Die Freiheit nehm’ ich dir

Obwohl die Inhaftierungen von Journalisten in der Türkei rückläufig sind, wächst derzeit der Druck auf staatskritische Medienschaffende. Die zunehmende Medienkonzentration verschärft das Problem. von arian fariborz

Den 19. Januar 2007, den Tag, an dem in Istan­bul der Chefredakteur der armenischen Wochenzeitung Agos, Hrant Dink, erschossen wurde, wird der 65jährige Journalist Aydin Engin sicher nie vergessen. »Damals rief mich eine junge Kollegin an und sagte: ›Bruder Engin, man hat Hrant erschossen!‹ Ich fuhr sofort zur Redaktion, und vor dem Haus lag Hrant noch immer auf der Straße. Dann fingen meine schweren Tage an, denn Agos musste weiter erscheinen. Und es herrschte Chaos, Panik und Fassungslosigkeit unter den Kollegen.«

Daher sollte der türkische Journalist, der für die lange Zeit als liberal geltenden Tageszeitung Cumhuriyet gearbeitet hatte und heute als freier Journalist tätig ist, fünf Wochen lang kommissarisch die Position des Chefredakteurs und des Pressesprechers der Zeitung einnehmen, weil sich dafür zunächst kein armenischer Journalist fand. Zu groß war das Vakuum, das durch den Mord an Hrant Dink, dem prominentesten Vertreter der armenischen Minderheit in der Türkei, entstanden war.

Das unabhängige Online-Magazin Bianet, das im Rahmen eines EU-Projektes gefördert wird, berichtet seit Jahren mit einem Netzwerk lokaler Korrespondenten regelmäßig über die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse in der Türkei, insbesondere über die aktuelle Entwicklung der Presse- und Meinungsfreiheit. Erol Önderoglu, zuständiger Redakteur für die Abteilung Pressefreiheit beim Mediennetzwerk »Bianet« in Istanbul und Türkei-Korrespondent von Reporter ohne Grenzen, glaubt, dass heute nicht allein Journalisten verstärkt ins Visier ultranationalistischer oder islamistischer Kräfte rücken. »Der Fall Hrant Dink darf nicht isoliert von anderen Attentaten betrachtet werden – wie jüngst die Christen-Morde in Malatya oder der Anschlag auf einen katholischen Priester in Trabzon«, so Önderoglu. »Man muss nicht nach einer gemeinsamen Organisation suchen, die dafür verantwortlich ist. Aber man kann dahinter sehr leicht eine gemeinsame Mentalität in der Türkei entdecken, was Rassismus, Gewalt und eine fahrlässige Gleichgültigkeit der Behörden gegenüber Minderheiten angeht.«

Doch darüber hinaus riskieren viele unbequeme Journalisten auch, zur Zielscheibe ultra-kemalistischer Staatsanwälte zu werden. So finden sie sich schnell auf der Anklagebank wieder, wenn sie in ihrer Berichterstattung offen und kritisch den Kurden-Konflikt oder die Armenier-Problematik thematisieren.

Hrant Dink war der erste Journalist in der Türkei, der wegen angeblicher »Verunglimpfung des Türkentums« gemäß Strafrechtsparagraf 301 rechtskräftig verurteilt wurde. Auch gegen den freien Journalisten Aydin Engin ermittelte die Staatsanwaltschaft vor drei Monaten wegen angeblicher »Verunglimpfung des Türkentums«, weil er die »roten Linien«, den unausgesprochenen Konsens der kemalistischen Hardliner in der Armenierfrage, nicht genügend beachtet hatte:

»Ich bin da sicher keine Ausnahme«, berichtet Engin. »Es gibt viele Paragrafen im türkischen Strafgesetz die sich gegen uns Journalisten richten – etwa Paragraf 301 oder 216. Allerdings darf man nicht vergessen, dass insbesondere in den siebziger Jahren die Situation sogar noch viel dramatischer war. Damals gab es richtige drakonische Strafen, die allmählich in der liberaleren Phase unter Turgut Özal abgeschafft wurden. Aber einige sind noch geblieben.«

Obwohl die Zahl der Inhaftierungen von Medienschaffenden in der Türkei im Vergleich zu den Vorjahren zurückgegangen ist, schränken nach wie vor bestimmte Artikel des türkischen Strafrechtes sowie die Anti-Terrorgesetze des Landes die Pressefreiheit in der Türkei ein. Allein im vergangenen Jahr mussten sich 72 Journalisten wegen »Verunglimpfung des Türkentums« vor Gericht verantworten. 35 weitere wurden wegen des Paragrafen 216, der den Tatbestand der »Aufstachelung zu Hass und Feindschaft in der Bevölkerung« unter Strafe stellt, angeklagt.

Jüngstes Beispiel dafür, dass die staatsunabhängige Presse zunehmend unter Druck steht, ist das Nachrichtenmagazin Nokta. Anfang April ordnete die Militärstaatsanwaltschaft einen Untersuchungsbefehl gegen die Wochenzeitung an, weil sie Tagebücher eines pensionierten Offiziers über einen im Jahr 2004 geplanten Militärputsch gegen die Erdogan-Regierung enthüllt hatte. Der Herausgeber hatte daraufhin erklärt, der anhaltenden Verleumdungskampagne gegen Nokta nicht mehr gewachsen zu sein und die Zeitung schließen zu müssen.

Erol Önderoglu von »Bianet« ist der Ansicht, dass auch die Anpassung an europäische Presserechtsstandards im Zuge eines möglichen EU-Beitritts der Türkei die derzeitigen Probleme nicht schlagartig lösen könne. Die Türkei müsse aus eigenen Anstrengungen heraus Gesetzesreformen zur Garantie der Presse- und Meinungsfreiheit einleiten und die Zivilgesellschaft dadurch stärken:

»Die größte Auseinandersetzung muss innerhalb der türkischen Bevölkerung stattfinden«, so Önderoglu. »Wir sollten darüber diskutieren, was in der Vergangenheit gemacht worden ist, um einen Ausgleich in der Gesellschaft zu erzielen. Wir müssen die anti-demokratischen Gesetze, die Straf­rechts­paragrafen beseitigen und die Leute dazu bewegen, ihre Meinung über die Regierungspolitik offen zu sagen. Diese Angelegenheiten müssen diskutiert werden – und zwar noch vor einem EU-Beitritt der Türkei.«

Doch nicht alleine die Anwendung der türkischen Strafrechtsparagrafen bereitet kritisch denkenden Journalisten Probleme. Die Pressefreiheit im Land sei auch durch die zunehmende Medienkonzentration bedroht, erzählt Aydin Engin. »Unser Hauptproblem ist die Monopolisierung der Presse – allen voran die ›Dogan‹-Gruppe, die bereits 55 Prozent der Zeitungen, 70 Prozent der Zeitschriften sowie vier Fernsehkanäle besitzt. Sie kontrolliert auch schon 85 Prozent des Vertriebs von Presseerzeugnissen an den Kiosken. Kleinere Zeitungen haben da kaum eine Chance, ihre Blätter zu verbreiten«, so Engin.

Gleich hinter »Dogan« folgt die als »Islam light« firmierende »Zaman«-Gruppe des Predigers Fetullah Gülens, der im In- und Ausland ein Netzwerk streng-religiöser Bildungseinrichtungen führt. Die zunehmende Monopolisierung der Presse in der Türkei ist insofern bedenklich, da die führenden Medienkonzerne heute nicht nur den Löwenanteil der Marktanteile auf sich vereinen und kleine Zeitungsverlage damit ausboten, sondern weil sie – wie etwa die »Dogan«-Gruppe – auch im großen Stil an Banken- und Immobilienunternehmen sowie im Erdölgeschäft beteiligt sind und daher ihre Einflussnahme in Politik und Wirtschaft künftig noch weiter steigen wird.