Opferrolle vorwärts

Robert O. Paxton versucht, eine Anatomie des Faschismus zu liefern. von guido sprügel

Nie wieder Faschismus« – eine Parole, die auf vielen Demonstrationen gerufen, von vielen immer wieder angeführt wird. Doch was ist Faschismus genau? Wie lässt er sich definieren und wie war der Faschismus historisch beschaffen? Historiker und Sozialwissenschaftler haben sich mit diesen Fragen beschäftigt. Der emeritierte US-amerikanische Professor Robert O. Paxton versucht, in seinem Buch »Anatomie des Faschismus« neue Antworten zu geben.

Für traditionalistische Marxisten wird es zunächst schwer sein, Paxtons Buch zu akzeptieren, kommt doch Dimitroffs These von der »offenen terroristischen Diktatur der am meisten chauvinistischen und reaktionärsten Elemente des Finanzkapitals« überhaupt nicht vor. Auch die Erklärungsversuche bürgerlicher Wissenschaftler lehnt Paxton ab. Ihm geht es weniger darum, sich mit der idealtypischen Ausprägung des Faschismus zu beschäftigen, weshalb er seine Abhandlung auch nicht mit einer Definition des Begriffs beginnt, denn diese würde die Diskussion seiner Meinung nach einengen. Er will insbesondere den Entstehungsprozess des Faschismus darstellen und untersuchen. Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden fast überall auf der Welt faschistische Bewegungen, die aber nur in Italien und Deutschland an die Macht kamen. Paxton analysiert den Entstehungsprozess und weniger die Ideologie.

»Der Faschismus beruht eben nicht explizit auf einem elaborierten philosophischen System, sondern eher auf populären Gefühlen, Ansichten über ›Herrenrasse‹, deren ungerechtes Schicksal und gerechtfertigte Prädominanz über minderwertige Völker«, begründet der Autor seinen Ansatz. Zwar stimmt die Einschätzung, zumindest wenn man Antworten von Mussolini auf die Frage nach seinem Programm heranzieht. Dieser konstatierte des Öfteren, dass er sich »an keine doktrinäre Form gebunden« fühle und »die Faust die Synthese unserer Theorie« sei. Und auch Hitler präsentierte nur ein dürftiges 25-Punkte-Programm, welches jedoch nie realisiert wurde. Doch gerade im Hinblick auf den NS-Faschismus ist es ein fataler Irrtum, wenn Paxton »den stark ausgeprägten Antisemitismus« nicht als »das wesentliche Element des Faschismus« ansieht. An dieser Stelle ist sein Versuch der Beschreibung zu ungenau – ist der Holocaust doch der Ausdruck des deutschen Faschismus. Diese Faschismus-Variante lässt sich nicht in eine Reihe mit dem Faschismus italienischer Prägung stellen, geschweige denn auf einen gemeinsamen Definitionsnenner bringen. Eben­so verhält es sich mit dem Verhältnis zur Religion, der Bedeutung der Partei und dem Streben nach Weltmacht. Auch in diesen Bereichen unterscheiden sich der italienische und der deutsche Faschismus.

Die fünf Entstehungsstadien des Faschismus, die Paxton definiert, werden umfangreich und detailliert skizziert:

Das erste Stadium umfasst die Entstehung einer faschistischen Bewegung, das zweite deren Verankerung im politischen System, das dritte die Machtergreifung und das vierte die Machtausübung. Das letzte Stadium ist jenes der Radikalisierung oder des Niedergangs. Jedem Stadium widmet Paxton eine sehr genaue und komplexe Betrachtung. Und er weist auch darauf hin, dass die vergleichende Betrachtung nicht in einer Gleichsetzung münden kann. »Obgleich jedes Stadium eine Voraussetzung für das nächste ist, muss keine faschistische Bewegung alle durchlaufen oder gar nur in eine Richtung. Und nur in Nazideutschland erreichte ein faschistisches Regime die äußersten Horizonte der Radikalisierung«, stellt Paxton fest.

Wegbereiter war jedoch in allen Fällen die Krise nach dem Ersten Weltkrieg. In Zeiten der politischen und sozialen Unsicherheit konnten faschistische Bewegungen an Einfluss gewinnen und sich schließlich in der Gesellschaft verankern. In der Phase der Machtergreifung war dann stets die Unterstützung der konservativen Eliten vonnöten – ohne diese hätten es die Faschisten nach Paxton nicht an die Regierung geschafft. Nach genauer Analyse der Stadien kommt der Autor schließlich zu einer Definition des Faschismus, deren Gültigkeit er jedoch umgehend wieder einschränkt, wenn er schreibt, dass der Faschismus dadurch »nicht besser erfasst wird als eine Person durch einen Schnappschuss«.

Er schreibt: »Faschismus kann definiert werden als eine Form des politischen Verhaltens, das gekennzeichnet ist durch eine obsessive Beschäftigung mit Niedergang, Demütigung oder Opferrolle einer Gemeinschaft und durch kompensatorische Kulte der Einheit, Stärke und Reinheit, wobei eine massenbasierte Partei von entschlossenen nationalistischen Aktivisten in unbequemer, aber effektiver Zusammenarbeit mit traditionellen Eliten demokratische Freiheiten aufgibt und mittels einer als erlösend verklärten Gewalt und ohne ethische oder gesetzliche Beschränkungen Ziele der inneren Säuberung und äußeren Expansion verfolgt.«

Deutlich wird an seiner These die Fokussierung auf eine »massenbasierte Partei«. Was ist hier mit der Möglichkeit eines »Faschismus von oben«? Waren das Vichy-Regime in Frankreich, die Regime in Spanien unter Franco, in Portugal unter Salazar, in Argentinien unter Perón, in Japan während der Kriegszeit etc. »nur« autoritär oder nicht auch faschistisch? Kann man diese auch faschistisch nennen, obwohl sie teilweise »faschistische« Parteien und Organisationen liquidierten und marginalisierten? Diese Fragen bleiben trotz der enormen analytischen Anstrengungen Paxtons unbeantwortet.

Insgesamt liefert die Studie jedoch wichtige Impulse für die Faschismusforschung. Die akribische Beschreibung der Herausbildung des Faschismus und der fundierte, nicht mahnende Hinweis auf faschistische Entwicklungen z.B. in Europa machen das Buch lesenswert. Insgesamt ist der Anspruch einer »Anatomie« des Faschismus jedoch zu umfangreich, sodass Auslassungen und Fehleinschätzungen nicht ausbleiben.

Robert O. Paxton: Anatomie des Faschismus. Aus dem Englischen von Dietmar Zimmer. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006. 448 S., 24,90 Euro