Schulze war hier

Autor sein heißt reisen, lesen, Preise und Stipendien abräumen. Ingo Schulzes Erzählband »Handy« schildert die kleine Welt des Literaturbetriebs. von jan süselbeck

Derzeit kann man sich nur Feinde machen, wenn man Ingo Schulze kritisiert. Nun hat er also auch noch den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse erhalten: Wir werden damit Zeugen einer lang anhaltenden Erfolgsserie des Autors, der selbst eine große Publikationspause nach der Jahrtausendwende nichts anhaben konn­te. Seit seinem ersten Buch »33 Augenblicke des Glücks« (1995) und der drei Jahre später nachgelegten Anthologie »Simple Storys« (1998) wird der gebürtige Dresdener mit Preisen überhäuft und mit Lob nur so überschüttet. Sieben Jahre lang schrieb er an seinem dicken Wendewerk »Neue Leben« (2005) – und obwohl es sich dabei um einen drögen Briefroman handelt, den kaum einer wirklich je durchzulesen vermochte, gaben die Kritiker wie auf Kommando vor, dieser Wälzer sei ein »alchemistisches Wunderwerk« (Süddeutsche Zeitung), eine »Wahnsinnstat« (Spiegel) und ein »Geniestreich« (Frankfurter Rundschau) – kurz: »Weltliteratur« (Die Literarische Welt).

Auch wenn man das neue, mit vorhersehbarer Begeisterung aufgenommene Buch mit dem rückwärtsgewandten Titel »Handy. Dreizehn Geschichten in alter Manier« aufschlägt, fragt man sich schon nach wenigen Seiten, wieso alle Welt so sehr darüber jubelt. Dass Schulze vom nationalen Kulturbetrieb, der seit der Wiedervereinigung nach positiven Figuren giert, die sich pseudokritisch mit deutsch-deutscher Bauchnabelschau beschäftigen, als eine Art Wende-Goethe um die Welt geschickt wird, scheint dem lieben Vorzeige-Ostler jedenfalls über­haupt nicht peinlich zu sein.

Handeln seine – teils früher schon in Tageszeitungen und Magazinen veröffentlichten – Gelegenheitstexte doch fast ausnahmslos von solchen Reisen, die ein Alter-Ego-Erzähler auf Einladungen von Goethe-Instituten und ausgestattet mit Writer-In-Residence-Stipendien und ähnlichen Privilegien unternimmt.

»Ebenso wenig will ich verhehlen, dass ich mich in dem einen oder anderen schwachen Augenblick für einen guten Repräsentanten meines Landes, ja, warum nicht, Europas und des Westens hielt«, heißt es in der Geschichte »Zwischenfall in Kairo«. Sie stellt so etwas wie den ungelenken Versuch einer Reisereportage über Ägypten dar – samt allen Anfängerfehlern, die jemand macht, der keinerlei jour­nalistische Erfahrung hat und davon träumt, einmal bei Blättern wie dem Stern zu arbeiten.

»Was ließe sich nicht alles über die folgenden Stunden schreiben« – diese typische Formel des­jenigen Autors, der mit seinem Stoff nicht zurecht kommt und nicht weiß, wie er seine Erlebnisse literarisch geordnet wiedergeben soll, ist im Buch Legion. So genannte Zwischenfälle werden bedeutungsschwanger angekündigt: »Ich weiß bis heute nicht, was ich davon halten soll. War es eine Katastrophe? War es eine Lappalie? Oder einfach nur etwas Unalltägliches?« Im Zweifelsfall nichts von alledem – und schon gar nicht jene »unerhörte Begebenheit« der Novellentheorie, auf die Schulze hier wohl augenzwinkernd anspielen möchte.

Es mag sein, dass der radelnde Bär, der in der Ge­schichte »In Estland, auf dem Lande« vorkommt, schon reicht, um die Leute, die Schulze partout gut finden möchten, in Verzückung zu versetzen. Aber auf Dauer nervt die Masche, dass uns hier ein wankelmütiges Ich vom Alltag seiner Luxusreisen berichtet und dabei immer wieder beteuert, nicht zu wissen, was davon nun aufzuschrei­ben sei.

In kurzen Momenten trifft dieser als Klischee des doofen Provinzossis auftrumpfende Erzähler, der euphorisiert von seinen ersten Schritten in der großen, weiten, »freien« Welt erzählt, sogar auf Alltagsdetails, die ihm die Haltlosigkeit seines naiven Weltbilds vor Augen führen müssten. Etwa, wenn ihm in Estland eine schöne Studentin ins Gesicht sagt: »Aber wir Esten hatten eine eigene SS, und wenn man die Zahlen nimmt, wie viele Esten, überhaupt wie viele Balten noch nach dem Krieg von den Russen umgebracht und deportiert worden sind. Von Russ­land kam nur Schlechtes, von den Deutschen hauptsächlich Gutes, so etwas merken sich die Menschen eben.« Nicht nur an dieser Stelle vermisst man ein Nachdenken darüber, was der Zusammenbruch des Ostblocks tatsächlich bedeutete – nämlich nicht nur »Freiheit«, sondern auch das Wiederaufkeimen eines nationalistischen und antikommunistischen Chauvinismus, der die Shoah verleugnet.

Oder, in der Ägypten-Geschichte, die kurze Andeutung des Israel-Tabus während einer Lesung in der Universität von Kairo: »Die Frage nach Israel, vor der man mich gewarnt hatte, wurde weder hier noch später gestellt.« Leider wird die beängstigende und bedrohliche Allgegenwart des Antisemi­tismus in der arabischen Kultur nicht weiter thematisiert. Es sind in Schulzes Geschichten immer nur Augenblicke, die im Fluss der Protokolle erwähnt und dann verschenkt werden.

Doch was soll man von solchen biedermeierlichen Erzählern auch halten, die als Autor nicht einmal das Kollektiv kritisch sehen, als dessen Botschafter sie sich begreifen, wenn auch angeblich nur in »schwachen Augenblicken«? »Im Zimmer der Dekanin wurde mir eine golden glänzende Medaille der Universität in einem roten Kästchen überreicht«, erinnert sich der fiktive Schriftsteller an seinen Kairo-Besuch stolz – »ich erwiderte die Freund­lichkeit mit Mozartkugeln und einem farbigen Mauerstück in Plexiglas«.

Nun könnte man sich als Kritiker auf den Standpunkt stellen, eben diese intellektuelle Bankrotterklärung sei die ätzende Botschaft solcher Texte. Man könnte sie also lesen als eine ironische Selbstdekonstruktion des Autors, rezipieren als illusionslosen Blick auf die deutsche Kulturindustrie zu Zeiten der Globalisierung. Doch der Ton der Geschichten spricht dagegen. Irritierend sind hier vor allem Schulzes Liebesgeschichten. Die Männer, die darin zu uns sprechen, sind in einer Art und Weise selbstgerecht und larmoyant, dass man den Verdacht nicht los wird, vom Leser werde Identifikation erwartet. Lauter beleidigte Leberwürste betrügen hier ihre Frauen nach Strich und Faden oder behandeln sie mit einem schwer erträglichen Egoismus, dem, kommt es einmal zur Trennung, auch noch triefendes Selbstmitleid folgt.

All das soll nicht heißen, dass Schulze kein Talent hätte. Am besten gelungen ist wohl die Geschichte »Eine Nacht bei Boris«, die vom Titel her an Thomas Bernhards legendäres Debüt-Drama »Ein Fest für Boris« (1970) gemahnt. Inhaltlich scheint sie damit aber kaum etwas zu tun zu haben – sieht man einmal von der abendmahls­ähnlichen Situation in Schulzes Geschichte ab, nach der alle Gäste mit dem Schlaf kämpfen, genau wie bei Bernhard. Stirbt dort Boris am Schluss, so heißt es bei Schulze schon gleich zu Beginn als intertextueller Verweis: »Wenn ich jetzt von diesem Abend berichte, muss ich vorausschicken, dass Boris, der von sich selbst als meinem ältesten Freund sprach, nicht mehr lebt.«

In dieser Erzählung gelingt es dem Autor, für eine gewisse Berliner Schicht typische Verhaltensweisen messerscharf zu erfassen und mit zwei Geschichten in der Geschichte – Schulzes poetologischem Allzwecktrick – einen Bogen zu tieferliegen­den Traumata, ja selbst der Grausamkeit des Kriegs in Jugo­slawien zu schlagen.

Vielleicht wäre es dem Autor zu wünschen, dass er weniger gelobt wird. Daraus könnte, jetzt, wo er etabliert ist, für seine Literatur nur Gutes folgen.

Ingo Schulze: Handy. Dreizehn Geschichten in alter Manier. Erzählungen. Berlin-Verlag, Berlin 2007, 288 Seiten, 18 Euro