicht nur ein Mensch, dem Baskin Oran politisch sehr nahe stand, sondern auch ein Freund. Eine junge Frau unter den Wahlkämpfern weint.

Es ist die Integrität, die Baskin Orans Ansehen ausmacht. Nie hat er seine Positionen um der Karriere und der Posten willen geändert. Als die Militärs 1971 intervenierten, wurde er von der Universität entlassen. Er kämpfte entschlossen dagegen. Nach einem Jahr musste er wieder eingestellt werden. Nach dem Putsch 1980 wurde er erneut gefeuert. Er klagte und gewann den Prozess, nur um schließlich doch wieder von der Kriegsrechtskommandantur seines Jobs ent­ho­ben zu werden. Ein ganzes Jahrzehnt lang ließ er nicht locker. Nach verschiedenen Prozessen musste die Universität ihn 1990 wieder anstellen. Als er vor einigen Jahren als Wissenschaftler in die Menschenrechtskommission der Regierung berufen wurde, verfasste er einen Bericht, der radikal mit dem Umgang des türkischen Staats mit religiösen und ethnischen Minderheiten abrechnet. Den Auftraggebern bereitete der Bericht schlaflose Nächte, und Baskin Oran erhielt Todesdrohungen.

Oran schmiert niemandem Honig um den Mund. »Ich bin ein Kurdenfreund, der kein Kurde ist«, sagt er von sich. Er hat keine Scheu, in einer Versammlung von konservativen Kurden diese darüber zu belehren, wie wichtig es ist, dass die Kurden sich auch für die Rechte der Schwulen einsetzen. Die ehemalige Prostituierte Ayse Tükrükcü kandidiert auch als unabhängige Kandidatin fürs Parlament. Baskin Oran besucht sie, mit einem Strauß Blumen in der Hand. Tükrükcü redet über ausgebeutete Frauen in den staatlich lizensierten Bordellen. Baskin Oran hört zu. Er hat etwas dazugelernt. »Sozialversicherungspflicht für Prostituierte«, notiert er. »Aber vergessen Sie auch nicht, wie schwer es die Arme­nier in der Türkei haben.«

Anders als die unabhängigen Kandidaten in Is­tanbul, die auf Freiwillige angewiesen sind, um den Wahlkampf zu führen, müssen sich die unabhängigen Kandidaten in den kurdischen Re­gionen keine Sorgen um Unterstützung machen. »Kandidaten tausender Hoffungen« heißen sie und wurden von der kurdischen Partei DTP benannt. Der Parteiapparat steht ganz im Dienste der unabhängigen Kandidaten. Wie groß die Unterstützung für die DTP in den kurdischen Regionen ist, ließ sich jüngst bei der Beerdigung des verstorbenen Orhan Dogan in der Stadt Cizre beobachten. Über 100 000 Menschen nahmen daran teil. Dogan war Abgeordneter in der Nationalversammlung. Zusammen mit Leyla Zana und anderen kurdischen Abgeordneten wurde seine Immunität aufgehoben. 1994 wurde er wegen »separatistischer Aktivitäten« zu einer 15jährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Über zehn Jahre verbrachte er im Gefängnis. Nach seiner Entlassung war Dogan, der stets Distanz zur PKK hielt, in den Reihen der DTP aktiv. Wegen seiner Vorstrafe war er nicht als unabhängiger Kandidat zu den Wahlen zugelassen worden.

Repressalien gegen die Kommunalpolitiker der DTP sind gang und gäbe. Gegen den Oberbürgermeister der Millionenstadt Diyarbakir, Osman Baydemir, sind ein Dutzend Verfahren anhängig. Eines beschäftigt sich damit, dass der Bürgermeister eine städtische Ambulanz bei der Beerdigung eines getöteten Kämpfers der illegalen PKK zur Verfügung gestellt habe. Baydemir erhielt bei den vorigen Kommunalwahlen 58 Prozent der Stimmen. Gegen diejenigen, die versuchen, die Rechte, die im Zuge von Gesetzesreformen gewährt wurden, in Anspruch zu nehmen, läuft ein Zermürbungskampf. Im Westen des Landes wird die DTP als »fünfte Kolonne«, als Ableger der PKK denunziert, in den kurdischen Regionen ist dagegen der Wahlkampf ein Heimspiel. Wo andernorts Unabhängige sich freuen, wenn ein Ladenbesitzer seinen Laden als Wahlkampfbüro zur Verfügung stellt, konkurrieren in Diyarbakir Ladenbesitzer darum, wessen Laden ein Wahlkampfbüro wird. Über 10 000 Freiwillige sind allein in Diyarbakir aktiv. Die Partei hat Tonnen von Papierschablonen in der Größe des Wahlzettels bestellt. An der Stelle des unabhängigen Kandidaten ist ein Loch, damit die vielen Analphabeten unter den Wählern das Kreuz an der richtigen Stelle machen. Die DTP kam bei den vergangenen Wahlen landesweit auf sechs Prozent der Stimmen, während sie in vielen kurdischen Regionen stärkste Partei wurde. Mit den unabhängigen Kandidaten wird nun die Zehn-Prozent-Hürde ausgehebelt. Anders als im Westen der Türkei gilt es hier als sicher, dass mehrere Dutzend Unabhängige ins Parlament gewählt werden.

Wenn nach den Wahlen am Sonntag weder die AKP noch die kemalistischen Nationalisten eine Mehrheit bilden können, weil genügend Unabhängige im Parlament vertreten sind, haben sie ihr Ziel erreicht. Eine so hervorgerufene Krise könnte eine wirkliche Chance für einen Neuanfang sein.

»Die auswendig gelernten Phrasen werden wir im Parlament bloßstellen und über die wirklichen Probleme reden«, sagt Baskin Oran. Das wollen viele. Als jüngst die unumstrittene Diva des türkischen Pop, Sezen Aksu, ein Freiluftkonzert vor Zehntausenden Zuhörern gab, entdeckte sie Baskin Oran auf den Zuhörerbänken. Sie eilte zu ihm und küsste ihn: »Du musst wissen, wir alle stehen hinter dir.«