Loch im Slip

David Lynchs »Inland Empire« ist ein beängstigendes Amalgam aus Hollywood-Reminiszenzen und düsterer Weltsicht. von esther buss

Die Eingangssequenz von David Lynchs »Inland Empire« könnte auch irgend­wo in seinem vorherigen Film »Mulholland Drive« (2001) zu finden sein. Die Motive sind ähnlich, kommen aber in dem neuen Film noch exzessiver zum Einsatz: die Faszination für Hollywood als Traum­fabrik und die damit verbundene Film-im-Film-Ebe­ne, der nahtlose Übergang in eine Albtraumzone und viele andere wundersame Wirklichkeiten, die Vervielfältigung von Figuren in Parallelexistenzen.

Laura Dern spielt die Hollywood-Schauspielerin Nikki Grace, eine »Frau in Schwierigkeiten« (so hat Lynch den Plot in einem Interview kurz zusammengefasst), die auf ein Leinwand-Comeback hofft. Gleich zu Beginn bekommt sie Besuch von einer neuen Nachbarin, die sie in ein beunruhigendes Gespräch verwickelt und sie mit doppeldeutigen Fragen konfrontiert: »I hear you have a new role to play?« Die Frau mit dem osteuropäischem Akzent warnt vor schrecklichen Dingen, die in der Zukunft passieren werden (»a brutal fucking murder«) und genießt ihre Prophezeiung wie eine böse Hexe. Zumindest ein Teil des Orakels scheint sich schon bald zu bewahrheiten, denn Nikki Grace ergattert eine begehrte Rolle in dem Liebesdrama »On High in Blue Tomorrows«.

Die Dreharbeiten mit dem Regisseur Kingsley (Jeremy Irons) beginnen. Nikki erfährt, dass »On High in Blue Tomorrows« ein Remake ist, der Originalfilm – eine Variation eines polnischen Märchens – ist allerdings nie fertig geworden, da die beiden Hauptdarsteller ermordet wurden. Angst überfällt sie. Irgend­etwas stimmt nicht mit diesem Film, der von einem Ehebruch handelt und immer mehr in ihre Rea­lität eindringt. Auch im »echten« Leben scheint sich eine Beziehung mit ihrem Film­partner Devon, einem berüchtigten Womanizer (Justin Theroux, der Regisseur in »Mulholland Drive«), anzubahnen, was von ihrem polnischen Ehemann eifersüchtig be­obach­tet wird.

Wie schon bei »Mulholland Drive« greift die Filmebene bald in die Rea­lität über. Anfangs katapultiert das vom Regisseur ausgerufene »Cut« die Figuren wieder in ihre Schauspieler­identität zurück. Doch zunehmend beginnt Nikki Grace, mit ihrer Rolle Susan Blue zu verschmelzen, sie findet den Ausgang nicht mehr, stattdessen Eingänge in andere Räume und Realitäten, die von Doppelgänger­figuren bewohnt werden. Eine davon ist eine verhuschte Hausfrau, die mit ihrem etwas grobklotzigen Ehemann in einem heruntergekommen Haus in der Vorstadt lebt, die andere sitzt erschöpft in einem düsteren Zimmer und erzählt einem anonymen Mann ihre Lebensgeschichte, die vor allem von (sexueller) Gewalt und Rachephantasien handelt.

Daneben gibt es noch weitere ineinander verschachtelte Erzählungen und Settings: ein trostloses Hotelzimmer, das von einer Gruppe von Huren belagert wird, ein Straßenstrich im winterlichen Osteuropa der dreißiger Jahre, wieder ein Hotelzimmer, dies­mal in Polen, ein unbekanntes Mädchen starrt weinend in einen Fernseher, und wir sehen mit ihr eine surreale Sitcom, in denen drei Schauspieler Hasenkostüme tragen (es ist eine Episode aus Lynchs Internet-Serie »Rabbits«). Die Hasen bügeln oder sagen Texte auf, die wie ein Dialog zwischen Film und Zuschauer klingen: »I have a secret« oder »I’m going to find out one day«. Der Film gibt Rätsel auf, legt Fährten und gibt versteckte Zeichen, worauf die Dechiffrierungsmaschine des Zuschauers zu rattern beginnt.

Selten hat ein Lynch-Film so räumlich funktioniert. Man erlebt die verschiedenen Wirklichkeitsebenen wie unterschiedliche Stockwerke, in denen sich verschiedene Räume befinden, die weitere Räume verbergen, in diesen kommen weitere Räume zum Vorschein, die wiederum … etc. und alles ist durch Öffnungen miteinander verbunden – durch Türen, Treppen und Flure oder auch das mediale Fenster eines Fernsehbild­schirms, einer Kinoleinwand. Einmal wird der Übergang in eine andere Wirk­lichkeit durch ein Loch hergestellt, das Nikki Grace mit ihrer Zigarette in einen Slip brennt. Die Öffnun­gen in »Inland Empire« funktionieren wie Spiegel, die Identitäten vervielfältigen, Zeitebenen multiplizieren und manchmal auch zu Begegnungen mit sich selbst führen.

Wie durch den virtuellen Raum eines Com­puterspiels geht man mit Laura Dern durch den Film. In einer Szene deutet Nikki in den Raum hinein, und man sieht im Bildvordergrund ganz groß ihren Zeigefinger, der (durch einen imaginären Maus­klick) wieder in eine neue Realität führt. Deren scheinbare Unendlichkeit ist zum Verrücktwerden für den Zuschauer, aber vor allem für Nikki/Susan, die immer gebeutelter aussieht und atemlos weiterhetzt. »Look in the other room«, ein Satz aus dem Script von »On High in Blue Tomorrows«, legt sich auch als eine Art Fluch über die Hauptfigur.

David Lynch kümmert sich nicht um narrative Logik und Dramaturgie und schließt damit an die Kompromisslosigkeit seines frühen experimentellen Films »Eraser­head« (1977) an. Die Dreharbeiten für den fast dreistündigen Film dauerten mehr als drei Jahre, ein Drehbuch gab es nicht. Auch ästhetisch wirkt »Inland Empire« ziemlich exzentrisch. Nach den deprimierenden Erfahrungen mit der Produktionsmaschinerie Hollywood hat Lynch sich um größtmögliche Unabhängigkeit bemüht und erstmals auf Video gedreht. Er sagt, er habe sich in das Medium »verliebt«, es erlaube ihm, frei und spontan zu arbeiten.

Man hat bei »Inland Empire« wirklich das Gefühl, Video sei gerade erfunden worden. Während Regisseure wie Michael Mann (»Miami Vice«) mit den allerneuesten und technisch ausgefeiltesten HD-Kameras arbeiten, hat sich Lynch für eine veraltete professionelle Kamera, eine Sony PD-150, entschieden. Die Bilder sind matschig und verpixelt, sie sehen billig aus und haben nichts von der opulenten Schönheit, die man an Lynchs Filmen so mag.

Dennoch trägt die Ästhetik der harten Kontraste, der extremen Überbelichtungen, der harten Schatten und der immer sehr dunklen Dunkelheit maßgeblich zu der Atmosphäre des Unheimlichen bei. Die unfertig wirkenden Bilder entsprechen dem Unredigierten des gesamten Films. Und irgendwann findet man sie auch schön.

Laura Dern, die nach »Blue Velvet« und »Wild at Heart« zum dritten Mal mit Lynch zusammengearbeitet hat, spielt sich in »Inland Empire« an den Rand der Erschöpfung. Nach dem ersten Drittel des Films gerät sie auf einen wirklich strapaziösen Trip. Angst und Panik zeichnen sich in ihrem Gesicht ab, das sich zu unglaublichen Grimassen verzerrt. Am Schluss bekommt sie auf dem »Walk of Fame« einen Schraubenzieher in den Unterleib gerammt und verblutet langsam auf der Straße, zwischen Obdachlosen und all den Ster­nen berühmter oder längst vergessener Stars. Ein düsteres Bild, in dem das »alte Hollywood« und die soziale Realität Amerikas aufeinandertreffen. Auch wenn sich Lynch mit »Inland Empire« noch stärker von Hollywood wegbewegt hat, wird er wohl immer wieder zu seinen mythologischen Orten zurückkehren.

Inland Empire. R: David Lynch (USA/­Polen/Frankreich 2006). D: Laura Dern, Harry Dean Stanton, Justin Theroux, Jeremy Irons. Start: 26. April